Aus der Ecke der Gesellschaft, in der ich lebe, kommt die neue Demonstrationslust jedenfalls nicht. Um mich herum sind die Menschen eher abwartend gehemmt bis depressiv demoralisiert. Hier in Berlin-Ost sind überdies viele öffentliche Äußerungen gegen den Ablauf der Vereinigung deutlich PDS-majorisiert. Das verstimmt atmosphärisch, nicht in erster Linie inhaltlich. Der Sprachduktus gemahnt an alte Muster, und da ist man so allergisch. Beispielsweise glaube ich nicht (wie offenbar Gysi), daß Kohl und Waigel nur aus Arglist bestehen und die Wessies eine einzige brutale Arturo-Ui-Mafia sind. Ich sehe im Verhalten der Wessies viel desinformiertes Ungeschick und finde auch, daß wir selbst nicht deutlich wissen, jedenfalls nicht laut und klar sagen, was wir haben wollen und was nicht.
Aber was soll das Unbehagen an der PDS? Haben wir nun Demokratie oder nicht? Wenn in Berlin die PDS-Anhänger zahlreich sind und sich diszipliniert zu Demonstrationen einfinden, was soll ich daran auszusetzen haben? Sie bedienen sich ihrer grundgesetzgarantierten Rechte. Leipzig oder Rostock sind aber interessanter. Dort überwiegt ganz eindeutig "das Volk", die "Masse", die "einfachen Leute". Helke Misselwitz hat sie 1988 in ihrem eindrucksvollen Dokumentarfilm "Winter ade!" porträtiert. Bescheiden, bemitleidenswert armselig, unendlich geduldig, gutmütig solange nicht gereizt.