Ausgabe Juni 1993

Läßt sich die nachholende Neugründung wiederholen?

Die alte Bundesrepublik ist, aus bekannten historischen Gründen, nicht von den zukünftigen Bürgern dieser neu zu schaffenden demokratischen Republik durch eigenes politisches Handeln konstituiert worden. D.h. die Bewohner des Territoriums der neuen Republik waren nicht selbst, vermittelt durch die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung und öffentliche Debatten, an den Konflikten über die Formullierung des Verfassungstexts und am Ratifizierungsverfahren in Form eines Referendums beteiligt. Das Gemeinsame der Bewohner der neuen Republik war so erst einmal nicht der wechselseitig anerkannte Bürgerstatus, sondern die zugeschriebene Mitgliedschaft in der Abstammungsgemeinschaft eines imaginären deutschen Volkes und in einer als vorläufig deklarierten Staatsanstalt. Deutsches Volk und deutscher Staat figurierten in der politischen Imagination seit den Anfangsjahren der alten Bundesrepublik als vorgängige, geschichtsübergreifende Kollektivsymbole gegenüber ihrer politischen Form als Republik.

Damit blieb für die Deutschen lange unverstanden, daß die Gründung einer Republik, eingedenk der katastrophalen Vorgeschichte eines Territoriums, gerade einen geschichtlichen Kontinuitätsbruch bedeutet, auf die Schaffung von etwas geschichtlich Neuem zielt, nämlich eine Gesellschaft von gleichen und freien, politisch handlungsfähigen Bürgern.

Juni 1993

Sie haben etwa 12% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 88% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.

Von Milošević zu Trump: Die bosnische Tragödie und der Verrat an den Bürgerrechten

von Sead Husic

Es herrschte keine Freude bei der bosnisch-herzegowinischen Regierungsdelegation am 22. November 1995 auf dem Wright-Patterson-Luftwaffenstützpunkt in Dayton. Eben hatte sie dem Friedensabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien, die noch aus Serbien und Montenegro bestand, und Kroatien zugestimmt, doch sie fühlte sich betrogen.