Ausgabe April 1994

Das ethische Minimum der Demokratie

Von einer normativen Integration politischer Gemeinwesen kann man nicht naiv sprechen. Bestenfalls kann davon die Rede sein im h i s t o r i s c h e n Sinne, und zwar in bezug auf traditionale, stratifikatorisch differenzierte politische Gemeinschaften, in denen alle politischen Handlungen - und eben auch die steuernden des Staates - bezogen blieben auf ein einheitliches religiöses Weltdeutungssystem. Und schlimmstenfalls könnte davon die Rede sein in bezug auf t o t a l i t ä r e Staaten, die versuchen, auch noch die sinnhaften Bedingungen ihrer Existenz in herrschaftliche Regie zu nehmen. Von jenem historischen Fall unterscheidet sich der moderne demokratische Staat sowohl durch das explosionsartige Wachstum der sozialtechnischen Mittel, mittels deren er steuernd und reglementierend auf die Gesellschaft einwirkt, als auch durch eine tiefgreifende Säkularisierung und Pluralisierung der Weltbilder, in bezug auf die politische Entscheidungen gerechtfertigt werden.

Und von dem Projekt des totalitären Staates unterscheidet sich der liberale Staat durch die Anerkennung des Umstands, daß ihm die Bedingungen seiner sinnhaften Reproduktion eben selbst nicht zur Disposition stehen. Als liberaler Staat (nicht als demokratischer!) zehrt er passiv von ethischen Ressourcen, die er innerhalb seines eigenen Regelwerks selbst nicht reproduzieren kann.

April 1994

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