Ausgabe Juni 1996

Potsdamer Appell für die Annullierung aller Urteile der NS-Militärgerichtsbarkeit und der Sondergerichte vom 17. Februar 1996 (Wortlaut)

Aus der Sorge heraus, daß die Einrichtung eines neuen Gedenktages für die Opfer des NS-Regimes als eine (weitere) Maßnahme zur Entsorgung von Vergangenheit dienen könnte, haben Teilnehmer der Tagung "Vom Kaiserheer zur Bundeswehr" am 17. Februar d.J. in Potsdam einen sog. Potsdamer Appell verabschiedet. In der Folge gründete sich ein Aktionsbündnis Potsdamer Appell, um die Erklärung, die u.a. vom Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann und den Militärhistorikern Manfred Messerschmidt und Dr. Otto Hennicke unterstützt wird, zu verbreiten. Aus Anlaß der erneuten Befassung von Gremien des Bundestages mit der Rehabiliterung von Wehrmachtsdeserteuren hat sich das Bündnis Anfang Mai in einem offenen Brief an die Parlamentspräsidentin und die Abgeordneten gewandt und auf den Appell hingewiesen. D. Red.

Dem Gedenken müssen Taten folgen!

NS Justiz nicht verurteilt, die Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit warten auf die längst überfällige Rehabilitierung und Entschädigung. In den letzten Wochen wurden in der Öffentlichkeit viele mahnende Worte zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gesprochen. Es besteht die Gefahr, daß der 27. Januar - als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus - die Öffentlichkeit in und außerhalb Deutschlands beruhigt und zur "Gedenkroutine" verkommt, wenn diesen Worten keine Politische Handlungen zugunsten der Opfer folgen. Wir fordern von den Verantwortlichen, daß dem Gedenktag politische Handlungen folgen, die über anerkennenende Worte hinausgehen:

- Unrechtserklärung aller Urteile der NS-Militärjustiz und der Sondergerichte durch den Bundestag.

- Rehabilitierung der NS-Militärjustizopfer durch eine Erklärung des Bundestages (analog der Erklärung für Opfer des SED-Unrechts (1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz)).

- Finanzielle Forderung der geschichtlichen und politischen Aufarbeitung der NS-Unrechtsjustiz.

- Entschädigung nach den Grundsätzen des Bundesentschädigungsgesetzes.

- Kennzeichnung (Gedenktafel, Denkmale etc.) von Orten des NS-Justizunrechts, ein schließlich des Berliner Reichskriegsgerichts, als Orte des Gedenken an die Opfer.

Bis heute sind ganze Opfergruppen (Kriegsdienstverweigerer, Homosexuelle, Deserteure, deutsche und im Ausland lebende ZwangsarbeiterInnen, sogenannte Asoziale, Euthanasie-Geschädigte, Psychiatrie-Opfer, KommunistInnen u.a.) von der gesetzlichen Leistung des Bundesentschädigungsgesetzes ausgegrenzt. Diese Opfergruppen haben kaum eine Lobby, finden kein politisches Gehör, bleiben mit ihren Forderungen nach Entschädigung und Rehabilitierung allein.

Wie ernst nehmen die Verantwortlichen ihre Verpflichtung, die längst überfällige moralische und rechtliche Anerkennung der Opfer umzusetzen? Die Rolle der NS-Justiz kam in den offiziellen Reden zum Gedenktag am 27.1.1996 nicht zur Sprache. Die NS-Terrorjustiz hat über 46 000 Todesurteile zu verantworten. Sie wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) als "Blutjustiz" bezeichnet. Bis heute ist von deutschen Gerichten kein einziger NS-Jurist rechtskräftig verurteilt worden. Von den etwa 3 000 NS-Militärjuristen wurden über 30 000 Todesurteile umterzeichnet, die mehr als 20 000 Menschen das Leben kosteten. Es waren dies Urteile u.a. wegen sogenannter "Wehrkraftzersetzung", wegen Hoch- und Landesverrates, angeblicher Spionage, unterstellter Feindbegünstigung und Fahnenflucht.

Die Urteile des "zivilen" Volksgerichtshofs führten in diesem Zeitraum zu 5191 Exekutionen. Die aktuelle Forschung beweist die Mittäterschaft der deutschen Wehrmacht beim Genozid an den europäischen JüdInnen und bei anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unbestritten ist, daß die Urteile der Militärjustiz institutionalisiertes Unrecht und ihre Gerichte Terrorinstrumente der Nazi-Diktatur waren. Die Militärrichter haben massenhaft Todesurteile gefällt, ohne dazu gezwungen worden zu sein. Kein Richter der Militärjustiz (Juristen und Offiziere) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilt. In der bundesrepublikanischen Politik und Verwaltung kamen viele ehemalige Militärrichter wieder in höchste Positionen: z.B. der ehemalige Marinerichter und Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Karl Filbinger, oder der ehemalige Militärjurist und Rektor der Universität Marburg Erich Schwinge und Werner Hülle, Oberlandesgerichtspräsident in Oldenburg, u.a. Vom Reichskriegsgericht, dem höchsten Militärgericht - dort befindet sich heute das Berliner Kammergericht und der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes - wurden nachweisbar 1189 Todesurteile ausgesprochen, von denen 1049 vollstreckt wurden. (Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg wurden 48 Soldaten auf Grund von Militärgerichtsurteilen hingerichtet.) Vor dem Reichskriegsgericht wurden bis August 1944 zentral alle Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer geführt. Über 260 wegen ihrer Überzeugung zum Tod Verurteilten, wurden hingerichtet.

So wurden z.B. am 9. August 1943 zusammen mit Franz Jägerstätter 16 Kriegsdienstverweigerer im Zuchthaus Brandenburg geköpft. Die angemessene Markierung der Orte der verbrecherischen Wehrmachtgerichtsbarkeit ist längst überfällig! Wie wenig ernst das Gedenken von offizieller Seite genommen wird, zeigen die Auseinandersetzung um die Anbringung der Gedenktafel im Sommer 1995 für den österreichischen Kriegsdienstverweigerer Franz Jägerstätter und um die Gedenktafel für alle Kriegsdienstverweigerer am Gebäude des ehemaligen Reichskriegsgerichts 1989 in Berlin.

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.

Allzu perfekte Opfer

von Olga Bubich

„Das normale Vergessen ist der programmierte Zelltod des geistigen Lebens. Es formt die Erfahrung zu einer nützlichen Geschichte“, schreibt der amerikanische Schriftsteller Lewis Hyde. Da es keinen Grund gibt, ihm zu widersprechen, stellt sich eine nicht minder logische Frage – nützlich für wen?

Befreiung als Zusammenbruch

von Klaus-Dietmar Henke

Im August 1941 wandte sich Thomas Mann in einer seiner berühmten Radiobotschaften aus dem amerikanischen Exil wieder einmal an die deutschen Hörer. Die Sowjetunion schien fast besiegt, die Vereinigten Staaten befanden sich noch nicht im Krieg, Präsident Roosevelt und Winston Churchill hatten mit der Atlantik-Charta eben ihren Gegenentwurf zu Hitlers Pax Germanica der totalen Unterwerfung verkündet.

Kein »Lernen aus der Geschichte«

von Alexandra Klei, Annika Wienert

Wofür steht der 8. Mai 1945 in der deutschen Erinnerungskultur? Bereits zum 70. und zum 75. Jahrestags beschäftigten wir uns ausführlich mit dieser Frage. Ist dem jetzt, am 80. Jahrestag, etwas Neues hinzuzufügen?