Ausgabe November 1997

Die Zeit ist reif für den Wechsel!

Aufruf von Prominenten an die Adresse der SPD vom 1. September 1997 (Wortlaut)

Klaus Staeck und Johano Strasser richten mit ihrer "Aktion für mehr Demokratie" einen, wie es in ihrer Presseerklärung vom 1. September des Jahres heißt, "Aufruf an Mitglieder und Sympathisanten der SPD". Bisher sei "die politische Auseinandersetzung im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 allzu sehr von Personalfragen und viel zu wenig von politischen Inhalten bestimmt gewesen. Wir glauben aber, daß die fällige Ablösung der gegenwärtigen Bundesregierung nur gelingen kann, wenn neben der personellen auch die inhaltliche Alternative klar wird." Der Appell steht in einem gewissem Spannungsverhältnis zu den fast zeitgleich in die Öffentlichkeit gebrachten Wirtschaftsthesen von Gerhard Schröder. Außer dem Kreis der Erstunterzeichner, dem u.a. Hans-Peter Dürr, Hans W. Geißendörfer, Dieter Hildebrandt, Inge und Walter Jens, Erich Loest und Carola Stern angehörten, haben mittlerweile mehr als 300 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik den Aufruf unterschrieben; darunter auch Prominente aus der SPD selbst. etwa Egon Bahr und Hans Koschnik. - D. Red.

Was wir von einer SPD geführten Regierung erwarten

Die gegenwärtige Bundesregierung ist am Ende. In ihrer Amtszeit haben Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung Rekordmarken erreicht, sind die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer geworden.

Trotz aller Einschränkungen, die der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zugemutet werden, unterbleiben die notwendigen Weichenstellungen für die Zukunft. Als Rechtfertigung für ihr eklatantes Versagen benutzt die Regierung das vage Gerede von der "Globalisierung" und die unentwegt beschworene Notwendigkeit, die Bedingungen für den "Standort Deutschland" auf den Weltmärkten zu verbessern. Es wird suggeriert, daß die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb nur bestehen könne, wenn die Löhne weiter gesenkt, die Sozialleistungen gekürzt, Umweltschutzauflagen und Partizipationsrechte weiter demontiert würden. Daß Deutschland schon jetzt Exportweltmeister ist, wird dabei unterschlagen. Die neuen globalen Bedingungen bieten viele Chancen. Wir wollen sie nutzen. Wir wollen nicht länger zulassen, daß im Unterbietungswettbewerb der Nationalstaaten die sozialen und ökologischen Standards ständig weiter nach unten gedrückt werden, unser Land immer mehr zur Operationsbasis für eine Minderheit selbsternannter Eliten verkommt, die wirklichen Leistungsträger in ihren Rechten und Möglichkeiten beschnitten werden und immer mehr Menschen ganz an den Rand gedrängt werden. Wir erwarten von der SPD eine entschlossene Abkehr von dieser verheerenden Politik. Wir erwarten von der SPD keine Wunder, insbesondere keine wunderbare Geldvermehrung, die eine Füllhornpolitik ermöglichen würde.

Aber wir erwarten klare Prioritäten: - zugunsten der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, - zugunsten von Zukunftsinvestitionen (Bildung, Forschung, Infrastruktur, Innovationsförderung), - zugunsten ökologischer Vernunft und nachhaltigen Wirtschaftens, - zugunsten sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit, - zugunsten einer freien und vielfältigen Kunst und Kultur. Das bedeutet keine Rückkehr zu traditionellen Formen wohlfahrtsstaatlicher Politik. Nichts wäre verfehlter als der Versuch, überholte Strukturen in Staat und Gesellschaft zu konservieren. Wir erwarten von einer SPD-geführten Regierung, daß sie sich den neuen Herausforderungen stellt und mit politischen Innovationen darauf antwortet. Nur so schafft sie die Basis dafür, daß wir auch in Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können.

Allerdings darf eine moderne Sozialdemokratie nicht ihre Kernprinzipien und Grundwerte über Bord werfen. Prinzipienloser Modernismus wäre genau so verfehlt wie phantasieloser Traditionalismus. Gesellschaftlich organisierte Solidarität ist auch in Zukunft Bedingung individueller Freiheit. Als modern kann eine Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nur gelten, wenn sie zugleich dem Maßstab ökologischer Vernunft gerecht wird und dem Umstand Rechnung trägt, daß wir in einer weltweiten Risikogemeinschaft leben, in der wir unsere eigenen Interessen auf Dauer nur noch wirksam wahrnehmen können, wenn wir zugleich die Interessen aller anderen Menschen berücksichtigen. Als modern kann eine Sozialpolitik nur gelten, wenn sie alle Möglichkeiten der sozialen Prävention nutzt, das soziale Sicherheitssystem nicht zerstört, sondern es zukunftsfähig umgestaltet und sich von Vorstellungen löst, die die sozialen Leistungen in einem heute nicht mehr realistischen Maß an die Erwerbsarbeit binden. Als modern kann eine Umweltpolitik nur gelten, wenn sie der Vermeidung Vorrang einräumt, durch die längst fällige Verteuerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs der ökonomischen Rationalisierung eine andere Richtung weist und zugleich alternativen und umweltschonenden Produktionsweisen den Weg ebnet.

Als modern kann eine Gesellschaftspolitik nur gelten, wenn sie tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern bewirkt, sinnvolle Lebensperspektiven für Kinder und Jugendliche eröffnet und die Benachteiligung von Familien mit Kindern aufhebt. Wir wissen, daß soziale Sicherheit, Zukunftsinvestitionen, ein leistungsfähiges Bildungssystem, Umweltsanierung und Umweltschutz sowie eine breitgefächerte kulturelle Infrastruktur nicht umsonst zu haben sind. Die staatliche Verschuldung hat das erträgliche Maß längst überschritten, und wir wollen nicht weiter auf Kosten unserer Kinder und Enkel leben. Die Lohnnebenkosten der Arbeit müssen sinken. Deshalb sind wir bereit, an anderer Stelle höhere Steuern in Kauf zu nehmen, wenn nur so die notwendigen Reformen eingeleitet werden können. Wir erwarten aber von der SPD, daß die Lasten gerecht verteilt werden, daß die Bürger entsprechend ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben herangezogen werden und die Steuerschlupflöcher für Begüterte endlich geschlossen werden. Wir wissen, daß auf der Ebene des Nationalstaats allein die angesprochenen Aufgaben nicht mehr gelöst werden können. Deshalb brauchen wir neue Formen internationaler Zusammenarbeit. Der Hinweis auf die internationalen Verflechtungen sollte also nicht länger als Ausrede für politische Untätigkeit herhalten.

Die Möglichkeiten nationaler Politik sind im übrigen keineswegs ausgeschöpft. Wir erwarten von der SPD, daß sie die Chancen zu koordinierter Finanz-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in der EU entschlossen nutzt und in Kooperation mit den neuen Linksregierungen in Frankreich und Großbritannien Schritte einleitet, damit aus dem Europa des Kapitals ein Europa der Bürger wird, in dem die sozialen und kulturellen Interessen der Menschen nicht länger denen der Kapitalverwertung untergeordnet werden. Wir erwarten von der SPD, daß sie sich auf allen internationalen Bühnen für eine intelligente Regulierung der Geld-, Kapital- und Warenmärkte und für weltweit verbindliche soziale und ökologische Mindeststandards einsetzt.

Wir erwarten von der SPD, daß sie jene hoffnungsvollen Ansätze einer solidarischen Friedens- und Entwicklungspolitik aufgreift, für die die Namen zweier großer Sozialdemokraten stehen: Willy Brandt und Olof Palme. Wir erwarten von der SPD, daß sie alle Anstrengungen unternimmt, das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern zu fördern, daß sie endlich die gesetzlichen Voraussetzungen für die Integration ausländischer Bürgerinnen und Bürger sowie für eine realistische Einwanderungspolitik schafft und eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik durchsetzt. Es ist höchste Zeit für den Wechsel. In Großbritannien und in Frankreich sind die neoliberalen Marktradikalisten bereits abgewählt worden. Auch in Deutschland erhoffen sich immer mehr Menschen einen Wechsel zu einer Politik, die bestehende Gestaltungschancen ergreift, die es wieder wagt, eine an Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientierte Reformidee zu formulieren und die Menschen zur aktiven Mitwirkung bei ihrer Realisierung einzuladen. Für eine SPD, die diese Perspektive eröffnet, setzen wir uns ein.

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