Zweierlei Geschichtsbewußtsein im vereinten Deutschland
Dem nachfolgenden Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, den Jürgen Kocka vor ausländischem Publikum hielt. (Die englische Druckfassung ist gerade als Charlemagne Lecture in London erschienen.) Während in der inlandischen Einheits-Diskussion oft der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen ist, gelang unserem Autor hier aus einer Art Außenperspektive die klare Herausarbeitung von Grundlinien der deutsch-deutschen Entwicklung. - D. Red.
"Wer hat die entscheidende Rolle im Zweiten Weltkrieg beim Sieg über den Faschismus, über Deutschland gespielt?", so eine der Fragen einer demoskopischen Untersuchung aus dem Jahre 1995, die west- und ostdeutsche Geschichtsbilder erkunden sollte. Auf diese Frage antworteten 69% der Westdeutschen: die Vereinigten Staaten von Amerika. 87% der Ostdeutschen hingegen nannten die Sowjetunion. Die gleiche Untersuchung (Elisabeth Noelle-Neumann, Der geteilte Himmel, FAZ, 3.5.1995, S. 5) ermittelte parallel dazu andere Ost-West-Unterschiede. Beispielsweise dachten 91% der Westdeutschen, daß die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 zu den "aus heutiger Sicht richtigen Entscheidungen" zähle. Nur 43% der Ostdeutschen teilten diese Meinung.