Die chemischen und biologischen Arsenale, die der Irak entgegen den Waffenstillstandsbedingungen von 1991 noch besitzt, müssen nicht ausreichen, um Tel Aviv wegzublasen (Richard Butler) oder gar die ganze Welt zu vergiften (Tony Blair). Sie dürften aber das übersteigen, was die irakische Führung vorgibt, noch zu haben: nämlich gar nichts. Sicher ist, daß der Irak gegenüber UNSCOM (der UN-Spezialkommission, die die Zerstörung aller irakischen Massenvernichtungswaffen und weitreichenden Raketen überwachen soll) mehrfach unvollständige Angaben zu seinen B- und CWaffenpotentialen gemacht hat. Wann immer die UNSCOM-Inspektoren nachweisen konnten, daß die irakischen Angaben nicht stimmten, schob Bagdad neue Dokumente nach.
So legte die irakische Führung im September 1997 die insgesamt sechste "Full, Final and Complete Disclosure" (FFCD) über ihre B-Waffenprogramme vor. Auseinandersetzungen über dieses Dokument, das von den UNSCOM-Inspekteuren als genauso unzureichend bewertet wurde wie fünf frühere "endgültige" B-Waffen-Erklärungen, standen am Anfang der Serie von Krisen um jene Präsidentenpaläste und anderen Gebäudekomplexe, die der Irak als "souveräne Anlagen" bezeichnet und den UNSCOM-Inspekteuren allenfalls unter Bedingungen öffnen will. UNSCOM vermutet, daß einige der Anlagen trotz anderslautender irakischer Erklärungen genutzt werden, um Kampfstoffe oder technische Unterlagen zu verstecken. Während dieser Artikel entsteht, ist noch offen, ob der gegenwärtige Konflikt um die Inspektion dieser Anlagen zu einem kontrollierten amerikanischen Militärschlag, zu einem kaum kontrollierbaren längeren Krieg oder zu einem Einlenken in vorletzter Minute führen wird. Da so mancher Kommentator oder Entscheidungsträger dazu neigt, aktuelle Krisen und Kriege so zu behandeln wie die jeweils vorhergehenden, mag es sinnvoll sein zu skizzieren, wieso die gegenwärtige Situation sich von der Golfkrise von 1990/91 unterscheidet. Da ist zuerst die banale aber wichtige Feststellung, daß der Irak heute, anders als 1990, kein anderes Land überfallen oder angegriffen hat und auch keinen seiner Nachbarn (auch nicht den entfernteren Nachbarn Israel) anzugreifen droht. Deshalb kommt heute, anders als nach der irakischen Kuwaitinvasion, eben keine internationale Allianz zusammen und zögern vor allem die arabischen Staaten einschließlich so fester US-Verbündeter wie SaudiArabien und Ägypten, einen Angriff zu unterstützen. Dazu kommt, daß die irakischen Streitkräfte heute, nach sieben Jahren Embargo, ein klägliches Abbild ihrer selbst darstellen.
Kein Remake von 1990
Niemand würde heute mehr glauben, daß die irakische Armee die "fünftstärkste der Welt" sein solle. Wäre es anders, gäbe es eine erneute Bedrohung Kuwaits oder gar Saudi-Arabiens, dann würden die USA sich wahrscheinlich auch auf eine größere Operation vorbereiten und wieder Bodentruppen an den Golf schicken. Die arabischen Staaten übersehen nicht, daß der Irak verpflichtet ist, die Waffenstillstandsbedingungen von 1991 zu erfüllen und UNSCOM ihre Arbeit so machen zu lassen, wie sie es für richtig hält. Ohne irakische Aggression gegen einen Nachbarn sehen sie aber keine Legitimation für einen militärischen Schlag. Sie fürchten zudem die innenpolitischen und regionalen Auswirkungen eines Krieges, fürchten also, die Kontrolle über ihre Angelegenheiten zu verlieren, selbst wenn es, was keineswegs sicher ist, der amerikanischen Führung gelingt, die militärischen Auseinandersetzungen unter Kontrolle zu halten. Auch für Israel herrscht heute eine andere Situation als 1990/91. Während westliche Medien viel über die Bedrohung Israels durch irakische B-Waffen spekulieren, zeigt die politische und militärische Führung in Tel Aviv sich bemerkenswert unaufgeregt. Ein wenig mag zu dieser Gelassenheit beitragen, daß die irakische Führung diesmal ausdrücklich erklärt hat, Israel nicht angreifen zu wollen, während sie 1990 sehr wohl mit Angriffen auf Israel drohte. Dazu kommt die Kenntnis über die geminderten militärischen Kapazitäten des Irak. Vor allem aber geht die israelische Regierung davon aus, daß die irakische Führung die Logik der Abschreckung versteht und danach handelt. Saddam Hussein ist kein irrationaler Akteur, sondern handelt nach den Regeln einer brutalen Realpolitik. Deshalb wirkt die "glaubhafte" Abschreckung durch Israels Massenvernichtungswaffen.
Der Irak und die Inspekteure
Der Irak ist heute, anders als 1990, keine Macht mehr, die versuchen könnte, mit einem Gewaltstreich sowohl die eigenen Ressourcenprobleme zu lösen als auch eine regionale Führungsrolle einzunehmen. Das Regime ist dasselbe, allenfalls seine Basis ist noch enger geworden.
Aber statt um regionale Führung geht es ihm heute darum, vom regionalen Katzentisch wegzukommen und wieder einen akzeptierten Platz in der arabischen Staatengemeinschaft einzunehmen. Die gegenwärtige Konfrontation mit den USA ist dafür durchaus hilfreich. Was seine weiteren internationalen Beziehungen betrifft, geht es der irakischen Führung vor allem darum, staatliche Souveränität zurückzugewinnen. Das geschieht teilweise durch Diplomatie - mit einiger Unterstützung derjenigen Staaten, die möglichst bald wieder mit Bagdad ins Geschäft kommen wollen. Es geschieht teilweise aber auch durch Obstruktion und Täuschung, durch den ständigen Versuch also, die internationalen Sanktionen in der einen oder anderen Weise zu unterlaufen. Das ist kein "feines" Verhalten; die UN können es auch nicht tolerieren, aber sie mußten es erwarten und werden es weiter erwarten müssen. Welches unter Sanktionen gestellte Regime hätte nicht versucht, das Sanktionsregime zu umgehen? Aus deutscher Sicht mag man daran erinnern, wie die Reichswehr der Weimarer Republik unter völlig anderen politischen Herrschaftsverhältnissen versuchte, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegten Rüstungssanktionen zu unterlaufen. Internationale Sanktionen erfolgreich anzuwenden, ist immer schwierig, gegen ein diktatorisches Regime, das sich um die Leiden der eigenen Bevölkerung wenig schert, ganz besonders. Zu erwarten, daß ein solches Regime seine eigene Zwangsabrüstung aktiv unterstützt, wäre pure Illusion. Gerade deshalb darf man nicht übersehen, daß UNSCOM in den sieben Jahren seit dem zweiten Golfkrieg eine ziemlich erfolgreiche Arbeit geleistet hat.
In der Diskussion um irakische B- und C-Waffen geht gelegentlich unter, daß vom irakischen Atomwaffenprogramm heute keine Rede mehr ist. Die atomare Abrüstung des Irak gilt als abgeschlossen. Was die Scuds und andere weiterreichende Raketen angeht, so vermuten die Inspekteure, daß der Irak noch etwa 20 selbstgebaute Raketen versteckt hält. UNSCOM ist es allerdings gelungen, den Verbleib von 817 der insgesamt 819 Scuds zu klären, die der Irak jemals importiert hat und die Zerstörung der Exemplare zu überwachen oder nachzuweisen, die in zwei Golfkriegen nicht verbraucht wurden. Unter UNSCOM-Aufsicht wurden auch einige zehntausend Stück chemischer Munition und Hunderte Tonnen chemischer Kampfstoffe zerstört; Restbestände, vor allem an chemischen Artilleriegeschossen, werden allerdings immer noch vermutet. UNSCOM hat zudem in über 300 irakischen Produktions- und Forschungsstätten, die potentiell zur Herstellung oder Erprobung von Massenvernichtungswaffen oder Raketen dienen konnten, Überwachungssysteme installiert und ein als durchaus effektiv geltendes Import- und Exportkontrollregime eingerichtet. Diese Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen sollen auf unbestimmte Zeit in Kraft bleiben, auch dann, wenn die eigentliche Abrüstungstätigkeit von der Kommision zum Abschluß gebracht sein wird. Die UN-Waffeninspekteure haben damit zwar nicht jede Rakete gefunden; und sie haben vor allem im B-Waffenbereich noch deutlichen Untersuchungsbedarf. Sie haben aber das irakische Aggressionspotential und die Fähigkeit des Irak, neue Massenvernichtungswaffen oder Mittelstreckenraketen herzustellen, ganz erheblich eingeschränkt. 1)
Krieg oder neue Politik?
Sehr viel mehr kann auch eine militärische Aktion, wie die USA sie vorbereiten, nicht ausrichten. Es wird darum gehen, die Fähigkeit des Irak, B- und C-Waffen zu produzieren, deutlich zu reduzieren. Weitergehende Ziele, das hat Washington klar gemacht, hätte ein solcher Schlag nicht: Ein Sturz Saddam Husseins ist nicht geplant; eine völlige Zerstörung der irakischen Waffenproduktionskapazitäten wird mit Luftangriffen nicht zu erreichen sein. Wenn wir annehmen, daß ein amerikanischer Luftangriff planmäßig verläuft, daß also die militärischen Aktionen nicht außer Kontrolle geraten und daß die irakische Führung nach einigen Tagen intensiven Bombardements allen Bedingungen für weitere Inspektionen zustimmt, wird es weitere und sicher auch weiter mühsame Inspektionsarbeit geben müssen. Wenn eine militärische Auseinandersetzung dagegen nicht ganz nach amerikanischem Plan verläuft, könnten auch die bisherigen Ergebnisse der UNSCOM-Tätigkeit, und könnte vor allem die Kontinuität der Überwachung gefährdet werden. Worst-case-Szenarien, wie einige lokale Kommentatoren oder Rußlands Präsident Jelzin sie angedeutet haben, sollen hier nicht ausgemalt werden. Mit oder ohne Krieg wird die internationale Gemeinschaft sich nach der gegenwärtigen Krise um eine neue Politik gegenüber dem Irak bemühen müssen. Die Politik der letzten Jahre ist offensichtlich gescheitert, sonst gäbe es die Krise nicht. Und ohne internationale Hilfestellung wird eine friedliche Eingliederung des Irak in seine regionale Umwelt nicht stattfinden. Der Irak wird weiter verpflichtet bleiben, die Waffenstillstandsbedingungen von 1991 (UN-Sicherheitsratsresolution 687) zu erfüllen, insbesondere die Bestimmungen zur kompletten Abrüstung im Bereich von Massenvernichtungswaffen und Mittelstreckenraketen.
Die westlichen Staaten werden sich auf die eigentlichen Ziele ihrer Sanktionspolitik gegenüber dem Irak besinnen müssen. Sanktionen und andere Formen des Drucks sollten verhindern oder verhindern helfen, daß der Irak erneut zu einer Gefahr für seine Umwelt wird. Militärisches Containment bleibt deshalb notwendig; es kann aber nicht darum gehen, weiterhin den Versorgungs-, Gesundheitsoder Bildungsstand der Bevölkerung zu senken oder die irakische Bevölkerung dauerhaft unter Kontaktsperre zu stellen und der internationalen Umwelt zu entfremden. Gleichzeitig, um die militärische Spannung am Golf nicht zum Dauerzustand werden zu lassen, wird man der irakischen Führung Anreize geben müssen, mit UNSCOM und insgesamt mit den UN zu kooperieren. Die bisherige Haltung der USA, die eine Aufhebung der Sanktionen nicht nur an die Erfüllung der Abrüstungsauflagen, sondern ausdrücklich auch an einen Regimewechsel in Bagdad band, hat einen solchen Anreiz gerade nicht gegeben. Ein Neuansatz westlicher Irakpolitik wird eine Differenzierung und Dosierung der Sanktionen beinhalten müssen. Die von Kofi Annan vorgeschlagene Erhöhung der Ölexporte, die dem Irak unter dem "Oil-for-Food-Abkommen" erlaubt sind, geht in Richtung einer Dosierung. Differenzierung würde bedeuten, daß das Rüstungsembargo aufrechterhalten bleibt, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Embargo aber abgebaut wird. Die irakische Führung muß wissen, daß sie, wenn sie kooperiert, die meisten ihrer Souveränitätsrechte - ausgenommen jene, die unter das Rüstungsembargo fallen - wiedergewinnen kann. Man wird davon ausgehen müssen, daß Teile der irakischen politischen Klasse, nicht nur Saddam Hussein, interessiert bleiben, Waffen und Rüstungsprogramme zu erwerben, die dem Irak unter den Waffenstillstandsbedingungen verboten sind. Dieses Interesse rechtfertigt noch keine Strafmaßnahmen, es rechtfertigt und verlangt allerdings internationalen Druck, um seine Umsetzung in Beschaffungsmaßnahmen zu verhindern. Langzeitüberwachung und ständige Verifikation bleiben deshalb gefordert. Ein solches Überwachungsregime stellt zweifellos eine schmerzhafte Einschränkung irakischer Souveränität dar. Sie schmerzt allerdings, wo sie schmerzen soll, ohne die irakische Bevölkerung im Ganzen zu treffen. Im übrigen kann unterstellt werden, daß es der irakischen Regierung leichter fallen wird, solche Einschränkungen zu akzeptieren, wenn gleichzeitig wieder normale wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zur regionalen und internationalen Umwelt möglich werden. 2)