Saul Friedländers Dankrede beim Empfang des Geschwister-Scholl-Preises in München am 23. November 1998 (Wortlaut)
Lassen Sie mich zunächst sagen, daß ich es als eine große Ehre empfinde, in diesem Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet zu werden - nicht nur wegen der Bedeutung dieses Preises an sich, sondern auch, wie Sie sich bestimmt denken können, wegen der Namen, mit denen er verknüpft ist.
Hans und Sophie Scholl und ihr Kreis gehörten zu den wenigen echten Märtyrern des antinazistischen Widerstandes in Deutschland. Sie begannen mit ihrem Widerstand viel früher als andere, sie verfügten über keine Machtmittel, und sie gehörten keiner politischen oder militärischen Organisation an, die ihren Initiativen einen gewissen Erfolg hätte sichern können. Sie handelten ohne jede Aussicht auf die Erreichung konkreter politischer Ziele, und je größer ihr Aktionsradius, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie gefaßt werden würden. Als sie zu ihrer letzten Widerstandsaktion aufbrachen, dürften sie geahnt haben, daß sie zu ihrer Verhaftung und zu ihrem Tod führen würde.
Die Geschwister Scholl waren das Beste, was Deutschland in der finstersten und schändlichsten Periode seiner Geschichte aufbieten konnte. Ich muß gestehen, daß ich die Flugblätter der Weißen Rose seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr gelesen hatte. In den letzten drei Wochen jedoch haben mich diese wenigen Blätter wieder in ihren Bann geschlagen. Es ist nicht nur der Mut der Geschwister und der anderen Mitglieder ihres winzigen Kreises, den ich bewundernswert finde; es ist auch ihre bedingungslose Bereitschaft, aus einem fast aussschließlich moralischen Impetus heraus der hohen Wahrscheinlichkeit des Scheiterns und Sterbens ins Auge zu sehen.
Anders als die Widerstandskämpfer in den von Deutschland besetzten Ländern Europas konnten die Scholls nicht auf die stillschweigende oder aktive Unterstützung von Hunderttausenden ihrer Landsleute bauen; sie handelten vielmehr gegen die Überzeugungen oder gegen die Gleichgültigkeit der überwältigenden Mehrheit des eigenen Volkes. Wie so viele andere kann auch ich mich nicht vor der Frage drücken: Hätte ich, wenn ich als Erwachsener unter dem NS-Regime gelebt hätte, den Mut besessen, das zu tun, was die Geschwister Scholl getan haben? Mich als Jude in einem der Gettos, in einer fast ausweglosen Situation also, einer Untergrundbewegung anzuschließen, hätte für mich im Bereich des Möglichen gelegen.
Daß ich Mitglied einer nationalen Widerstandsbewegung geworden wäre, erscheint mir nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich. Doch das einsame Heldentum der Geschwister Scholl setzte eine moralische Rigorosität ganz anderer Art voraus, eine Kraft, die außer ihnen fast niemand in Deutschland - oder auch anderswo - aufbrachte. Kurz nach dem Krieg las ich ein Buch, das mich damals sehr beeindruckte: Oberst Remis "Le Livre du Courage et de la Peur" (Das Buch vom Mut und von der Angst). Es vermittelte den Eindruck, im besetzten Frankreich sei die Zahl der Helden sehr groß, die der Feiglinge sehr klein gewesen. Die Botschaft der in dieser Zeit gedrehten französischen Filme über die Résistance war die gleiche.
Ein Schweizer Film, den ich damals sah, glorifizierte sogar die heroische Haltung der Schweiz in den Kriegsjahren. "La derniere chance" (Die letzte Chance) erzählt die Geschichte einer Gruppe von Juden, die 1942 über die Alpen flüchtet und unter schrecklichen Entbehrungen und Gefahren schließlich den sicheren Boden der Schweiz erreicht, deren Grenzwächter sie mit offenen, schützenden Armen empfangen... Die Franzosen brauchten nach Ende des Krieges über zwanzig Jahre, bis mit "Le Chagrin et la Pitié" (Die Trauer und das Mitleid) erstmals ein Film gedreht und gezeigt wurde, der die von Gaullisten und Kommunisten gleichermaßen gehätschelte (und in der Tat von den meisten Franzosen gern geglaubte) nationale Legende entmythisierte. Im Fernsehen wurde dieser Film jedoch wiederum rund zwanzig Jahre später gezeigt. Ein nationaler Mythos lässt sich nur schwer erschüttern, wenn dabei die kollektive Selbstachtung auf dem Spiel steht oder kollektive Schamgefühle heraufbeschworen werden könnten. Mythos und Verdrängung waren nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit in allen westlichen Ländern die probatesten Beruhigungsmittel.
Doch seltsamer- und paradoxerweise drängt sich trotz der Widerstände gegen die Entmythisierung die bittere Wahrheit über diese Vergangenheit im Verlauf der Zeit immer mehr in den Vordergrund. Diese Vergangenheit ist gegenwärtiger denn je. Es ist ein paradoxes Phänomen, das sicherlich der tiefergehenden Reflexion wert ist. Im deutschen Kontext war es in jüngster Zeit Martin Walser, der sich in seiner inzwischen schon berühmten Rede dieses Themas angenommen hat. Nach Ansicht Walsers ist diese Vergangenheit im Lauf des zurückliegenden Jahrzehnts immer bedrängender geworden. Ich halte diese Einschätzung, wie soeben angedeutet, für zutreffend. Ich möchte jedoch im Gegensatz zu dem, was Walser in seiner Rede offenbar sagen wollte, Zweifel an der These anmelden, die zunehmende Präsenz der Nazizeit im Bewußtsein der Zeitgenossen sei vor allem eine Folge politischer und medialer Instrumentalisierung, eines gedankenlosen rituellen Abfeierns oder einer irgendwie zwanghaften politischen Korrektheit.
Obwohl alle diese Elemente vorhanden sind, zweifle ich daran, daß irgend eine Person oder Gruppe in der Lage ist, das Gedächtnis der Öffentlichkeit länger als für sehr kurze Zeitspannen zu manipulieren. Wenn es eine politische oder kommerzielle Instrumentalisierung des Holocaust gibt, dann beutet sie etwas unabhängig von ihr vorhandenes aus; die ursächlich treibende Kraft dieses Prozesses kann sie nicht sein, so wenig wie sie ihn signifikant prägen kann. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, daß diese Vergangenheit nicht nur in Deutschland und nicht nur bei den Juden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt ist, sondern auch in Holland, Frankreich, Italien, der Schweiz sowie zunehmend auch in Großbritannien. Dasselbe gilt natürlich für die Vereinigten Staaten. Für die christlichen Kirchen ist die NS-Vergangenheit ebenfalls zu einem beherrschenden Thema geworden. In der Katholischen Kirche zum Beispiel hat die Erklärung zur Shoah, die der Vatikan im letzten Jahr veröffentlichte, viele Fragen aufgeworfen, ebenso wie neuerdings die Heiligsprechung von Edith Stein. Oft wird als mögliche Ursache für das unerwartete Auftauchen der Erinnerung die Tatsache benannt, daß seit Ende des Zweiten Weltkrieges zwei Generationen herangewachsen sind; erst jetzt, nach Ablauf einer genügend langen Zeit, sei es, so wird argumentiert, allen Betroffenen möglich, dem Schlimmsten ins Auge zu sehen
Es könnte indes noch mehr dahinterstecken. Der Nationalsozialismus mit allem, was er geprägt und angerichtet hat - die Ausrottung der Juden vor allem -, ist im Lauf der Jahrzehnte in der Vorstellungswelt des Westens (und vielleicht sogar darüber hinaus) zum Inbegriff des Bösen geworden, "Auschwitz" zur zentralen Metapher für das Böse in unserer Zeit. Man könnte es auch so ausdrücken, daß in unserem Jahrhundert des Völkermords und der Massenschlächtereien die Ausrottung des europäischen Judentums und die anderen Verbrechen des Hitler-Regimes von vielen als das absolute Böse wahrgenommen werden, an dem dann alle Grade des Bösen sich messen lassen. Die Vorstellung vom Nazismus als Manifestation des "radikalen Bösen" in der Geschichte war schon in den Kriegsjahren nicht nur bei den jüdischen Opfern, sondern auch in einigen christlichen Kreisen mit Nachdruck artikuliert worden. In den Flugblättern der Weißen Rose fand diese Deutung ihren vielleicht beredtesten Ausdruck. Nachdem seit Ende des Weltkrieges weitere Massenvernichtungen geschehen sind - man denke etwa an die von niemandem mehr bestrittenen Verbrechen des Sowjetsystems -, könnte man annehmen, daß sich im Bewußtsein der Zeitgenossen unterschiedliche Metaphern des Bösen festgesetzt hätten. Es scheint indessen, als habe sich die Position des Nazismus auf dieser schrecklichen Skala eher noch befestigt.
Als der Tod Pol Pots gemeldet wurde, konnte man einige Kommentare zu den "Killing Fields" der Roten Khmer lesen, aber viel mehr auch nicht. Demonstranten, die mit roten Fahnen und Stalin-Bildern umherziehen, würden außerhalb Rußlands vermutlich Aufsehen erregen und Unmut hervorrufen. Demonstranten mit Hitler-Porträts und Hakenkreuzfahnen würden Tumulte auslösen. Neuere Untersuchungen haben den steilen Aufstieg und Niedergang des Vornamens Adolf in Deutschland aufgezeigt. Ich bin mir sicher, daß, wenn man die Erhebungen auf die ganze westliche Welt ausgedehnt hätte, das fast völlige Verschwinden dieses Vornamens herausgekommen wäre, der allenfalls noch in ultrarechten politischen Randgruppen wohlgelitten sein dürfte. Es handelt sich hier meines Wissens um ein so gut wie einzigartiges Beispiel dafür, daß ein Name aus moralischen Gründen verschwindet. Wir befassen uns hier nicht mit einer theologischen oder philosophischen Definition des Bösen, sondern mit dessen Wahrnehmung im allgemeinen Bewußtsein. In den Augen der meisten Menschen wächst der Grad des Bösen mit dem Ausmaß des Verbrechens, mit der Natur des verbrecherischen Vorsatzes und mit der Abwesenheit von Schuldgefühlen. Man kann unschwer den Beweis führen - es zu tun, ist an dieser Stelle unnötig -, daß der Nazismus in bezug auf jedes dieser Kriterien bis an eine äußerste Grenze gegangen ist, die sich nicht mehr überschreiten läßt. Diese besondere "geschichtliche Stellung" des Nationalsozialismus bietet eine weitgehende Erklärung für die anhaltende Präsenz der Nazi-Vergangenheit.
Ob darüber hinaus für die anhaltende Beschäftigung mit diesem Thema neben dem erwähnten Generationenfaktor auch kulturelle Gründe verantwortlich sind wie die Abkehr vom Fortschrittsdenken und von den Idealen der Aufklärung, braucht hier nicht erörtert zu werden. Die Quintessenz meiner Überlegungen ist die, daß weder Mediengurus noch Intellektuelle noch organisierte Gruppen die Präsenz dieser Vergangenheit, ihr akutes Dringlich-Werden (oder auch ihr eventuelles Verblassen) auf Dauer kontrollieren und manipulieren können. Die Entwicklung, die Walser beklagt, ist vielmehr ein tiefgreifender, ungesteuerter Prozeß, nicht das Ergebnis irgendwelcher willkürlichen Machenschaften. Das bringt mich zum entscheidenden Punkt, zu dem, was meiner Ansicht nach den Kern der Walserschen These ausmacht: seine Wahrnehmung einer gleichsam zwanghaften Beschäftigung der Deutschen mit dem Holocaust in der Art einer moralischen Pflichtlektion, verabreicht mittels Mediendarstellungen, intellektuellen Debatten und Gedenkprojekten wie dem geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin, von dem Walser sagt, es verkörpere eine "Monumentalisierung der Schande" im Herzen der deutschen Hauptstadt. Walser greift sogar zu noch stärkeren Formulierungen, indem er erklärt, jeder Deutsche, der sich den stillschweigend vereinbarten moralischen Verpflichtungen verweigere, mache sich verdächtig. "Aber in welchen Verdacht gerät man", fragt Walser rhetorisch, "wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?"
Ich werde mich gleich zu Walsers Frage äußern, aber vorher kurz folgendes: Ist es nicht merkwürdig, daß ein Publikum, das vor zwei Jahren Daniel Goldhagen zugejubelt hat, jetzt Martin Walser applaudiert? Es geht hier um diametral entgegengesetzte Positionen. Ist das ein Zeichen einer generationellen Spaltung oder einer anhaltenden Verwirrung? Was Walsers Frage betrifft, so ist meine Antwort: Die Deutschen sind jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft wie jede andere. Niemand, der dies ausspricht, sollte und würde deswegen in irgendeinen Verdacht geraten. Aber ist eine normale Gesellschaft eine Gesellschaft ohne Erinnerung, eine, die sich der Trauer entzieht, eine, die sich von der eigenen Vergangenheit abwendet, um nur noch in der Gegenwart und Zukunft zu leben? Ich nehme an, daß Martin Walser dies nicht suggerieren wollte. Ein Aspekt der Sache verlangt jedoch nach einigen weiterführenden Bemerkungen. Jede Gesellschaft gedenkt traditionell ihrer Helden und ihrer Toten, einschließlich der Opfer von Kriegen, auch wenn es Kriege sind, mit deren Zielen man sich nicht identifizieren kann. Die Gedenkwand für die amerikanischen Gefallenen des Vietnamkriegs in Arlington ist das eindrucksvollste jüngste Beispiel eines solchen Mahnmals. Die Ausrottungen der Nazis hatten jedoch nichts mit herkömmlichen Kriegen, ob sie gerecht oder ungerecht waren, zu tun. Es ist das erste Mal in der neueren Geschichte, daß eine Gesellschaft nicht ohne weiteres ihrer Toten gedenken kann, ohne einen Schritt über das traditionelle Nationalgefühl hinauszugehen. Wäre es dann nicht ein Gebot der Logik zu sagen, daß in diesem speziellen Fall für das Gedenken ebenfalls andere als die herkömmlichen Regeln gelten sollten? Wäre es nicht historisch und moralisch verständlich und notwendig, daß eine vollkommen normale Gesellschaft einer vollkommen unnormalen Vergangenheit auf außergewöhnliche Weise gedächte? Warum sollte nicht, anders formuliert, eine vollkommen normale Gesellschaft eingedenk dieser ganz ungewöhnlichen Vergangenheit zunächst und vor allem die Opfer ihrer eigenen Politik betrauern?
Das heißt ja nicht, daß die einzelne Person, die einzelne Familie oder die örtliche Gemeinschaft nicht mehr um ihre eigenen Toten trauern sollen, um Menschen, die meistens allenfalls indirekt in die Verbrechen des Regimes verwickelt waren. Es bedeutet allerdings, daß die individuelle, familiäre oder an einem Ort geäußerte Trauer um die Toten unterscheidbar sein muß von den Gedenkritualen der Gesellschaft als ganzer, als kollektiver geschichtlicher Einheit. Wie man gedenkt, darüber muß man entscheiden, und im Falle des für Berlin geplanten Mahnmals hat man bekanntlich verschiedene und komplizierte Wahlmöglichkeiten. Die Entscheidung zu treffen ist zweifellos Sache der Deutschen und nicht irgendwelcher Außenstehenden. Andererseits hat die deutsche Öffentlichkeit in den vergangenen zehn Jahren gezeigt, daß es ihr wichtig ist, ihre Gedanken zu diesem Thema mit anderen zu teilen, und so hoffe ich, man wird es mir nicht als Anmaßung auslegen, wenn ich zum Abschluß meiner Ausführungen etwas über die Holocaust-Gedenkstätte sage, besonders auch mit Blick auf Walsers Äußerungen. Martin Walser wendet sich gegen die Errichtung einer monumentalen Stätte der Erinnerung an die "nationale Schande" im Herzen Berlins. Doch muß diese Erinnerungsstätte unbedingt monumental ausfallen, muß sie ständig Verletzungen zufügen?
Eines möchte ich auf Grund der historischen Erfahrung mit dieser Vergangenheit festhalten: Die Abwesenheit eines Mahnmals wird eine Leere hinterlassen, die eine ständige Quelle bittererer Debatten sein würde als die Diskussion um die Gedenkstätte. Es geht mir nicht um einen konkreten Vorschlag, sondern um die Bestimmung von Elementen, die zu solch einer Gedenkstätte gehören sollten. Sie muß sich an den Intellekt wie an die Emotionen wenden, wenn sie auch den kommenden Generationen zugänglich sein soll. Deswegen sollte die Gedenkstätte weder zu abstrakt, noch sollte sie ein Forschungszentrum sein, das sich nur an den Intellekt wendet. Vielleicht kann die Gedenkwand von Arlington einen Weg zur Lösung dieses Problems weisen. Ich weiß, daß der Vorschlag einer Namenstafel von Anfang an in der Diskussion war. Aber es muß ja nicht eine monumentale Tafel mit Hunderttausenden oder Millionen Namen sein. Man müßte eine Auswahl treffen, repräsentativ für die Länder, Regionen, Gemeinden. Dazu aber sollte ein wesentliches Element hinzugefügt werden. Einige unter Ihnen kennen vielleicht das von Serge Klarsfeld herausgegebene Erinnerungsbuch an etwa zweitausend der aus Frankreich deportierten jüdischen Kinder. Es finden sich darin nicht nur die Namen dieser Kinder, sondern auch biographische Angaben und Bilder jedes einzelnen.
Das Buch trifft den Leser mit außerordentlicher Wucht, gerade weil es so wenig zu sagen gibt über Leben, denen zu einem so frühen Zeitpunkt ein gewaltsames Ende gesetzt worden ist, über Kinder, die im Alter von drei oder fünf oder zwölf Jahren ermordet wurden. Könnte man nicht, falls man sich für eine Wand oder Platte aus Stein oder Stahl mit den eingravierten Namen von Opfern entscheiden sollte, die Namen von ermordeten Kinder auswählen, ergänzt durch die wenigen biographischen Daten, die für jedes von ihnen vorliegen mögen? Die Beschränkung auf Kinder - das heißt auf das Symbol der Unschuld - ist dabei keineswegs als wohlfeiles Mittel für die Schürung von Emotionen gedacht, sondern als Anstoß für künftige Generationen, sich den Geschehnissen anhand ihrer extremsten Auswüchse zu nähern. Könnte man sich nicht vorstellen, daß eines Tages deutsche Kinder, die vor einer solchen Wand oder Platte stehenblieben, sich fragten: Warum mußte dieses Kind im Alter von nur sieben Jahren sterben, warum dieses andere mit drei Jahren? Warum wurden diese Kinder von der Insel Rhodos abtransportiert, warum jene aus Norwegen, aus Warschau, aus fast allen Ländern Europas, aus Berlin, Düsseldorf, Köln oder München, um dann an weit entfernten Orten getötet zu werden? Wäre ein solches Mahnmal ein dauerhaftes "Monument der nationalen Schande", oder würde es nicht vielmehr um Thomas Laqueur zu paraphrasieren - Stimmen, die Namen rufen, zum Klingen bringen? Könnte man sich nicht vorstellen, daß in Zukunft Kinder, die vor einem solchen Mahnmal innehielten, sich nicht nur nach den Toten und dem Warum erkundigten, sondern auch danach fragten, ob es Deutsche gab, die versuchten, zu helfen, zu opponieren, Widerstand zu leisten? Man würde ihnen antworten, daß nur wenige versuchten, zu helfen, zu opponieren und unter Einsatz ihres Lebens Widerstand zu leisten, daß es aber doch ein "anderes Deutschland" gab und daß seine heroischsten Märtyrer Hans und Sophie Scholl waren.