Der Schock sitzt tief. 50% der Wähler haben nicht nur die Union abgewählt, sondern auch einer neuen gesellschaftlichen Mehrheit zu Macht verholfen. Und diese Mehrheit setzt auf staatliche Umverteilung, Interventionspolitik und Abkehr von Deregulierung und Globalisierung. Es ist eine Jospin-Mehrheit, keine Blair-Mehrheit. Sie beherrscht Bundestag und Bundesrat, wird über die Mehrheit in den Richterwahlausschüssen verfügen und den nächsten Bundespräsidenten stellen. Die so früh totgesagte PDS hat Fraktionsstärke erreicht und die Versprengten der DKP in der alten Bundesrepublik eingesammelt. Nun mausert sie sich zur strategischen Reserve der SPD und nimmt damit den historischen Faden dort wieder auf, wo sie ihn in den 20er Jahren fallen lassen mußte, von Stalin gleichgeschaltet und der These vom "Sozialfaschismus" der Sozialdemokraten unterworfen. Im Notfall kann diese Wiederanknüpfung an verschüttete linke Traditionen den Rettungsanker für die SPD darstellen, sollten die "bürgerlichen" Grünen zu aufmüpfig werden. Das Dilemma ist kaum aufzulösen: Zur Alleinregierung fehlen der CDU die Wähler und für eine Koalition brauchbare strategische Partner. Der ganze mitteldeutsche Osten ist flächendeckend rot geworden.
Nun war es zwar immer erstaunlich, daß der rote Osten dem schwarzen Kanzler seine Stimme gab, und kluge Beobachter haben schon 1991 an die historische Normalität eines sozialdemokratischen Sachsens und Thüringens erinnert. Nur ist die Veränderung heute noch gründlicher, denn auch der großagrarische Norden, in dem die "roten Barone" die alten Junker ersetzt haben, ist fest in sozialistischer Hand. Die Geschichte ist zurückgekehrt und der CDU dürfte es schwerfallen, die verlorenen Stimmen zurückzugewinnen. Denn die Milieus, aus denen sie im Westen (besonders in dessen Süden) schwindende Kraft zieht, sind im Osten nicht vorhanden. Warum soll ein Wähler, der das C nur noch aus den Erzählungen der Großmutter kennt, eine christliche Partei wählen? Doch nicht nur das Christliche, auch das Freiheitliche, Bürgerliche und Konservative hat in der früheren DDR kein Milieu. Gleichheitsideale sind nach 40 Jahren Mangelwirtschaft im Bewußtsein stärker verankert als Freiheit, Selbstverwirklichung und Initiative. Das Leitbild eines starken fürsorglichen Staates und ein tiefes Mißtrauen gegen die Marktkräfte haben die Wahlentscheidung bestimmt. Im Spannungsfeld von Freiheits- und Gleichheitsidealen geben 35% der westdeutschen, aber 55% der ostdeutschen Bevölkerung dem Ziel, soziale Unterschiede zu nivellieren und Gleichheit zu verwirklichen, Vorrang, und 68% der Menschen in den neuen Bundesländern halten einen Ausbau der staatlichen Sozialleistungen für den richtigen Weg dorthin.
Diese Umfrageergebnisse aus Allensbach machen die Schwierigkeit eines Neubeginns deutlich. Denn was für die CDU gilt, gilt in gleicher Weise für eventuelle Koalitionspartner. Schon mangels Masse kann man sich Diskussionen über schwarz-gelb oder schwarz-grün ersparen. Die Partei der Besserverdienenden und die Verfechter der postmateriellen Werte haben es in diesem Umfeld schwer. Der Osten bleibt damit auf lange Zeit verloren und eine Regeneration kann nur im Westen der Republik mit seinen römisch-katholischen und liberalen Traditionen beginnen. Doch das setzt eine inhaltliche Neubestimmung und die Rückkehr zu den Ursprüngen voraus. Der personelle Neuanfang ist geschafft und Schäuble die bestmögliche Lösung in dieser Situation. Doch auch er hat bis jetzt noch keine Strategie. Die beiden von ihm gesetzten Themen zeigen das deutlich: Die Union hat in den neuen Bundesländern nur noch die Wähler, die auf die von der PDS in Anspruch genommene Ost-Identität weniger Wert legen. Die Werbung um ehemalige SED-Angehörige kommt deshalb zu spät und kann nur zusätzliche Stimmen kosten. Das gleiche gilt für die Gedankenspielereien zu schwarz-grün. Nachdem die Union in den vergangenen Jahren allen derartigen Überlegungen auch in den eigenen Reihen eine Absage erteilt hat, wirken Angebote an die Grünen im Moment des Sieges der anderen Formation nur komisch. Denn nur eine inhaltliche Neuorientierung der CDU und fast unterträgliche Koalitionsschmerzen könnten die Grünen vom siegreichen und machthabenden Bündnis abziehen. Bevor die Union wieder zu Kräften kommen kann, muß sie sich über ihre Politik, ihre gesellschaftliche Position jenseits des nicht gelesenen Wahlprogramms klar werden.
Die CDU hat die Wahlen nicht nur aus Überdruß an Helmut Kohl verloren, sondern auch und hauptsächlich, weil sie ihre soziale und wirtschaftspolitische Kompetenz in den Augen der Wähler eingebüßt hat, der Antikommunismus als Bindemittel ausfiel und die Partei nicht glaubwürdig dartun konnte, wie der Erhalt gesellschaftlicher Bindungen bei Entfesselung der Produktivkräfte gesichert werden kann. Die gängige Formel, daß Veränderung nur das Mittel, Bewahren aber das Ziel sei, ließ sich den Wählern nicht mehr vermitteln. Zu offensichtlich war die Ordnung nicht mehr gerecht und die Wirtschaft nicht mehr leistungsfähig genug, dieses Defizit zu überspielen. Die CDU hat in der Vergangenheit auf der Basis des wirtschaftlichen Erfolgs manche ihrer Grundsätze geopfert und zugleich behauptet, es habe sich nichts geändert. Künftig wird die Partei Farbe bekennen müssen. Glaubt sie noch an ihre christlichen Wurzeln?
Vor allem aber: Ist das C noch Richtschnur in der Tagespolitik? Will die Union den starken Staat oder diesen Staat der Dominanz des Ökonomischen überlassen? Ist das Ökologische Mode oder Notwendigkeit? Sind Werte letztlich verhandelbar oder müssen sie allem übergeordnet bleiben? Und vor allem, was aus den Anfängen der alten Bundesrepublik gilt noch? Die Gründung der Christlich-Demokratischen Union nach 1945 war keine konservative Parteigründung. Sie enthielt vielmehr eine Absage an alle vorindustriellen Werthaltungen und war damit der endgültige Durchbruch der demokratischen Industriegesellschaft in Deutschland. Die CDU hatte teil an der weltweiten Modernisierung auf marktwirtschaftlicher Basis. Sie war die Partei, die das Projekt der Moderne vollenden und die demokratische Industriegesellschaft in Deutschland befestigen sollte. Europa, der Gemeinsame Markt, Wirtschaftswachstum, Hochtechnologie und rationale Verwaltungseinheiten waren die Ziele, Individualisierung und die Mobilisierung gesellschaftlicher Milieus sind die Folgen dieser Politik.
Verbindlich werden!
"Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren" - diese Formel von Franz Josef Strauß ist zwar geistesgeschichtlich nicht haltbar, bezeichnet aber griffig jene das Projekt der Moderne vorantreibende Haltung, die die Verluste des Fortschritts ausklammert, die zu thematisieren Aufgabe des Konservatismus ist. Helmut Kohl hat die in der Union versammelten bürgerlichen Ideologien vom sozialen Katholizismus über den mittelständischen Liberalismus bis hin zu den deutsch-nationalen Resten in verschwommener Unverbindlichkeit zusammengehalten. Die Union stand für Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, für Europa und Deutschland und vermochte Widersprüche mit einem saloppen "alles wird gut" zu überdecken. Das wird künftig nicht reichen. Wolfgang Schäuble wird nur dann die Union zusammenhalten können, wenn er eindeutig ist, wo Helmut Kohl zweideutig war. Die Globalisierung hat die alten Gegensätze von sozial, liberal und konservativ neu belebt und dürfte es der CDU künftig schwermachen, gleichgewichtig von ihrem sozialen, liberalen und konservativen Charakter zu sprechen. Vielmehr wird sie sich zwischen einer marktliberalen Partei, also einer vergrößerten FDP, und einer wertkonservativ-sozialen Union entscheiden müssen. Das setzt allerdings voraus, daß die konservative Traditionslinie neu definiert und wieder in ihre Rechte eingesetzt wird.
Denn das Konservative hat in der CDU derzeit keine Konjunktur. Zwar hat die Partei sich immer auch zu ihren konservativen Wurzeln bekannt, doch dieses Bekenntnis blieb vage und unverbindlich. Und auch jetzt stehen die sogenannten Modernisierer, die Marktliberalen gegen den Sozialflügel. Konservative, oder, wie es neudeutsch heißt, Wertkonservative sind kaum auszumachen. In der politischen Debatte setzt sich fort, was seit Gründung der Bundesrepublik ein Strukturdefizit der Politik ist, daß sich niemand zu konservativen Traditionen bekennt und keine Partei das Epitheton "konservativ" für sich reklamiert. Die fortdauernden Berührungsängste haben ihren Grund im historischen Versagen jener konservativen Eliten, die in den 30er Jahren das Bündnis mit Hitler eingingen, für das prototypisch der Name Papen steht. Über den Papenschen Konservatismus hat Joachim Fest einmal gesagt: "Unbeweglich stand er immer an den gleichen Fronten, defensiv lief alles auf die Verneinung der Revolution von 1789 mit ihren politischen, gesellschaftlichen und sozialen Folgeerscheinungen hinaus, während offensiv nie mehr als das Konzept des nationalistischen Machtstaates sichtbar wurde." Zu schnell wird konservativ seitdem mit dem Wörtchen national zu nationalkonservativ verbunden. Doch dies ist eine Verkürzung, ja Verfälschung des Konservativismus, der geistesgeschichtlich die längste Zeit ein Gegner des Nationalen war. Konservative Strömungen bildeten sich in Deutschland in Abwehr des Universalismus der Französischen Revolution heraus. Sie richteten sich gegen die Abstraktion vermeintlich rationaler Gesellschaftsentwürfe, gegen die Anrufung der Menschheit wider die Unvollkommenheiten des Menschen, gegen die abstrakte Freiheit, die sich nicht in Institutionen zur Sicherung der Freiheit des einzelnen verwirklicht, gegen gesellschaftliche Entwürfe vom Reißbrett, die die Traditionen und Erfahrungen von Jahrhunderten außer acht ließen, gegen eine Raison des Staates, die den Staatszweck losgelöst von den Menschen definiert, gegen die Vergötzung der Nation sowie gegen alle Spekulationen, die, von einem neuen Menschen träumend, die menschliche Gesellschaft neu erfinden und Verfassungen auf ein leeres Blatt Papier schreiben wollten.
Konservatives Denken hält sich am Konkreten fest, versucht sich der Traditionen zu vergewissern und die gesellschaftliche Wirklichkeit pragmatisch zu reformieren. Der erste Konservative - Edmund Burke - war ein englischer Whig, der an der gemischten Verfassung, wie sie sich in England seit 1688 entwickelt hatte, festhalten wollte, und dem der aufkommende bürgerliche Industrialismus "der Sophisten, der Ökonomisten und Rechenmeister, die die Schönheiten der Erde in Mark und Pfennig ummünzen", suspekt war. Burke forderte die Französische Revolution vor die Schranken des 18. Jahrhunderts und bescheinigte ihr Irrationalität. Er war kein Gegner der Aufklärung, er wollte sie nur von ihrer Selbstzerstörung bewahren. Nach 1870 verband sich der Konservativismus in fast allen westeuropäischen Ländern mit dem Nationalismus zu einer unheiligen Allianz. Dem utopischen Entwurf einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen wurde das Bild einer rassisch getönten Volksgemeinschaft entgegengesetzt. Nicht die Sicherung der Freiheit des einzelnen durch Institutionen, sondern das Aufgehen des Individuums in der Schicksalsgemeinschaft Nation war das Programm dieses Konservativismus. Diese Epoche ist zu Ende, und es wird Zeit, zu den Ursprüngen des Konservatismus zurückzukehren und jener "Entzweiung von Herkunft und Zukunft", von der Odo Marquard spricht, und die von so vielen Menschen inzwischen als Bedrohung empfunden wird, mit konservativen Haltungen zu begegnen. Wie sehen nun die möglichen Stabilisatoren aus, die dem Modernisierungsprozeß seine die Menschen verunsichernde Wucht nehmen könnten?
Die Geschwindigkeit drosseln!
Tocqueville erspürte in der Religion die Kraft, die geeignet ist, Demokratie und Freiheit miteinander zu versöhnen. Die Konservativen sehen in Erziehung, Kultur, Religion, Geschichtsbewußtsein und Common sense Möglichkeiten, jene Entfremdung zu überbrücken, die untrennbar mit der Moderne verbunden ist. Doch werden auch diese kompensatorischen Stützen die Fliehkräfte in den modernen Gesellschaften nicht bändigen können. Rüdiger Altmann befürchtet deshalb, daß der Verschleiß der Stabilität, den die Dynamik des industriellen Systems bewirkt, sich durch innovative Investitionen nicht mehr ersetzen läßt. Deshalb muß die Veränderungsgeschwindigkeit selbst vermindert werden. Es ist notwendig, durch konservative Widerlager zur Modernisierung den Kulturschock abzumildern und Gewöhnungsprozesse möglich zu machen. Dies ist die Aufgabe einer Partei mit konservativen Wurzeln, eine Aufgabe, die einer der frühen Konservativen, Georg Savile, Marquess of Halifax, genannt der Trimmer, wie folgt formuliert hat: "Das unschuldige Wort Trimmer heißt nichts anderes als dies, daß, wenn Männer zusammen in einem Boot sind, und der eine Teil der Besatzung das Boot auf der einen Seite niederdrückt und der andere Teil der Besatzung es auf der entgegengesetzten Seite niederdrückt, es zuweilen eine dritte Gruppe gibt, die der Meinung ist, es wäre das beste, wenn das Boot gleichmäßig ginge, ohne die Passagiere zu gefährden."
Es ist die Aufgabe eines modernen Konservatismus, das Boot im Gleichgewicht zu halten, die Fahrt zu verlangsamen und über die Richtung nachzudenken. Wir können nicht aus der Moderne aussteigen, aber wir müssen uns wieder der verschütteten Ansätze zu einer gleichgewichtigen Entwicklung erinnern. Dazu gehört auch die Reflexion der sinnvollen Größe gesellschaftlicher Einheiten, über die schon Halifax, Burke, Ferguson und Tocqueville nachgedacht haben. Überschaubarkeit, Gleichgewicht, Subsidiarität sind konservative Widerlager, die es zu stärken gilt. Statt an Traditionen anzuknüpfen, die sich aufgelöst haben, muß die zivilisatorische Entwicklungsdynamik so ermäßigt werden, daß Traditionen und Lebenswelten nur noch in dem Umfang altern, wie neue aufgebaut werden können. Hier ist der Staat als Ordnungsfaktor gefragt. Konservative wissen, daß Europa nur dann von den Menschen angenommen wird, wenn zugleich Gemeinden, Länder und Regionen als überschaubare kulturelle Einheiten gestärkt werden. Sie wissen, daß Toleranz gegenüber Fremden durch unbeschränkte Aufnahmebereitschaft eher geschwächt als gestärkt wird, weshalb allein die kulturelle Resorptionsfähigkeit Maßstab für die Zuwanderung sein darf.
Konservative nehmen Symbole und Feiertage ernst und Maschinenlaufzeiten nicht so wichtig. Emanzipation und Individualisierung haben Verlierer hinterlassen: das ungeborene Leben, Kinder, die Familie. Diese Gruppen dürfen nicht erneut Verlierer sein. Für den Konservativen gilt deshalb, daß der Sozialstaat zwar im Interesse von mehr Eigenverantwortung und "Teilhabegerechtigkeit" umgebaut werden muß, nicht aber vermeintlichen ökonomischen Zwängen geopfert werden darf. Es geht um die Humanisierung eines Prozesses und seine Anpassung an die individuellen und institutionellen Kapazitäten des Menschen. Nicht marktwirtschaftlicher Radikalismus, sondern ein linker Toryismus, ein mit sozialen Elementen angereicherter Wertkonservativismus könnte der CDU den Weg zu neuen gesellschaftlichen Mehrheiten und am Ende zu Wahlerfolg und Macht öffnen.