Das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende begann als eine Zeit der Hoffnung. Millionen Menschen waren von dem Traum einer neuen Epoche gefesselt. Der Sieg des Westen über den Osten erschien als Triumph von Freiheit und Unternehmungsgeist. Niemand aus dem Osten beklagte die Niederlage im "Kalten Krieg", lag der Wohlstand doch in greifbarer Nähe. Alles, was die Länder aus dem Osten dafür tun mußten, war, sich wieder der "Weltzivilisation" anzuschließen und in das "Gemeinsame Europäische Haus" einzutreten. Aber schon wenige Jahre später wichen die großen Hoffnungen der Skepsis. Mitte der 90er Jahre wurde es nicht nur unvermeidlich, den Traum vom Wohlstand aufzugeben, auch das westliche Demokratiemodellschien wackelig auf den Beinen und kaum mehr fähig, die eigenen Probleme zu lösen. Die liberale Wirtschaftsordnung, zur natürlichen Basis der politischen Freiheit proklamiert, geriet zunehmend in Widerspruch zu eben dieser; und es gewannen solche Stimmen an Kraft, die in den demokratischen Institutionen Hindernisse für den freien Markt sehen und ihre Ausmusterung forderten. Im Westen rufen heute viele Ökonomen und Soziologen das letzte Jahrhundert des Römischen Reiches in Erinnerung. In dieser Zeit wuchs ein Gefühl der Schwäche, vorrübergehend verdrängt von unerwarteten Erfolgen.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.