Was ist alltäglicher als die Klagen über die Demokratiedefizite der Europäischen Union: die mangelnden Kompetenzen des Europäischen Parlamentes; die Nichttransparenz der Gesetzgebungsarbeit des Rates; die Expertokratie und Lobbyismusabhängigkeit der Kommission. Die Klagen sind allesamt so notorisch wie berechtigt. Aber die Forderungen, die an sie geknüpft zu werden pflegen, offenbaren in fast allen Fällen ein erschreckendes Ausmaß an Unkenntnis der Unionsverfahren wie der Unionsinstitutionen. Natürlich können Informationsdefizite abgestellt werden, besonders angesichts der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die die moderne Informationstechnik dafür bereit hält! Aber das Informationsdefizit ist lediglich Symptom eines viel tiefer liegenden Problems, das durch das erschreckend niedrige Niveau der Beteiligung an der letzten Europawahl zum Vorschein kam: das fehlende öffentliche Bewußtsein dafür, daß es sich bei der Europäischen Union um eine politische Initiative handelt, bei der es um nichts Geringeres geht als die Zukunft der Demokratie in Europa. Deren Vergangenheit war nationalstaatlich. Die Zukunft der Demokratie, auch die der nationalstaatlichen, wird supranational sein - oder sie wird gar keine Zukunft haben.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.