In der Tat: So spannend sind die amerikanischen Präsidentenwahlen noch nie gewesen wie die im Jahre 2000. Das im Wahlkampf immer wieder beschworene Kopf-an-Kopf-Rennen will und will nicht aufhören - Finish hinter der Ziellinie. Die äußerst knappen Entscheidungen zwischen Kennedy und Nixon 1960, zwischen Nixon und Humphrey 1968 und zwischen Carter und Ford 1976 sind gar nichts im Vergleich mit dem mehr als engen Ausgang zwischen Gore und Bush. Doch hinter diesem Spektakel, das nicht zuletzt dem unzulänglichen, überholten Verfahren bei Präsidentschaftswahlen geschuldet ist, verbirgt sich eine andere Wahl und Wahlentscheidung, eine hidden election, die auf Trends hinweist, die in Zukunft große Bedeutung haben dürften. Denn unter der medialen Oberfläche zeichnen sich Veränderungen in den Tiefenstrukturen amerikanischer Politik ab, die sich auch bei uns, auf der anderen Seite des Atlantiks, vorsichtig bemerkbar machen. Was ist gemeint?
Klischees, die wir in Deutschland und Europa von amerikanischen Wahlkämpfen hegen und pflegen und die wir mit dem Schlagwort von der "Amerikanisierung" auf unser politischen Systeme übertragen, zerschellen an der politischen Wirklichkeit der amerikanischen Präsidentenwahlen dieses Jahres oder werden zumindest infrage gestellt. Aus einem anderen Blickwinkel und bewusst zugespitzt als gewagte These gegen manche gängigen Interpretationen formuliert: Die gerade abgelaufenen Wahlen in den USA ähneln eher deutschen und europäischen, als dass sie den Stereotypen entsprechen, die wir uns von der "Amerikanisierung" der dortigen und unserer Wahlkämpfe und Wahlen machen. Um was geht es konkret? Da geistert kulturpessimistisch die Vorstellung von der "Personalisierung" der Wahlkämpfe und der Politik generell durch die politischen Feuilletons, aber auch durch politikwissenschaftliche Zeitschriften und Handbücher. Auf Inhalte käme es nicht mehr an. Programmatisch glichen sich die Kontrahenten immer mehr, sie seien zum Verwechseln ähnlich, ja austauschbar. Was sie unterscheidbar mache, das seien die persönlichen Merkmale der Spitzenkandidaten, deren Charisma, ihre Anziehungskraft auf Frauen oder Jngendliche oder auch auf Facharbeiter, ihre Fernsehwirkung - wirkt jemand vertrauenserweckend oder dandyhaft borniert? Der erste Fernsehwahlkampf der Geschichte lässt an dieser Stelle grüßen mit seinem Mythos, Nixon habe die Wahlen gegen Kennedy verloren, weil er nicht richtig rasiert gewesen und deswegen dunkel, griesgrämig, ja böse im Vergleich zu dem strahlend jungen Senator aus Massachusetts erschienen sei. Natürlich: Persönlichkeiten spielen eine Rolle in der Geschichte, selbstverständlich auch bei den Präsidentenwahlen 2000. Das ist banal, wer wollte das anzweifeln. Nur: In Umfrage auf Umfrage haben im Herbst 2000 amerikanische Wähler klar gemacht, dass es ihnen primär auf die politischen Inhalte ankäme, die die Kandidaten verträten, nicht auf deren Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale. 82% der Wähler kannten sich in den politisch-inhaltlichen Differenzen zwischen dem Republikaner und dem Demokraten aus.
Wahlkampf um Inhalte
Tatsächlich haben beide Spitzenkandidaten und beide große Parteien scharf unterscheidbare politische Programme etwa in den Fragen vertreten, welche Rolle der Sozialstaat künftig spielen solle, ob und wie stark Steuern gesenkt werden sollten, wie über den Bundeshaushalt Prioritäten zu setzen seien, wie die Rentenversicherung und die damit verbundene Krankenversicherung (Medicare) bis zur Mitte dieses Jahrhunderts abzusichern seien. Auf der einen Seite stand George W. Bush, der Konservative, in deutscher Begrifflichkeit: der Neoliberale. Er propagierte deutliche Steuersenkungen, weitere Deregulierung, Entstaatlichung, Entbürokratisierung, Teilprivatisierung (etwa der Sozialversicherung). Dagegen auf der anderen Seite Al Gore, der Liberale, in deutscher Begrifflichkeit: der Sozialstaatler. Er verhieß zwar auch, die Steuern zu senken, aber längst nicht so drastisch wie Bush. Stattdessen plädierte er für den Ausbau bestehender und die Einrichtung neuer sozialstaatlicher Programme, Reform und Effektivierung der Bundesbürokratie. Bush appellierte mit seinem Programm vor allem an die weiße mittlere und obere Mittelschicht, Gore an die untere Mittelschicht und die Armutsbevölkerung sowie an ethnische Minoritäten. Konkrete inhaltliche Differenzen waren zwischen beiden Kandidaten leicht auszumachen, z.B. wie die für die nächsten zehn Jahre prognostizierten 4,5 Bio. Dollar Steuerüberschuss im Bundeshaushalt zu verwenden seien. Bush plant 1,3 Bio. für Steuersenkungen, 457 Mrd. für Sozialprogramme und den Rest für die Absicherung der Rentenversicherung zu verwenden, Gore hingegen nur 480 Mrd. für Steuersenkung, 360 Mrd. für die Erweiterung von Medicare (Subventionierung von Medikamenten für Menschen mit niedrigem Einkommen), 870 Mrd. für verschiedenste sozial- und innenpolitische Programme sowie den Rest ebenfalls für die Absicherung der Rentenversicherung. (Übrigens: Soweit Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt eine Rolle im Wahlkampf gespielt haben, wiederholte sich hier das gleiche Muster: Bush argumentierte, die Vereinigen Staaten sollten im internationalen System "bescheiden, aber stolz" auftreten, sich mehr zurückhalten als unter der Clinton-Administration. Gore hingegen plädierte für eine stärker interventionistische Rolle seines Landes.)
Vier "harte" Politikbereiche standen im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung: die Reform des amerikanischen Bildungssystems, insbesondere des primären und sekundären Bereichs, die Verwendung des Steuerüberschusses und damit verbundene mögliche Steuersenkungen, die Reform des Gesundheitssystems und schließlich die Rentenreform. Die "weichen", kulturkämpferischen Themen, die social issues wie Abtreibung, formelle Anerkennung homosexueller Partnerschaften, Todesstrafe, Verbot von Pornographie oder schärfere Kontrolle von Waffenverkauf und -besitz wurden im Wahlkampf zwar angesprochen, spielten aber eher eine Nebenrolle. Warum ist die viel beschworene "Personalisierung" der Politik trotz des harten Zweikampfes und trotz mancher persönlicher Spitzen weitgehend ausgefallen? Es gibt gute Gründe dafür. Beide Präsidentschaftsbewerber sind nicht aus dem Holz gemacht, aus dem Charismatiker geschnitzt werden: der eine steif, musterschülerhaft und sehr kompetent, der andere charmant, aber dabei recht unbeholfen, kurz: zwei Typen von Mittelmaß. Ferner haben die Amerikaner schlicht und einfach genug nach den persönlich-pikanten Eskapaden des scheidenden Präsidenten Clinton; Solidität, ja Langweile und "Moral" sollten wieder ins Weiße Haus einziehen und beide Spitzenkandidaten verhießen genau das. Persönliche Attacken auf den jeweiligen Gegner wären wahrscheinlich zum Schuss in den Ofen, zum Rohrkrepierer geworden. Schließlich: Zweifel an der Intelligenz des Gouverneurs aus Texas, die sich schnell zu einem Gerücht und Vorurteil, ja zu einem Handikap für ihn hätten ausbreiten und verdichten können, waren nach der ersten Fernsehdebatte verflogen, da der Republikaner sich entgegen den Erwartungen wacker geschlagen hatte. Den Stoff für die Kontroverse lieferten also die politischen Inhalte. Und da die amerikanische Ökonomie boomt, kam auch dieses, in Zeiten wirtschaftlicher Verunsicherung die Wahlkämpfe dominierende Thema ("it's the economy stupid") nicht auf die Tagesordnung.
Wechselwähler
Dann findet sich in Deutschland wie in Europa eine zweite Stereotype, die wir ebenso liebevoll mit dem Etikett "Amerikanisierung" versehen, nämlich die von den Wechselwählern. Deren Anteil an den Wahlberechtigten steige und steige, "Volatilität" wachse ins Unermessliche. Die armen Parteiführer und Wahlkampfmanager wüssten weder ein noch aus, wie und wo sich Wähler gewinnen ließen. Deswegen seien sie auf den Kampf um die Mitte, um die "neue Mitte" gekommen. Die Schwankenden und Wankenden sollten eingefangen werden. Um sie sei vor allem und zuerst zu werben, so unser Klischee. Es stimmt, dass die "Wechselwähler" eine Erfindung der amerikanischen Politikwissenschaft sind, genauer: der sozialpsychologischen Schule der Wahlforschung der University of Michigan. Bekanntlich fragen die Empiriker aus Ann Arbor nach der Parteiidentifikation, nach schwacher oder starker, oder danach, ob sich jemand als Unabhängiger begreift. Und eben diese Independents gelten bei uns als Wechselwähler, wenn sie denn wirklich zwischen den Parteien bei den verschiedenen Wahlen wandern.
In den Vereinigten Staaten ist nun der Anteil der Independents von 1952, als die Michiganer zu forschen begannen, bis Mitte der 70er Jahre gestiegen, nämlich von 9 auf 16%. Seitdem war die Zahl aber rückläufig, um schließlich wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Konsequenz für Wahlkampfstrategen: Der Wahlsieg hängt davon ab, ob die Stammwähler mobilisiert werden. Der Rat des "Economist" an Bush und Gore lautete entsprechend: "Soccer mums be damned. Mobilising your troops might be the hey". Sinngemäß übersetzt: Vergesst die Wechselwähler, bringt die eigenen Truppen ins Wahllokal. Und eben dies geschah. Der Kampf um die Stammwähler begann, Wechselwähler wurden vernachlässigt. Gab es 1980 und 1984 ReaganDemokraten und 1992 und 1996 Clinton-Republikaner, so fehlte die entsprechende Spezies am 7. November 2000 fast vollständig. Noch jeder Wahlhelfer von Bush oder Gore wusste: Stammwähler über alles. Deswegen war die Wahlhilfe durch die mit den Republikanern bzw. mit den Demokraten sympathisierenden Interessengruppen so wichtig, sie appellierten an ihre Mitglieder und Freunde wählen zu gehen: Die National Rifle Association und die Christian Coalition für den Republikaner, die Gewerkschaften, die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), einige schwarze Kirchen und mehrere Frauenorganisationen für den Demokraten.
Kein Wunder wie am Wahlabend das Ergebnis aussah: George W. Bush hatte die solide Mehrheit der Männer, der Weißen und der Reichen hinter sich, Al Gore die klare Mehrheit der Frauen, der Schwarzen, der Latinos und derjenigen, die im Jahr weniger als 50 000 Dollar verdienen. 90% der Schwarzen, 63% der Latinos, 54% der Frauen hatten für Gore gestimmt, dagegen 53% der Männer und 53% der Weißen für Bush. Vom Wahlkampf zum Klassenkampf oder doch wenigstens zur Klassenspaltung? Kein Zweifel: Gespalten ist das Land im Wahlverhalten, nämlich Männer vs. Frauen, Weiße vs. Schwarze, Land vs. Stadt, bevölkerungsarme vs. bevölkerungsreiche Staaten, Reich vs. Arm die mittlere Mittelschicht und die Vorstädte, die suburbs, sind genau in der Mitte gespalten. Zu dieser Spaltung passt, dass in den Vereinigten Staaten in den 90er Jahren sich ein echtes, bundesweites Zweiparteiensystem entwickelt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir regionale Schwerpunkte der Parteien. So war in den 70er Jahren der Süden im Prinzip republikanisch, der Nordosten demokratisch. Aufgrund der ideologischen Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern in den 80er Jahren und durch den Konflikt um den "Contract with America" zwischen dem Repräsentantenhaussprecher Newt Gingrich und Präsident Bill Clinton in dessen erster Amtszeit hat sich ein um Konservatismus einerseits und moderaten Liberalismus andererseits konzentriertes Parteiensystem entfaltet. Republikaner und Demokraten stehen sich programmatisch und inhaltlich mindestens so profiliert gegenüber wie Christ- und Sozialdemokraten in Deutschland. Die Wähler wandern deshalb seltener zwischen den Lagern - eine Botschaft, die das Berliner Willy-Brandt-Haus offenbar schon erreicht hat.
Ende des divided government
Auch wenn die Parteien in den Vereinigten Staaten klarer voneinander abgegrenzt sind und ideologisch und organisatorisch so geschlossen auftreten wie seit den 60er Jahren nicht, sei doch aus gegebenem Anlass davor gewarnt, Erfahrungen des deutschen parlamentarischen Regierungssystems auf die Vereinigten Staaten zu projizieren, gleichsam unser Klischee vom Parteienstaat den USA überzustülpen. Als es in der Wahlnacht so aussah, als würde Bush ins Weiße Haus einziehen und als hätten die Republikaner ihre knappen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus verteidigt und damit die Periode des divided government beendet, hieß es aus deutschem Journalistenmund fast einhellig, nun würde Regieren in Washington einfacher. Nein, diese Interpretation ist falsch und urdeutsch, sie verkennt die amerikanische politische Realität. Fraktionskohärenz ist dort noch immer ein Schimpfwort, von Fraktionsdisziplin oder gar -zwang ganz zu schweigen. Die Abgeordneten und Senatoren verstehen sich primär als Abgesandte ihrer Wahlkreise und Einzelstaaten, sekundär als Repräsentanten partikularer Interessen, und bestenfalls tertiär achten sie auf das nationale Interesse und die Parteilinie.
Das politische Patt, das in den letzten drei Jahren der Clinton-Präsidentschaft das Verhältnis zwischen Weißem Haus und Kapitol bestimmte, ist durch die Wahlen nicht aufgehoben. Ein möglicher Präsident Bush muss sich im republikanisch "beherrschten" Kongress ebenso mühsam und von Gesetzesvorlage zu Gesetzesvorlage seine Mehrheiten suchen, Abstimmungskoalitionen schmieden - und gleichwohl könnte sich der Politikstillstand der letzten drei Clinton-Jahre fortsetzen. Zusammengefasst: So dramatisch die Präsidentenwahlen und das Auszählen des Wahlergebnisses abliefen, wir sollten uns von dieser bunten, hektischen, nervösen Oberfläche nicht täuschen lassen. Auch wenn unsere Medien nicht müde wurden zu betonen, im Kampf um die Wechselwähler sei die Auseinandersetzung zwischen George W. Bush und Al Gore - typisch amerikanisch - personalisiert und emotionalisiert worden, so sagt dies mehr über unsere Klischees von der "Amerikanisierung" als über die politische Realität in den Vereinigten Staaten aus. In Wirklichkeit standen sich in den USA zwei politische Konzepte, zwei klar voneinander abgegrenzte Parteien, zwei sozial deutlich unterscheidbare Wählerkoalitionen gegenüber und sie haben das Land in zwei gleich große Hälften geteilt. Zugespitzt formuliert und einseitig argumentiert, um wider den Stachel gängiger Interpretationen und Vorurteile zu löcken: Diese soziale und politische Spaltung des Landes macht die eigentliche Wahl aus, die hidden election vom 7. November 2000.