Zum Repertoire nationaler Mythen
Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht Russland nach Selbstbildern, die Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit stillen und mobilisierende Ideen bereitstellen. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass Russlands Suche nach einer Nationalidee ergebnislos ausging. Die Bewertung bleibt jedoch umstritten. Einige Autoren meinen, die Abwesenheit einer schlüssigen Nationalidee habe auch ihr Gutes. Die erfolglos gebliebene Mobilisierung nationalistischer Massen und extremistischer Parteien, die Nichtexistenz schlagkräftiger paramilitärischer Gruppen nach Art der Tschetniks in Serbien, das Ausbleiben eines "Weimarer Republik"-Szenarios und die Beschränkung ethnischer Gewalteskalation auf Tschetschenien - all dies könne auch als Positivsaldo angesehen werden. Eine andere Sicht klagt hingegen Nationsbildung ein und sieht in deren Fehlen einen zentralen Grund für die schlechte Transformationsbilanz. Russlands Demokraten und Liberale hätten in den 90er Jahren das postsozialistische "Vakuum" den Chauvinisten und rechtsradikalen Kräften überlassen. Die konträren Bewertungen rufen über den Fall Russland hinaus reichende grundsätzliche Fragen hervor, und sie erfordern empirische Erklärungen.