Ausgabe März 2001

Rußlands Babel

Zum Repertoire nationaler Mythen

Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht Russland nach Selbstbildern, die Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit stillen und mobilisierende Ideen bereitstellen. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass Russlands Suche nach einer Nationalidee ergebnislos ausging. Die Bewertung bleibt jedoch umstritten. Einige Autoren meinen, die Abwesenheit einer schlüssigen Nationalidee habe auch ihr Gutes. Die erfolglos gebliebene Mobilisierung nationalistischer Massen und extremistischer Parteien, die Nichtexistenz schlagkräftiger paramilitärischer Gruppen nach Art der Tschetniks in Serbien, das Ausbleiben eines "Weimarer Republik"-Szenarios und die Beschränkung ethnischer Gewalteskalation auf Tschetschenien - all dies könne auch als Positivsaldo angesehen werden. Eine andere Sicht klagt hingegen Nationsbildung ein und sieht in deren Fehlen einen zentralen Grund für die schlechte Transformationsbilanz. Russlands Demokraten und Liberale hätten in den 90er Jahren das postsozialistische "Vakuum" den Chauvinisten und rechtsradikalen Kräften überlassen. Die konträren Bewertungen rufen über den Fall Russland hinaus reichende grundsätzliche Fragen hervor, und sie erfordern empirische Erklärungen.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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