Ausgabe März 2001

Rußlands Babel

Zum Repertoire nationaler Mythen

Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht Russland nach Selbstbildern, die Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit stillen und mobilisierende Ideen bereitstellen. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass Russlands Suche nach einer Nationalidee ergebnislos ausging. Die Bewertung bleibt jedoch umstritten. Einige Autoren meinen, die Abwesenheit einer schlüssigen Nationalidee habe auch ihr Gutes. Die erfolglos gebliebene Mobilisierung nationalistischer Massen und extremistischer Parteien, die Nichtexistenz schlagkräftiger paramilitärischer Gruppen nach Art der Tschetniks in Serbien, das Ausbleiben eines "Weimarer Republik"-Szenarios und die Beschränkung ethnischer Gewalteskalation auf Tschetschenien - all dies könne auch als Positivsaldo angesehen werden. Eine andere Sicht klagt hingegen Nationsbildung ein und sieht in deren Fehlen einen zentralen Grund für die schlechte Transformationsbilanz. Russlands Demokraten und Liberale hätten in den 90er Jahren das postsozialistische "Vakuum" den Chauvinisten und rechtsradikalen Kräften überlassen. Die konträren Bewertungen rufen über den Fall Russland hinaus reichende grundsätzliche Fragen hervor, und sie erfordern empirische Erklärungen.

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In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

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