Ausgabe Januar 2003

Rand und Band

Am 22. September ist etwas schief gelaufen: Die Falschen haben gewonnen. Und den Richtigen läuft jetzt die Galle über. Diese Wahl sei durch Betrug entschieden worden, heißt es - eine Untersuchung soll der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen. Doch dem Frust entschlüpfen noch stärkere Töne: Das betrogene Volk soll gar "auf die Barrikaden" und seine verlogenen Vertreter aus ihren Ämtern jagen - etwas Rechtes kann von ihnen sowieso nicht kommen. Wann hat man hier zu Lande eine reguläre Wahl so rabiat entwertet?

Verkehrte Welt: Der Verlierer macht dem Sieger den Prozess. Tathergänge werden kolportiert (wer was wann gewusst haben muss), Verdachtsmomente gesammelt, Urteile verkündet ("Lüge", "größte Lüge"), Schuldige stehen schon am Pranger (Eichel, Schröder), es riecht nachPulverdampf,undwindigeMachiavellis beschwören den wütenden Mob.

Das Treiben, so scheint es, gerät außer Rand und Band. Doch was sind "Rand und Band"? Welche Ränder werden überschritten, welches Bänder halten nicht mehr? Oder anders gefragt: was ist demokratische Normalität?

Sir Lewis Namier (1888-1960), ein genauer Kenner der englischen Demokratietradition, hat sich bei Gelegenheit Gedanken darüber gemacht, warum in den Frühzeiten des Parlaments einige Zeitgenossen mit aller Macht ins Unterhaus drängten.

Sie haben etwa 12% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 88% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema Demokratie

Politik vor Recht: Die Aushöhlung der liberalen Demokratie

von Miguel de la Riva

Als der FPÖ-Chefideologe und heutige Parteivorsitzende Herbert Kickl im Januar 2019 in einem ORF-Interview darauf angesprochen wurde, dass seine Asylpläne an die Grenzen von EU-Recht, Menschenrechtskonvention und Rechtsstaat stoßen, antwortete der damalige österreichische Innenminister, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.