Konturen einer künftigen Partnerschaft (Blätter-Gespräch)
Der militärische Sieg im Irakkrieg scheint die Rolle der Vereinigten Staaten als "einzig verbliebene Supermacht" befestigt zu haben. Charles A. Kupchan, Professor für Internationale Beziehungen an der Georgetown Universität in Washington, D.C., nimmt hingegen die Gefahr einer Überdehnung imperialer Macht in den Blick. In seinem jüngsten Buch (The End of the American Era. U.S. Foreign Policy and the Geopolitics of The Twenty-First Century, New York 2002; die deutsche Ausgabe ist für September geplant) prognistiziert er, dass der amerikanischen Vorherrschaft mittelfristig eine Gegenmacht gegenüberstehen wird: Europa – ungeachtet der momentanen Uneinigkeit. (Vgl. auch den Beitrag von Emmanuel Todd in der März-Ausgabe der "Blätter").
Charles Kupchan war während der ersten Legislaturperiode Bill Clintons Direktor der Europaabteilung des Nationalen Sicherheitsrats. Derzeit ist er, neben seiner universitären Tätigkeit, Senior Fellow des Council on Foreign Relations, eines bedeutenden, internationalistisch ausgerichteten Beratungsgremiums der Regierung.
Das Gespräch führte Konrad Ege, der als freier Journalist in Washington, D.C. arbeitet, am 6. Mai; die Übersetzung und Bearbeitung besorgte Arthur Heinrich. – D. Red.
"Blätter": Vor dem Waffengang im Irak warnten viele Kritiker die USAdministration davor, dass sich ein solcher Krieg lange Zeit hinziehen und weitere Konflikte in der Region auslösen oder verschärfen könnte. Nichts von dem ist geschehen. Der amerikanische Verteidigungsminister triumphiert, der Präsident verkündet auf einem Flugzeugträger den Sieg. Die Frage stellt sich von allein: Gibt ihnen der Erfolg Recht?
Charles Kupchan: Ich weiß nicht, ob wirklich so viele der Meinung waren, die Vereinigten Staaten seien außer Stande, den Krieg im militärischen Sinne zu gewinnen. Die weiter gehende Frage lautet: Hat dieser Krieg alles in allem die Macht der USA gestärkt oder geschwächt? Und weil man den Irakkrieg aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann, gibt es unterschiedliche Schlussfolgerungen. Eine ist, dass die Vereinigten Staaten gezeigt haben, dass sie eine unglaublich fähige militärische Streitmacht besitzen und in der Lage sind, ein großes Land in ein paar Wochen zu erobern und zu besetzen – was Syrien, Iran, Nordkorea und alle anderen zittern lässt.
Die andere Sichtweise geht davon aus, Amerika habe trotz dieser militärischen Demonstration in gewisser Weise Macht eingebüßt, weil aufgrund des Vorgehens die Legitimität des Unternehmens Schaden genommen habe. Es dürfte jetzt ungleich schwerer für das Land sein, seinen Weg in der NATO, den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation zu machen; die traditionellen Verbündeten wie Deutschland, Südkorea, ja sogar Großbritannien sind auf Abstand zu den Vereinigten Staaten bedacht und legen eine größere Skepsis an den Tag.
"Blätter": Ihr im vergangenen Herbst erschienenes Buch trägt den Titel "Das Ende der amerikanischen Ära". Würden Sie diesen Titel auch heute noch wählen?
Kupchan: Aber ja. Was im Irak geschehen ist, begründet kein neues Rom. Es werden kaum sämtliche Länder der Erde von jetzt an auf die Knie fallen, um Rumsfeld und Cheney zu huldigen. Das genaue Gegenteil ist eingetreten: Im Zusammenhang mit dem Irakkrieg passierte es seit Jahrzehnten das erste Mal, dass die Welt den Vereinigten Staaten gegenüber Nein sagte. Nicht nur Deutschland, Frankreich und Russland in den Vereinten Nationen, sondern auch Mexiko und Kanada, ebenso Länder wie Chile, Kamerun und Guinea, die die USA hundert Mal am Tag kaufen und wieder verkaufen könnten. Hier tut sich eine politische Alternative auf, wenn Sie so wollen, eine zweite Strecke, und die führt nicht mehr durch Washington.
"Blätter":Was spricht noch für das Ende der amerikanischen Ära?
Kupchan: Für Festlegungen ist es noch zu früh. Die Europäer versuchen auszuknobeln, was weiter geschehen soll. Manche in Deutschland und Frankreich stellen sich die Frage: Wollen wir wirklich in dem Bett schlafen, das wir gemacht haben?Wollen wir diesen Riss zu seinem logischen Schlusspunkt weitertreiben, dem Ende der transatlantischen Gemeinschaft? Der Krieg im Irak hat für eine vorübergehende Umleitung des allgemeinen Trends gesorgt, den ich in dem Aufstieg Europas sehe, Europa als ein Gegengewicht. Im Moment ist Europa gespalten, doch der Kurs hat sich nicht geändert.
"Blätter":Warum diese Annahme?
Kupchan: Weil die Länder, die die Vereinigten Staaten unterstützt haben – das so genannte Doughnut-Bündnis –, also die Randstaaten Europas, sich im Wesentlichen von dem Wunsch nach einem transatlantisch orientiertem Europa leiten ließen. Sie wollen ein Europa, in dem Amerika eine starke Rolle spielt. Mein Eindruck ist, dass die USA schon vor dem Irakkrieg auf Grund politischer und geopolitischer Entwicklungen das Interesse verloren haben, Schutzmacht Europas sein zu wollen. Der Riss in Sachen Irak beschleunigt diesen Prozess. Am Ende werden Länder wie Polen, Italien und Großbritannien bitter enttäuscht sein, denn die Option eines atlantizistischen Europa gibt es nicht, weil die USA auf Europa nicht mehr viel Wert legen. Unterm Strich wird das die Zustimmung zu dem Projekt vergrößern, ein stärkeres Europa zu schaffen, weil keine Alternative in Sicht ist.
"Blätter": Schwer zu glauben angesichts der Verfassung, in der sich Europa zur Zeit befindet.
Kupchan: Die Missstimmungen und Animositäten sind in der Tat nicht zu übersehen. Aber was passiert jenseits dieser Äußerlichkeiten? Die Vereinigten Staaten haben angekündigt, dass die von Deutschland in den Irak verlegten Soldaten nicht an ihren ursprünglichen Standort zurückkehren. Stattdessen wird es vielleicht ein paar kleinere Stützpunkte in Polen, Rumänien und Bulgarien geben, als Sprungbretter in den Nahen und Mittleren Osten. In Brüssel traf sich der europäische Kern, um über eine eigene Kommando- Struktur, ein eigenes Luftwaffen-Kommando, zu sprechen. Was dabei herauskommen wird, lässt sich noch nicht sagen, aber klar ist: Eine zweite Strecke ist eröffnet worden.
"Blätter": Es hat den Anschein, als erfahre das Konzept eines amerikanischen Empire im politischen Diskurs der Vereinigten Staaten immer mehr Zustimmung. Letzten Sommer veröffentlichte die "Washington Post" einen längeren Beitrag mit dem Titel "Empire or Not? A quiet debate over U.S. role". Der Artikel begann folgendermaßen: "Leute, die den Vereinigten Staaten das Etikett ‚imperialistisch’ aufdrücken, meinen das gewöhnlich als Vorwurf. Doch seit ein paar Jahren führt eine Reihe konservativer sicherheitspolitischer Experten das Argument ins Feld, die USA handelten tatsächlich imperialistisch und sollten dazu stehen." Ist die Beobachtung richtig?
Vom wohlwollenden zum räuberischen Hegemon
Kupchan: "Empire" ist in diesem Zusammenhang das falsche Wort, weil es die formelle Kontrolle über die Peripherie des "Reiches" impliziert. Die USA sind derzeit mehr Hegemon denn Herren eines Empire. Was sich verändert in der Welt ist allerdings die Art amerikanischer Hegemonie. Die wurde bisher generell als eine freundliche gesehen, im Sinne einer vorsichtigen Führung, eine Ordnung, die eher auf Konsens als auf Befehlen beruhte, und bei der die Vereinigten Staaten um Selbstbeschränkung bemüht waren. Mit der Besetzung des Irak und dem Sich-Absetzen von internationalen Institutionen erscheint die amerikanische Hegemonie jetzt eher als eine räuberische.
"Blätter": Stellen die Vereinigten Staaten neue Verhaltensregeln für die Welt auf?
Kupchan: Ich würde es anders formulieren. Die Vereinigten Staaten gehen auf Abstand zu jenen Regeln, die zu propagieren und an die Welt weiterzugeben sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr und häufig erfolgreich ins Zeug gelegt haben. Auch deshalb ist der Unmut so verbreitet. Wenn Robert Kagan in seinem Buch1 meint, dass Institutionen das Werkzeug der Schwachen seien und Europäer sie nutzten, um Amerika zu bändigen, zählt das zu jenen Punkten, in denen er daneben liegt. Wer hat denn diese Institutionen aus der Taufe gehoben? Amerika. NATO, Vereinte Nationen, Weltbank, Währungsfonds usw. – das waren Versuche Amerikas, eine auf bestimmten, geteilten Normen und Regeln basierende Weltordnung zu schaffen. Von diesen Normen rücken die USA nun ab. Vielleicht schaffen sie neue, doch die Welt scheint wenig geneigt, die zu übernehmen.
"Blätter": Die alten Normen und Regeln kamen auch den Vereinigten Staaten zugute.
Kupchan: Alle profitierten davon. Es war eine Art Vereinbarung. Die USA agierten (bis zu einem gewissen Grad) nicht aus strengem Eigeninteresse heraus, sondern legten ihre Interessen weiter aus, so dass sie sich mit denen anderer deckten. Inzwischen meinen viele, die Vereinigten Staaten ließen sich ausschließlich von ihren eigenen Interessen leiten, zum Nachteil der anderen.
"Blätter": Tony Blair meinte kürzlich, dass ein unipolares System unter Führung der USA so schlecht nicht sei. Schließlich brauche die Welt eine ordnende Hand. Was stimmt nicht mit diesem unipolaren System, bei dem ein einziges Land allen anderen militärisch haushoch überlegen ist?
Kupchan: Wenn die unipolare Welt stabil und lebensfähig wäre, würde ich die Aussage Tony Blairs auf der Stelle unterschreiben. Aber das ist sie nun mal nicht, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Einer besteht darin, dass sich unterschiedliche Machtzentren herausbilden, in erster Linie Europa, daneben China. Für eine stabile unipolare Welt müssten sich zudem die USA einem liberalen Internationalismus verschreiben. Sie müssten sich so verhalten, dass ihr machtpolitisches Übergewicht andere nicht erschrickt und keine gegenläufigen Koalitionen provoziert. Im Moment bewirkt die amerikanische Politik das genaue Gegenteil.
"Blätter": Die Diskussionen um ein unipolares Arrangement drehen sich irgendwie im Kreis. Einerseits, heißt es, brauchen wir ein unipolares System, weil die Institutionen und die anderen Länder schwach sind; andererseits werden jene von der unipolaren Macht zusätzlich geschwächt.
Kupchan: Ich glaube nicht, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der strukturell definierten Unipolarität und dem politischen Verhalten besteht. Ein mit so viel Macht ausgestattetes Amerika verfügt sehr wohl über die Möglichkeit, seine Macht so auszuüben, dass die internationalen Institutionen gestärkt werden. Wenn heute das Gegenteil geschieht, liegt das an den politischen Entscheidungen, nicht an Strukturen und Systemen.
"Blätter": Tony Blair weiß, wie er Politikern des "Alten Europa" auf die Nerven gehen kann. Welche Interessen treiben ihn um, warum diese engen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten?
Kupchan: Er stützte Bush beim Krieg im Irak, weil er das Unternehmen, Saddam Hussein zu stürzen, tatsächlich für wichtig erachtete. Auf Dauer kann seine Strategie nicht aufgehen, weil er versucht, Großbritannien eine Rolle zu geben, die das Land nicht ausfüllen kann. Am Ende besitzen die Briten mehr Einfluss in der Welt, wenn sie zu einem führenden Mitglied Europas werden, als wenn sie an den Rockschößen Amerikas hängen, mit Blair als kleiner Kläffer zu Füßen Bushs. Was hat er davon, dass er Bush im Irak half? Nichts, soweit ich sehe – mit Ausnahme der Einbußen an Popularität und einer revoltierenden Partei. Es war Großbritanniens letztes Hurra auf der Brücke nach Amerika. Die britische Politik wird sich schrittweise zurück nach Europa orientieren.
"Blätter": Bislang hat man im Irak noch keine Massenvernichtungswaffen entdeckt. Neokonservative Kriegsbefürworter sagen: Wir haben zwar nichts gefunden, aber das Land befreit. Und das wird jetzt als übergeordnete Legitimation des Krieges präsentiert. Suchen sich die USA jetzt den nächsten Feind?
Es beginnt kein neues imperialistisches Zeitalter
Kupchan: Was die Vereinigten Staaten betrifft, so ist das Auffinden von Massenvernichtungswaffen politisch nicht ausschlaggebend. Der Krieg wird als Sieg für Präsident Bush gesehen, selbst wenn nun der Rest der Welt sagt, dass der Krieg illegitim war, weil keine Waffen gefunden wurden. Eine solche Debatte mag es in intellektuellen Kreisen geben, aber das ist keine große Sache. Und ob die USA sich jetzt gen Syrien und Iran wenden, um auch dort Regime zu stürzen, die sie nicht leiden können? Das erscheint mir eher unwahrscheinlich.
"Blätter":Weshalb?
Kupchan: Die Neokonservativen würden das gern tun. Aber ich bin mir nicht sicher, dass sie auch die Macht hätten, das Land dabei hinter sich zu bringen. Zum einen lassen sich Risse innerhalb der Bush-Administration zwischen Neokonservativen und traditionellen Konservativen erkennen, etwa zwischen Rumsfeld und Powell, zum anderen wird der Druck seiner Wahlkampfmanager dafür sorgen, dass Bush sich den Kriegserfolg in die Tasche steckt und sich mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2004 der innenpolitischen Agenda zuwendet.
"Blätter": Sie teilen also nicht die Annahme, der Sieg im Irak eröffne eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten.
Kupchan: Nein. Die Position der Neokonservativen ist insofern gestärkt, als der Krieg als Erfolg gewertet wird und für eine gewisse Bereitschaft sorgt, weitere Operationen einzuleiten, wenn das für nötig erachtet werden sollte. Wir stehen aber nicht am Beginn eines neuen imperialistischen Zeitalters. Die amerikanische Politik und die politische Kultur des Landes sind grundsätzlich unvereinbar mit der Idee eines Empire. Amerika wird das gewaltsame Eindringen amerikanischer Truppen in ein Land nach dem nächsten und deren anschließende langwierige Besetzung nicht mittragen.
"Blätter": Aber jene Kräfte, die für die Beseitigung unliebsamer Regime plädieren, scheinen in Washington einigen Einfluss zu besitzen.
Kupchan: Diejenigen, die außenpolitisch am Ruder sitzen, sind die Neokonservativen. Sie führten den Krieg gegen den Irak, setzten ihn daheim in Szene und siegten. Was aber mit dem Irak nach Saddam Hussein geschehen soll, ist eine ungleich kompliziertere Frage. Schon jetzt gibt es sehr, sehr ernste Auseinandersetzungen, wer das Land regieren und wie lange die amerikanische Streitmacht bleiben soll. Was tun, wenn Islamisten eine Wahl gewinnen oder in bestimmten Landesteilen an die Macht gelangen? Über solche und ähnliche Fragen wird es zu heftigen Konflikten in der Bush-Administration kommen, weil heartland America und pragmatische Konservative wie Donald Rumsfeld kaum aus dem Irak eine liberale Demokratie machen wollen. Das wollen die Neokonservativen, aber mit solchen Ambitionen stünden sie allein da.
"Blätter": Und was will Rumsfeld?
Kupchan: Er will Sicherheit für Amerika, das Wohlergehen der Bürger des Landes, militärische Überlegenheit. Aber er ist kein Ideologe wie Wolfowitz.
"Blätter": Deutsche Kritiker haben es nicht ganz leicht. Man will unterscheiden: Kritik an Bush und seiner Politik – aber nicht an Amerika als Ganzem. Andererseits gehen viele Amerikaner mit ihrem Präsidenten konform. 2002 sorgte eine Mehrheit für einen republikanisch dominierten Kongress, und für den Irakkrieg machte sich ein großer Teil der Öffentlichkeit stark. Wie sollen wir Amerika sehen? Ist das Land konservativer geworden oder sind es vornehmlich die Eliten?
Kupchan: Beide ein bisschen. Die Hälfte derjenigen, die gewählt haben, stimmte für Bush. Er spricht für einen bedeutenden Teil Amerikas, für das "mittlere Amerika", das ein Stück weit populistischer und weniger intellektuell ist als die Küstenregionen. Dennoch glaube ich nicht, dass die Politik der Bush-Administration für den amerikanischen Mainstream steht. Das ist die Politik einer relativ kleinen Clique von Neokonservativen, der es aus verschiedenen Gründen gelungen ist, das Steuer in der Außenpolitik zu übernehmen.
Eine andere bedenkliche Entwicklung besteht darin, in welchem Umfang anti-amerikanische Einstellungen in Europa und anti-europäische in Amerika in den breiteren politischen Diskurs eingeflossen sind. In Deutschland beispielsweise sind es nicht einfach nur Kommentatoren, die in den Zeitungen George W. Bush kritisieren. Es handelt sich um ein ganzes Land, das in bemerkenswerter Einigkeit hinter Schröders Aufruf steht, sich gegen die Vereinigten Staaten zu stellen und die EU als Gegengewicht zu Amerika zu betrachten. Hierzulande finden sich Leute, die Lebensmittel umbenennen.
Aus French fries [Pommes frites] werden kurzerhand freedom fries. Französische Restaurants machen dicht, weil niemand mehr dort essen will. Der Riss, der in erster Linie Politik und Eliten betrifft, wird so zu einer breiteren politisch- kulturellen Kraft. Ich halte das mit Blick auf die zukünftige Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa für beunruhigend.
"Blätter": Aber sind freedom fries und ähnliche Geschichten nicht einfach nur albern?
Kupchan: Für mich zeigt das, dass die Spaltung zwischen Amerika und Europa tiefere gesellschaftliche Wurzeln hat. Der beste Indikator ist der Bundeskanzler, der dazu aufruft, sich von Amerika zu distanzieren. Das lässt erkennen, dass die anti-amerikanische Haltung bedeutende politische Weiterungen zeitigt.
"Blätter": Wie wichtig ist die Unterstützung, die Bush vom "großen Geld" erhält? Unter Clinton haben Aktionäre und Unternehmen blendend verdient, durchlebten glückliche Zeiten. Dennoch bekam Bush im Jahr 2000 jede Menge Finanzhilfe. Inzwischen stapelt er schon die Beträge für die nächste campaign. Und er hat ein Freispiel in vielen der maßgeblichen Medien.
Kupchan: Die Unternehmen haben eine Vorliebe für die Republikaner und besonders für solche, die Steuern senken. Zum Teil hängt die Unterstützung auch damit zusammen, dass es Bush verstanden hat, sich als Präsident der nationalen Sicherheit darzustellen. An dieser Front sind die Demokraten weniger effektiv. Aber in Wirtschaftskreisen macht sich inzwischen eine gewisse Unruhe breit über die Folgen von Bushs Außenpolitik. Man sorgt sich über den Verlust von Einnahmequellen in Europa, darüber dass dort eines Tages keiner mehr Coca Cola oder Boeing kaufen könnte. Das Council on Foreign Relations hat mittlerweile eine Task Force zu den transatlantischen Beziehungen eingerichtet. In der außenpolitischen community von Washington und New York dürfte die Meinung vorherrschen, dass zwischen Amerika und Europa ein tiefer Riss verläuft, wie es ihn seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gab.
Eine einheitliche Politik des Westens gibt es nicht mehr
"Blätter": Aber musste das nicht irgendwann nach dem Ende des Kalten Krieges so kommen – als eine quasi natürliche Entwicklung?
Kupchan: Richtig. Die Schlüsselfrage lautet nicht ob, sondern wann. Und wenn manche meinen, dass auch ohne Kalten Krieg der Westen auf Grund geteilter Werte und Institutionen fortbesteht, dass auch ein autonomeres Europa den Westen nicht auseinander fallen lässt – ich teile diese Sicht nicht.
"Blätter": Inwiefern zerbricht der Westen?
Kupchan: Eine einheitliche Politik des Westens, die sich als solche versteht, gibt es nicht mehr. Die gemeinsame westliche Identität, dieses Wir-Gefühl, droht in Stücke zu gehen, obgleich Amerika und Europa nach wie vor viel gemeinsam haben. Die kollektive Identität, die beide während des Kalten Krieges teilten, ist gefährdet.
"Blätter": Diese Identität definierte sich über den Feind ...
Kupchan: ... und auch über eine gemeinsame politische Plattform, über vielfältige Zusammenarbeit, über eine Kooperation im engen Verbund. Je öfter Amerika und Europa bei einer Sache unterschiedliche Positionen einnehmen, desto schwieriger wird es, die gemeinsame Identität zu erhalten.
"Blätter": Zwischen den Vereinigten Staaten und Europa werden eine Menge hässlicher Worte gewechselt. Worin bestehen denn die wirklichen Differenzen?
Kupchan: Es gibt gesellschaftliche Unterschiede, die mit verschiedenen Formen des Kapitalismus zusammenhängen, aber die sind weder neu noch zentral. Meines Erachtens geht es um politische Auseinandersetzungen, bei denen jeweils ureigene Interessen tangiert sind. Amerikaner und Europa haben, vor allem im Gefolge des 11. September, unterschiedliche Auffassungen über die Unmittelbarkeit der Gefahr des Terrorismus und über Massenvernichtungswaffen. Sie haben unterschiedliche Auffassungen was den Umgang mit der muslimischen Welt und den arabisch-israelischen Konflikt anbelangt. Auch in wirtschaftlichen Dingen wird das Verhältnis gespannter. Als ganz schwierig dürften sich in Zukunft die Euro-Dollar-Beziehungen erweisen. Der Wert des Euro ist gegenüber dem Dollar im Verlauf des letzten Jahres beständig gestiegen. Staaten und Privatanleger könnte das veranlassen, bei Rücklagen und Investitionen dem Euro den Vorzug vor dem Dollar einzuräumen. Das würde einen Kapitalabfluss aus Amerika bedeuten. Und das hätte schwerwiegende Folgen für das Land, das extrem abhängig von ausländischem Kapital ist. Das Land muss seinen way of life finanzieren, sein Handelsbilanzdefizit ausgleichen, es liebt den Konsum und hasst es zu sparen. Deshalb haben sich Investoren Amerika als Investitionsort ausgesucht, sie lieben den Dollar und seine Stabilität. Wenn das nicht so bleibt, werden sich die Dinge gründlich ändern.
"Blätter": Einige Angehörige der Bush-Administration lassen sich ausgesprochen abfällig über Europa aus, drohen mit einer Bestrafung, sprechen von europäischen Staaten als Ländern zweiter Klasse. Manche Politiker und Intellektuelle tun so, als bräuchten die Vereinigten Staaten Europa nicht, als würden die ökonomischen Faktoren nicht existieren.
Kupchan: Im Bush-Team herrscht die Überzeugung vor, dass Europa irrelevant sei, mehr noch: lästig. Es stelle sich in den Weg, versuche die USA zu blockieren wie Frankreich, Deutschland und Russland im Sicherheitsrat. In der Administration ist die Ansicht nicht sehr verbreitet, dass die Vereinigten Staaten Europa als Partner benötigen, deshalb erleben wir dieses Gemisch aus Abtun und Neid.
"Blätter": Diese Art des Denkens hat mit der Wirklichkeit nicht mehr allzu viel zu tun.
Kupchan: Richtig. Es ist das Resultat einer Weltsicht, die die Bedeutung militärischer Suprematie maßlos überschätzt und umgekehrt nicht richtig zu würdigen weiß, in welchem Umfang internationale Politik tagtäglich mittels Diplomatie, Handel und Währungsbeziehungen gemacht wird. Genau das ist es, was die Europäer ärgert und mit zur Auflösung des Westens beiträgt.
"Blätter": Um auf Ihr Buch vom Ende der amerikanischen Ära zurückzukommen. Gibt es einen Staat, eine Staatenkoalition oder eine Institution, die an die Stelle Amerikas treten könnte?
Kupchan: Nein, nicht auftauchen im Sinne eines neuen Herausforderers, der Amerika überholt. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, die ausgesprochen kompliziert sein wird. Die nächste Welt wird weder unipolar noch bipolar sein, sondern etwas dazwischen. Es gibt die Rundum-Supermacht Amerika und den Pol Europa, der zwar politisches und ökonomisches Gewicht hat, aber nicht über eine militärische Streitmacht verfügt, die der amerikanischen das Wasser reichen könnte. Wenn mit China eine weitere militärische Supermacht auf der Bühne erscheint, 2015 oder 2020, erleben wir eine wirklich multipolare Welt.
Eine andere in diesem Zusammenhang bedeutsame Entwicklung ist die nachlassende Bereitschaft Amerikas, weiterhin die Lasten zu tragen, die es heute schultert. Nicht weil die Amerikaner isolationistisch würden, sondern als Reaktion auf den Anti-Amerikanismus. Die USA hatten seit dem Zweiten Weltkrieg überall auf der Welt Truppen, wo sie willkommen waren. Auf antiamerikanische Proteste in Bagdad, in Seoul, vielleicht in Berlin werden die Amerikaner irgendwann reagieren: Wenn ihr uns nicht wollt, dann gehen wir eben.
"Blätter": Aber die militärische Präsenz hat doch zur wirtschaftlichen Stärke der Vereinigten Staaten beigetragen.
Kupchan: Hat sie. Am wenigsten allerdings in Europa, wo der Handel mit den USA im beiderseitigen Interesse liegt und nicht etwa auf der Präsenz amerikanischer Truppen beruht.
"Blätter": Wenn die Wirtschaftsbeziehungen gut funktionieren, warum dann diese Misstöne?
Kupchan: Würden übereinstimmende Interessen und Rationalität immer und überall den Ausschlag geben, gäbe es keine Kriege. Aber manches läuft eben schief. Tagespolitische Entscheidungen können, durchaus ungewollt, Interessenidentäten in den Hintergrund abdrängen.
"Blätter": Wenn Amerika und Europa in puncto Irak auseinander drifteten, war das also ein Symptom und nicht die Ursache der Spannungen?
Die transatlantische Kluft hat strukturelle Ursachen
Kupchan: Ja. In den letzten Jahren haben die Vereinigten Staaten und Europa einen unterschiedlichen Kurs verfolgt und verschiedene Wege eingeschlagen. Der Irakkrieg beförderte diese Differenzen an die Oberfläche, Differenzen über den Kampf gegen den Terrorismus, darüber, ob wir eine neue präemptive Doktrin brauchen. Dabei wuchs die Bereitschaft der Europäer, den USA zu widersprechen.
"Blätter": Die transatlantische Kluft ist also keine reine Bush-Sache.
Kupchan: Richtig. Es geht auch um Strukturen: Ende des Kalten Krieges, nachlassendes amerikanisches Interesse, sich um Europa zu kümmern, dazu die schrittweise Einigung Europas, dessen zunehmende Vergemeinschaftung und Entschlossenheit, aus dem Schatten Amerikas herauszutreten. Fügt man zu diesen strukturellen Veränderungen einen eher situativen Faktor wie George W. Bush hinzu, also dessen unilateralistische und neokonservativ ausgelegte Politik, so ergibt sich eine ausgesprochen explosive Mixtur.
"Blätter": Was sollte von der alten westlichen Einheit erhalten bleiben, und wie muss sich Europa verhalten, um das zu bewahren, was bewahrenswert ist?
Kupchan: Die amerikanisch-europäische Partnerschaft war der Anker des internationalen Systems seit 1945, die Zusammenarbeit bei der Öffnung des Welthandels, bei der Verbreitung der Demokratie, bei der Abwehr von Aggression, ob im Kosovo oder anderswo. Diese Partnerschaft steht auf der Kippe. Soll sie eine Fortsetzung finden, muss sie in ihre Elemente zerlegt und in neuer Form zusammengesetzt werden. Es ist ein Fehler zu versuchen, zu den alten transatlantischen Beziehungen zurückzukehren. Unmöglich. Vorbei. Was wir zur Entwicklung einer neuen Partnerschaft brauchen, ist ein Amerika, das für sich den Multilateralismus wiederentdeckt und erkennt, dass ihm Europa fehlt, und ein Europa, das sich als ein verlässlicher Partner erweist.
"Blätter": Das bedeutet?
Kupchan: Dass Europa zunehmend mit einer Stimme spricht, vielleicht irgendwann einen einzigen Außenminister hat, eine seriöse Außenpolitik verfolgt und über bestimmte militärische Kapazitäten verfügt, die einsatzfähig sind. Nicht zehn Flugzeugträgerverbände, die auf die koreanische Halbinsel verschickt werden könnten, sondern eine ansehnliche Schnelle Eingreiftruppe, die bedeutende Missionen innerhalb Europa auszuführen im Stande ist. Derzeit steckt Europa irgendwo im Niemandsland: zu stark, um Lakai der Vereinigten Staaten zu sein, zu schwach, um einen ernsthaften Partner abzugeben.
"Blätter": Also die alte Geschichte, dass sich die Europäer gern über die USA beklagen, doch in bestimmten Situationen immer wieder auf sie zurückkommen.
Kupchan: Genau darum stecken wir derzeit in so einem Schlamassel. Die Europäer sind emotional und intellektuell nicht bereit, den nächsten Schritt zu tun, zu Hause auszuziehen und ans College zu gehen. In Deutschland werden viele sagen: Mein Gott, was haben wir getan? Warum sind wir mit Chirac gegangen? Sind wir wirklich bereit zu einem Leben nach der Pax Americana? Andere sagen: Ja, lasst uns das jetzt durchziehen. Aber das ist ein riesiger Schritt. Deutschland hat seit 1945 unter dem amerikanischen Schirm gelebt.
"Blätter": Vielleicht war Deutschland ein guter Schüler der Amerikaner.
Kupchan: Deutschland war ein sehr guter Schüler, und auch darum ist die Sache so angstbesetzt. Sie berührt den Kern der deutschen Identität, den Kern Europas.
"Blätter": Sie schicken Deutschland aufs College. Welche Kurse soll es belegen?
Kupchan (lacht): Manche sind der Meinung, die EU sollte einfach Zivilmacht sein; das mache ihre Stärke aus. Ich glaube das nicht. Ich meine, dass sich die EU etwas von dem traditionellen geopolitischen Charakter aneignen sollte. Vor allem Deutschland sollte einfach unbeschwerter diese Fähigkeit wieder erwerben. Das heißt, sich von der Wehrpflichtarmee zu verabschieden, eine Berufsarmee aufzubauen und ungezwungener eine geopolitische Rolle zu spielen.
"Blätter": Und die Vereinigten Staaten?
Kupchan: Die USA werden mehr Einfluss haben, wenn sie ihre Macht nicht so herausstellen, wenn sie stattdessen die Hand ausstrecken und mehr Partnerschaften mit ihrem zentralen Bündnispartner bilden, und das ist nun mal Europa.
"Blätter": Während die Vereinigten Staaten und Europa streiten, fallen andere wichtige Dinge unter den Tisch: ökologische Probleme oder die Armut in weiten Teilen der Dritten Welt.
Kupchan: Gerade deshalb müssen die USA und Europa wieder zusammenfinden. Ohne deren Kooperation bewegt sich bei diesen Dingen nichts. Wir müssen herausfinden, wie diese neue Beziehung aussehen soll, und einen Plan entwerfen, wie wir dorthin gelangen.
"Blätter": Solange George W. Bush im Amt ist, wird das nicht passieren.
Kupchan: Es besteht in der Tat wenig Anlass anzunehmen, dass Amerika Kurs nimmt auf eine solche neue Partnerschaft. Aber es gibt bestimmte Politiken und Einstellungen, die sich die Vereinigten Staaten zu Eigen gemacht haben, an die sich Europa gewöhnen und wo es mitziehen sollte. Beispiel Präemption.
Hinter Bushs Besorgnis über Massenvernichtungswaffen, über Raketen mit atomaren oder Sprengköpfen, die biologische Kampfstoffe enthalten, steckt eine gewisse Logik. Deshalb ist Europa schlecht beraten, wenn es solche Fragen rundweg abtut. Die Schlüsselfrage wird sein, wie man die Europäer dazu bringt, diese Dinge ernster zu nehmen.
"Blätter": Einspruch. Bush geht es nicht um Präemption, sondern um Präventivkrieg.
Kupchan: Sie haben Recht. Bush spricht zwar von Präemption, aber tatsächlich ist der präventive Krieg gemeint.
"Blätter": Sollte sich Europa daran gewöhnen?
Kupchan: Nein. Aber Europa sollte anfangen ernst zu nehmen, dass es da draußen hässliche Waffen gibt, die in die falschen Hände gelangen können, dass ein schrecklicher terroristischer Angriff nicht nur in New York, sondern auch in Berlin geschehen kann. Was tun? Ich habe keine Patentantwort, aber wir müssen dahin kommen, dass ein zentraler Punkt einer neuen amerikanisch- europäischen Partnerschaft jenen Bedrohungen gewidmet ist. Das kann auf eine Neufassung von Artikel 51 der UN-Charta hinauslaufen oder darauf, sich intensiver mit der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Aufklärung zu befassen.
"Blätter": Das bedeutet eine Stärkung internationaler Institutionen.
Kupchan: Manches davon mag solche Institutionen betreffen, manches rechtliche Fragen, manches mag neue Formen nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit erforderlich machen. Aber in der Welt nach dem 11. September kann niemand selbstgefällig über diese Dinge hinweggehen. Sehen Sie, was in Nordkorea passiert. Dort werden die Plutoniumstäbe wieder aufbereitet. Das Land ist möglicherweise bald im Stande sechs Atombomben pro Jahr zu bauen und könnte ein nuklearer Billig-Supermarkt werden. Den Kopf in den Sand zu stecken und zu verkünden, dass es nichts gibt, wovor wir uns fürchten müssten, nützt niemandem.
"Blätter": Das sind also die College-Kurse für die Europäer.
Kupchan: So ist es.