Ausgabe Oktober 2005

Kanzler- versus Parlamentsdemokratie

Plädoyer für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages

Bis vier Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl stand nicht fest, ob diese überhaupt stattfinden würde. Dabei lief der Wahlkampf längst auf vollen Touren. Erst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem Urteil vom 25. August beseitigte die Zweifel – und löste umgehend neue, nämlich an der eigenen Entscheidung aus. Die von Gerhard Schröder am Abend der verlorenen NRW-Wahl reklamierte Regierungskrise verursachte somit vor allem eines: eine „Verfassungskrise“.

Die Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG vom August 2005 über die Verfassungskonformität der von Bundespräsident Horst Köhler verfügten Bundestagsauflösung war überraschend eindeutig: Aus seiner Sicht wurden die Rechte der Abgeordneten dadurch ebenso wenig verletzt wie die kleinerer Parteien. (1) Ganz auf der Linie, aber auch in Präzisierung des viel gescholtenen Urteils von 1983 stärkte das Gericht die Einschätzungsprärogative des Bundeskanzlers; es bestätigte die Rolle des Bundespräsidenten und nahm zugleich seine eigene Prüfkompetenz zurück. (2) Karlsruhe erklärte damit auch ein „gefühltes Misstrauen“ und eine „unechte Vertrauensfrage“ des Bundeskanzlers für zulässig.

Demgegenüber zeigte das Minderheitenvotum des Richters Hans-Joachim Jentzsch noch einmal die reine Lehre auf und lieferte eine stringente Begründung dafür, wie das Gericht Neuwahlen hätte ausschließen können – wenn es dies gewollt hätte.

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