Ausgabe Oktober 2009

Leipzig, 9. Oktober '89: Der Wendepunkt

Wenn Besucher in den Revolutionsjahren 1989 und 1990 nach Leipzig kamen, konnten sie auf den Ortsschildern der sächsischen Messemetropole die Worte „Heldenstadt der DDR“ lesen. Heute erinnert sich kaum jemand mehr an diesen Namenszusatz der Stadt, in der am 9. Oktober vor 20 Jahren Kerzen über Panzer siegten und das DDR-Regime vor dem eigenen Volk kapitulieren musste. Politiker aller Parteien regten bereits mehrfach an, diesen Tag mehr zu würdigen. „Leipzig, am 9. Oktober 1989, war der Wendepunkt. Sollte man das nicht feiern, weit über diese Stadt hinaus? Im ganzen Land!“, forderte Wolfgang Thierse bereits vor fünf Jahren in der Leipziger Nikolaikirche. Eine Forderung, die bis heute nichts an ihrer Berechtigung eingebüßt hat.

Was geschah an jenem 9. Oktober? 1 An die 70 000 Menschen nahmen im Anschluss an die bereits seit dem Frühherbst 1982 in der Leipziger Nikolaikirche stattfindenden Friedensgebete nicht den Weg nach Hause, sondern verharrten auf den Straßen im Zentrum. Eine merkwürdige, nervöse Stimmung herrschte an diesem Abend, die Stimmen waren gedämpft, überall bildeten sich kleinere und größere Menschenansammlungen. Entschlossenheit lag in der Luft, aber mehr noch Angst und Ungewissheit. Leipziger Intellektuelle, der Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Theologe Peter Zimmermann und die drei Leipziger SED-Parteisekretäre Roland Wötzel, Kurt Meyer und Jochen Pommert riefen über den Stadtfunk zur Friedlichkeit auf und was alle überraschte: Es blieb friedlich. Nicht die „chinesische Lösung“, also ein Massaker am eigenen Volk, sondern der Leipziger Weg setzte sich durch.

„Neues Forum zulassen“ und „Wir sind das Volk“ schallte es über den Leipziger Stadtring, die Bilder gingen um die Welt, der Weg zurück war verbaut. Was den Sicherheitskräften in den Wochen zuvor noch gelungen war – Demonstrationen im Anschluss an die Friedensgebete durch massiven Einsatz auseinanderzutreiben und Demonstranten festzunehmen – scheiterte nun an der Zivilcourage und der Friedlichkeit der Leipziger. Ein Mythos war geboren: die Leipziger Montagsdemonstration. „Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Gebeten und Kerzen“, lässt Regisseur Frank Beyer den Stasi-Oberst Bracher in „Nikolaikirche“ – der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Loest – sagen. Die tot geglaubte und heute auch gern totgesagte ostdeutsche Zivilgesellschaft hat sich in Leipzig ihren eigenen Gründungsmythos geschaffen, friedliche Massendemonstrationen in der gesamten DDR folgten, der Rest ist Geschichte.

War der 9. Oktober 1989 deshalb zugleich der Tag der Entscheidung, der Tag, der Deutschland veränderte? 2 Gab es nicht vorher auch in Plauen bereits eine friedliche Demonstration oder die Proteste in Berlin zum 40. Jahrestag der DDR, die heftigen Auseinandersetzungen am Dresdener Hauptbahnhof, die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration Anfang des Jahres in Berlin? Ist es nicht vielmehr eine von DDR-Oppositionellen angeschobene und beförderte lineare Entwicklung gewesen – die mit den Gründungsaufrufen des Neuen Forums oder der Gründung der ostdeutschen Sozialdemokratie die ersten wichtigen Schlaglichter markierte –, die schließlich in Leipzig kulminierte? Waren es überdies nicht die Entwicklungen in Polen, Gorbatschows Perestroika und Glasnost oder die davon inspirierte Grenzöffnung Ungarns durch Gyula Horn, gar der drohende Bankrott der DDR-Wirtschaft, die den Anfang vom Ende der DDR eingeläutet hatten?

Es erscheint müßig, das exakte Datum, das entscheidende Ereignis für die friedliche Revolution zu fixieren, denn vieles spricht dafür, dass die genannten Ereignisse und viele andere Nadelstiche in summa das System letztlich zum Einsturz brachten. Und doch ist der 9. Oktober 1989 der entscheidende Tag, von dem aus es kein Zurück mehr gab – in seiner Bedeutung für die ostdeutsche Revolution vergleichbar mit der Erstürmung der Bastille 1789.

Denn an jenem Abend zog sich die alte Herrschaftselite erstmals und vor den Augen der Welt öffentlich zurück, gelang es zehntausenden Demonstranten vor laufender Kamera, den Herrschenden das Gewaltmonopol zu entreißen und auf den eigentlichen Souverän – das Volk – zu übertragen. Unter der Losung „Wir sind das Volk“ entschieden die Demonstranten von Leipzig die von den Machthabern ausgerufene Machtfrage für sich – gegen die Ankündigung des Kampfgruppenkommandeurs Günter Lutz in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Oktober 1989, die DDR „wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand“ zu verteidigen. Trotzdem behielten sich die Sicherheitsorgane bis in den November hinein die Möglichkeit vor, doch noch einzugreifen. Aber die rasante Zunahme an Demonstrationsteilnehmern und -orten machte diese Pläne immer unrealistischer.

Von der Freiheit zur Einheit

Und doch bleibt die Bedeutung des 9. Oktobers 1989 in der Geschichte des vereinten Deutschland häufig unterbelichtet – wohl auch deshalb, weil an diesem Abend noch nicht vom vereinten Deutschland die Rede war. Doch schließlich folgten auch die Forderungen auf den Straßen der Republik einer eigenen Dynamik, die die Zielrichtung der Revolution zunehmend veränderte, verschob und monolithisch in Richtung Einheit kanalisierte.

Inzwischen sind die schlechten Kamerabilder des 9. Oktober ersetzt worden durch die medial besser in Szene gesetzte größte Demonstration in der Geschichte der DDR am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und die Öffnung der Mauer nur wenige Tage später. Doch waren diese Eruptionen schon die ersten Kinder der Revolution, die Bestätigung der Leipziger Ereignisse. 3

Doch selbst in Leipzig ist man sich der eigenen historischen Leistung nicht mehr so sicher. Lediglich eine deplatziert wirkende Säule auf dem Nikolaikirchhof erinnert an die erste friedliche Großdemonstration, die Aufschriften „Heldenstadt der DDR“ sind aus der Öffentlichkeit verschwunden und nur noch auf Fotos in Museen zu bestaunen. Ein angemessener Ort der Erinnerung ist bis heute nicht zu finden.

Auch auf der bundesdeutschen Erinnerungslandkarte haben sich die Koordinaten des Gedenkens in Richtung „Einheit“ verschoben. Gedacht werden sollte, so das Ursprungskonzept des umstrittenen Einheits- und Freiheitsdenkmals in Berlin, beiden Ereignissen – der Freiheitsgewinnung auf ostdeutschen Straßen und der Herstellung der nationalen Einheit zugleich – sozusagen aus einem (und in einem) Guss. 4

Dies führt in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings dazu, dass die Revolution nicht mehr als emanzipatorische Freiheitsrevolution erinnert wird, sondern als nachholende Konsumrevolte mit der Zielrichtung Einheit: des Landes, der Währung, der Konsumption.

Dem Vergessen entreißen

Der Ursprungsfehler des gesamten Denkmalskonzepts liegt in der Verkettung zweier Ereignisse, die eigentlich eine getrennte Würdigung finden müssten: Freiheit und Einheit. Denn am Anfang der Revolution stand der Ausspruch: „Wir sind das Volk“, und nur der steht für Freiheit. Freiheit und Einheit sind mithin nicht ein Geschwisterpaar, sondern Mutter und Tochter.

Der 9. Oktober 1989 besiegelte nicht das Ende der DDR. An diesem Tag begann auch nicht die in Ostdeutschland heute teils als erniedrigend empfundene Bilderflut über den ostdeutschen Nachholkonsum infolge der Maueröffnung. Der 9. Oktober war der Tag des Aufbruchs in eine andere, demokratischere DDR, der ostdeutschen Befreiung von der Allmacht der SED-Diktatur und damit der Beginn einer originär ostdeutschen Bewegung in Richtung Demokratie, die, bis auf wenige Ausnahmen, von fast allen gewünscht wurde – von Oppositionellen, von der Bevölkerung, selbst von Teilen der SED. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ schufen sich die Ostdeutschen das Pendant zur Losung von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution. Doch was in Frankreich bis heute bedeutender Teil der politischen Kultur, des eigenen historischen Selbstverständnisses ist, erweckt im vereinten Deutschland meist nur noch resigniertes Achselzucken. Hätte es anstelle der Deutschen Einheit eine demokratische DDR gegeben, wäre der 9. Oktober wohl längst ein Feiertag.

Die Zielrichtung Einheit war mit den ersten Montagsdemonstrationen zumindest noch nicht vorgezeichnet. Mithin ist der 9. Oktober 1989 zwar in seinen Auswirkungen ein Tag von gesamtdeutscher, gar europäischer Bedeutung, gleichwohl keine gesamtdeutsche, sondern eine originär ostdeutsche Leistung, die ganz ohne bundesrepublikanisches Zutun zustande gekommen war. Denn nicht Helmut Kohl, nicht der Westen zwangen die SED-Diktatur im Oktober 1989 in die Knie, sondern das ostdeutsche Volk.

Doch bis heute findet der Tag der ersten friedlichen Großdemonstration in Leipzig kaum eine angemessene historische Anerkennung, auch weil die Suche nach einem Datum, das die Deutschen und insbesondere die Ostdeutschen an die Revolutionseuphorie erinnern soll, von dem Gedanken beseelt ist, einen gesamtdeutsch relevanten Nationalfeiertag zu küren. Für einen Tag, der an ein rein ostdeutsches Ereignis erinnert, scheint sich keine (politische) Mehrheit finden zu lassen.

In Zeiten des Kalten Krieges war dies noch einfacher. Der 17. Juni, der Tag des Volksaufstandes in der DDR 1953, war in dieser Hinsicht ein probates Kunstprodukt – ein Tag, an dem westdeutsche Arbeitnehmer frei hatten, vielfach ohne zu wissen warum. Doch auch der 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit kann ob seiner Künstlichkeit keine Sympathien gewinnen, auch weil mit dem Tag der deutschen Einheit zugleich immer die vielen Fehler der Einheit mitverhandelt und die Probleme in Ostdeutschland assoziiert werden.

Zugleich erscheint auch der mitunter vorgeschlagene 9. November als deutscher Feier- und Gedenktag wenig geeignet. Denn der originär ostdeutschen Revolution würde ein Tag nicht gerecht, dessen ostdeutscher Anteil lediglich in der Öffnung der Mauer durch das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski besteht. Am 9. November handelte, scheinbar unkoordiniert, ein letztes Mal der bereits in Leipzig entmachtete alte Souverän, den der neue Souverän – das Volk – allerdings noch am selben Abend an der Berliner Mauer zwang, diesen Rückzug zu beschleunigen.

Mit dem 9. Oktober 1989 dagegen hat sich die ostdeutsche Bevölkerung symbolisch und unumkehrbar aus den Jahren der Diktatur befreit, folgten die Bürgerinnen und Bürger der DDR der Opposition heraus aus den Nischen in die Öffentlichkeit. Mithin ist der 9. Oktober der Endpunkt der SED-Herrschaft und zugleich die Geburtsstunde der Freiheit in Ostdeutschland – zweifelsohne ein Jubeltag der deutschen Geschichte, wenngleich ein inzwischen verschütteter. Diesen Tag wieder „auszugraben“, mithin die Bedeutung dieses Tages für die Deutschen – Ost wie West – wieder ins Bewusstsein zu rücken und gebührend zu würdigen, wäre eine wichtige Aufgabe im 20. Jahr der friedlichen Revolution von 1989.

 

1 Zum genauen Ablauf der Ereignisse vgl. Tobias Hollitzer, Der friedliche Verlauf des 9. Oktober 1989 in Leipzig – Kapitulation oder Reformbereitschaft? In: Günther Heydemann, Gunther Mai und Werner Müller (Hg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999, S. 247-288.

2 Vgl. Ekkehard Kuhn, Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989, Berlin 1992; Martin Jankowski, Der Tag, der Deutschland veränderte – 9. Oktober 1989, Leipzig 2008.

3 Vgl. Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 234.

4 Vgl. zum Entwurf www.freiheits-und-einheitsdenkmal.de.

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