Ausgabe September 2010

Die Lektion des Leninismus

Als die herrschende Politik den Kommunismus 1989 endgültig zum Unwort erklärte, erhielt er postwendend, doch zunächst unbemerkt, Asyl in der Philosophie. Den Anfang machte Jacques Derrida, ihm folgten Toni Negri, Michael Hardt, Jacques Rancière, Alain Badiou, Slavoj Žižek und andere. Hardt und Negris „Empire“ markierte die offensive Wendung, und heute meldet das Feuilleton, dass die Jugend den Philosophen „die Türen einrennt.“[1]

Wie dagegen ein Antikommunismus vorgeht, der diesem Phänomen Einhalt gebieten will, zeigt in der August-
Ausgabe der „Blätter“ Micha Brumlik.[2] Mit den von ihm als „Neoleninisten“ bezeichneten Philosophen teilt Brumlik die Diagnose, dass wir unter „postdemokratischen“ Bedingungen leben. Darunter ist eine Situation zu verstehen, in der die Demokratie zugleich absolut und leer geworden ist, weil – so Rancière – der „Streit des Volkes liquidiert“ und damit der Demos selbst passiviert wurde. Dies geschah in drei Zügen. Im ersten Zug wurden, in gewissen Grenzen unvermeidlich, die kollektive Willensbildung des Demos und die selbsttätige Äußerung dieses Willens, also der eigentliche demokratische Akt, in Apparaten und Prozeduren festgestellt und verregelt, die ihn zu „vertreten“ vorgaben.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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