Ausgabe Juni 2011

Die Dekade der Angst

Die Tötung Osama bin Ladens hat schlagartig die Bilder von 9/11 ins Gedächtnis gerufen und damit auch die Tatsache, welch globalen Einschnitt der 11. September 2001 bedeutete – für die islamische Welt, aber auch und besonders für ihre Wahrnehmung im Westen. Angesichts der aktuellen Bilder aus Tunesien und Ägypten, aus Libyen und Syrien, wo Hunderttausende für ihre demokratischen, individuellen Menschenrechte auf die Straße gehen und dafür nicht selten den Tod riskieren, erscheint es wie eine tragische Posse, dass die ganze arabische Welt fast zehn Jahre lang – eben seit 9/11 – im Westen nur unter dem Vorzeichen von Terror und fundamentalistischer religiöser Gewalt wahrgenommen wurde.

9/11 bedeutete eine Zäsur auch für den Westen. Mit dem 11. September begann eine Politik der Angst, von der sich der Westen insgesamt und insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika bis heute nicht erholt haben.

Von Osama bin Laden als Wiedergänger Hitlers oder Stalins war nach 9/11 umgehend zu hören, von „Islamo-Faschismus“ und der Wiederkehr des „absolut Bösen“. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass das „Time Magazine“ seine Ausgabe zum Tode bin Ladens in exakt derselben Weise betitelte wie nach dem Tode Adolf Hitlers – mit dem Kreuz über dem Konterfei zum Ausdruck der Auslöschung. „Wir haben es mit einem Gegner zu tun, der im Schatten lauert, einem Gegner, der keine Verträge unterschreibt, der keine Uniform trägt“, kommentierte Alberto Gonzales, Rechtsberater von Präsident Bush, die terroristische Gefahr. „Es ist ein Gegner, der sich keinem Land verpflichtet fühlt, der das Leben nicht liebt. Es ist ein Gegner, der nicht nach den allgemein akzeptierten Regeln der Kriegführung kämpft, angreift oder plant und sich vor allem nicht an die Genfer Konvention hält.“[1] Wie viele persönliche Ängste in diesen Sätzen nisten, ist schwer zu sagen. In jedem Fall präsentiert sich die amerikanische Gesellschaft seit nunmehr zehn Jahren als nervöses, verängstigtes Kollektiv.

Im August 2003 schätzten 75 Prozent der vom Pew Research Center Befragten die Gefährdung durch den Terrorismus höher ein als die einst vom Kalten Krieg ausgehenden Gefahren. Und über sieben Jahre hinweg blieb, von geringfügigen Schwankungen abgesehen, dieses Bedrohungsgefühl konstant hoch. Den politischen Gewinn hatte bis zum Ende seiner Amtszeit George W. Bush: Vier von fünf Befragten, die Mitte 2002 die Arbeit der Regierung positiv bewerteten, nannten Angst vor dem Terror als eines ihrer wichtigsten Motive. Angesichts dessen drängt sich die Vermutung auf, dass Bush nicht trotz, sondern gerade wegen seiner skrupellosen Bekämpfung des Terrors im Amt bestätigt wurde – weil er Terroristen ihre eigene Medizin verabreichte und damit jenseits von Parteigrenzen einer diffusen Stimmung im eigenen Land Ausdruck und Richtung gab. Während in allen zentralen Politikbereichen wie Wirtschaft, Gesundheit und Soziales die Zustimmung zur Regierungspolitik Mitte 2002 unter 50 Prozent lag und im Laufe der Jahre weit unter 40 Prozent absackte, bekam der Präsident für seine Antiterrorpolitik durchweg Bestnoten.[2]

Vor 9/11 dagegen, im ersten Jahr ihrer Amtszeit, hatte die Bush-Administration wie ein chronisch zerstrittener Haufen gewirkt: Ideologische Eiferer stritten mit nüchternen Geopolitikern, zynische Karrieristen hatten sich mit bürokratischen Ränkeschmieden in der Wolle, auf den Vorteil des Augenblicks schielende Populisten gingen ohnehin ihre eigenen Wege. Tragfähige Gemeinsamkeiten gab es wenige, im Gegenteil: Die Rede war von einem ort- und profillosen politischen Denken und von einer auf den Tag fixierten Kurzatmigkeit, ohne Vision und bar jeder gestalterischen Kraft. Dass diese Gruppe an einem Strang ziehen würde, schien ausgeschlossen.

Doch der 11. September veränderte alles. Zwar rührte der Ausnahmezustand die konträren Interessen und Weltbilder nicht an. Aber er führte die Streithähne in einer „Ad-hoc-Koalition“ zusammen, die sich mit gewohnt unterschiedlichen Erwartungen und Argumenten auf einen ungewohnt belastbaren Nenner einigen konnte – auf die Vorstellung nämlich, dass Krieg im Vergleich zu anderen Optionen den größeren Vorteil abwarf.

Warum aber erschöpften sich die von 9/11 freigesetzten Energien nicht in überschaubarer Zeit? Welche Interessen, Affekte und Reflexe waren im Spiel, und warum verschmolzen sie zu einer über den Tag hinausweisenden Politik?

Angstgetriebene Radikalisierung

Der 11. September 2001 radikalisierte das politische Denken in der Bush-Administration fundamental. Und nichts beschleunigte diese Radikalisierung mehr als die Angst der Akteure; eine Angst, die in unterschiedlicher Form und Intensität auftrat, aber fortan nicht mehr wegzudenken war. Der Angriff auf das Pentagon und die offenkundige Absicht, United Airlines 93 in das Kapitol oder das Weiße Haus zu lenken, veranschaulichten auf dramatische Weise die Möglichkeit eines „Enthauptungsschlages“, die ohne Vorwarnung und buchstäblich aus dem Blauen vollzogene Auslöschung der politischen und militärischen Elite. Und allein die Möglichkeit einer Wiederholung zählte, nicht die Wahrscheinlichkeit. Wer deshalb auch seine persönliche Sicherheit unmittelbar gefährdet sah, ist schwer zu sagen. Vizepräsident Dick Cheney jedenfalls fürchtete offenbar um sein eigenes Leben und das seiner Kollegen – beim Thema 9/11 sprach er lange Zeit ausschließlich über Washington, D.C., nie über New York.[3]

Im Herbst 2001 bestätigte die CIA diese Ängste auf alarmierende Art und Weise. Mehrfach geprüften Informationen war zu entnehmen, dass Osama bin Laden seit geraumer Zeit mit pakistanischen Wissenschaftlern wegen der Beschaffung atomwaffenfähigen Materials oder nuklearer Sprengsätze im Gespräch war. Einschlägige Hinweise hatte es bereits früher gegeben. Ende 1993 wollte bin Laden von einem sudanesischen Mittelsmann – einem Betrüger, wie sich alsbald herausstellte – Uran im Wert von 1,5 Mio. US-Dollar kaufen, 1998 bezeichnete er den Erwerb von Atomwaffen als „religiöse Pflicht“ und faselte von einem Hiroshima auf amerikanischem Boden, nach dem Untergang der Sowjetunion bemühte er sich um Sprengköpfe aus russischen Beständen. Die neue Spur indes war brisanter als alles Bisherige. Es ging um Kontakte bin Ladens zu Abdul Kadir Khan, dem „Vater der pakistanischen Bombe“, der von zahlreichen Geheimdiensten des weltweiten Handels mit Atomtechnologie bezichtigt wird – zu Recht, wie sein 2005 geplatztes Geschäft mit Libyen beweist. Khan galt nicht nur als skrupelloser Geschäftsmann; er pflegte obendrein auch enge Beziehungen zu einer radikalen Organisation namens „Ummah Tameer-e-Nau“ (UTN) oder „Islamische Wiedergeburt“, die ihrem Namen gemäß für einen Export fundamentalistischer Ideen eintrat. Entsprechend nervös und gereizt war die Stimmung im Weißen Haus, als CIA-Direktor George Tenet Ende November 2001 über die Ermittlungen zu UTN sagte: „Das ist genau die Sache, vor der wir alle am meisten Angst hatten. Das verändert alles.“[4]

Seit dieser Zeit waren Bush, Cheney und Rumsfeld von der Vorstellung einer engen Beziehung zwischen Al Qaida und irgendeinem „Schurkenstaat“ geradezu besessen. Wenn Osama bin Laden die Chuzpe hatte, sich in Pakistan und damit bei einem Verbündeten der USA bedienen zu wollen, warum sollte er dann demnächst nicht bei einem Feind der USA vorstellig werden? Bei Saddam Hussein etwa?

Wohlgemerkt: Ob Saddam Hussein bereits über Massenvernichtungswaffen verfügte, war nicht das Problem. Uninteressant war auch die Frage, ob und wie wahrscheinlich es war, dass er sich derartige Waffen zulegte. Was einzig zählte, war die Möglichkeit der Beschaffung von Atommaterial bei Dritten, nicht die Wahrscheinlichkeit. Eben weil es in der Zukunft nicht unmöglich war, dass Hussein sich erstens atomar bewaffnen und zweitens dem Drängen von Al Qaida nachgeben würde, galt er als Gefährdung der nationalen Sicherheit in der Gegenwart. Eine akute Herausforderung aber verlangt nach einer sofortigen Antwort.

Angstdiktierte Regression: Die „Ein-Prozent-Doktrin“

So gesehen greift die Behauptung, man hätte 9/11 nur zum Vorwand für die Realisierung lange gehegter Absichten genommen, zu kurz. Zur Diskussion steht ein komplexeres Problem: Akteure, die mit der Angst anderer spielen, sind in der Regel selbst über die Maßen verängstigt; ebenso beruht ihre Täuschung der Umwelt oft auf massiver Selbsttäuschung. Man könnte auch von einer durch Angst und Panik diktierten Regression sprechen oder der Neigung, Unübersichtliches mittels einfacher Antworten kenntlich und Diffuses durch die Fokussierung auf ein Objekt greifbar zu machen.

Als „One Percent Doctrine“ ist dieses Denken in die Geschichte eingegangen. Richard Cheney: „Wir müssen mit dieser neuartigen Bedrohung in einer Weise umgehen, die wir noch nicht definiert haben. […] Wir werden uns dieser Sache auf komplett andere Art stellen müssen. […] Wenn es eine einprozentige Möglichkeit gibt, dass pakistanische Wissenschaftler Al Qaida beim Bau oder der Entwicklung einer Nuklearwaffe helfen, so müssen wir darauf reagieren, als hätten wir vollständige Gewissheit. Es geht nicht um Analysen oder darum, eine riesige Menge von Beweisen zu finden. Es geht einzig um unsere Reaktion.“[5]

Grundsätzlicher hätte man die Forderung nach einer Inspektion des Irak durch Waffenexperten nicht zurückweisen können: Das Verlangen nach handfesten Beweisen galt als Charakteristikum eines veralteten Denkens, als Relikt einer untergegangenen Epoche mit gänzlich anderen Gefahren, Bedrohungspotentialen und Wertmaßstäben. Genauer gesagt einer Zeit, in der man es sich leisten konnte, Zeit zu haben – zum Abwägen, Überprüfen und Aushandeln von Kompromissen. Wer sich indes mit Terroristen oder deren Sponsoren konfrontiert sieht – mit kompromisslosen, zu allem entschlossenen Feinden, die jederzeit und vor allem ohne jede Warnung zuschlagen können – muss sein Verhalten wie auch seine Moral von Grund auf ändern und bereit sein, beim geringsten Verdacht zuzuschlagen. Donald Rumsfeld während eines Treffens mit NATO-Verteidigungsministern in Brüssel am 6. Juni 2002: „Der absolute Beweis kann keine Vorbedingung für Handeln sein.“[6]

Eine frühe Variante der „One Percent Doctrine“ war bereits Ende der 1950er Jahre von der RAND-Corporation, der einflussreichsten „Denkfabrik“ des Kalten Krieges, vorgelegt worden. Wie den einschlägigen Texten von Roberta und Albert Wohlstetter zu entnehmen ist, wurde damals eine radikale Wende der Sicherheitsdoktrin mit dem Überraschungsangriff der Japaner auf Pearl Harbor begründet. Allerdings konnte sich das Plädoyer für einen Präventivkrieg gegen potentielle Aggressoren zur Zeit des Kalten Krieges nicht durchsetzen; die Einsicht, dass als Zweiter stirbt, wer als Erster schießt, blieb angesichts des nuklearen „Overkill“-Potentials in Ost und West allemal überzeugender.

Doch Ideen sind bekanntlich zählebig, zumal solche, die mit dem Anspruch auf tabulose Innovation garniert werden. Paul Wolfowitz, ein Schüler der Wohlstetters, baute die Brücke zur Bush-Administration, indem er die „One Percent Doctrine“ mit Versatzstücken der Totalitarismustheorie unterfütterte und damit zugleich ein bevorzugtes Thema neokonservativer Eliten bediente: Saddam Hussein als Wiedergänger Hitlers und Stalins, die irakische Geheimpolizei als Kopie der Gestapo und westliche Liberale als Advokaten einer ebenso wirklichkeitsfremden wie gefährlichen „Appeasementpolitik“. Ein krudes Potpourri, gewiss. Aber im Milieu des Weißen Hauses unter George W. Bush konnten sich dergleichen Handreichungen gut und überaus schnell entfalten. Hermetisch gegen Ratschläge von außen abgeschottet, waren die engsten Mitarbeiter des Präsidenten obendrein darauf bedacht, auch intern keine Kontroversen aufkommen zu lassen: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Binnen weniger Wochen avancierte eine obskure Theorie aus längst vergangenen Tagen zur amerikanischen Staatsdoktrin des frühen 21. Jahrhunderts.

Der Präventivkrieg ersetzt die Eindämmung

Anfang Juni 2002 begründete George W. Bush die neue Doktrin des Präventivkrieges in einer Rede vor Kadetten der Militärakademie West Point: „Neue Bedrohungen machen auch ein neues Denken erforderlich.“ Als überholt und unbrauchbar bezeichnete er die im 20. Jahrhundert erprobten Grundpfeiler der Sicherheitspolitik: „Abschreckung“ und „Eindämmung“. Die Rede klang wie eine im Geiste Albert Wohlstetters formulierte Vorlesung: Nichtstaatliche Terrororganisationen bleiben von der Androhung massiver Vergeltung unbeeindruckt, weil sie keine Rücksicht auf Leib und Leben von Bürgern nehmen müssen; und Diktatoren lassen sich schwerlich eindämmen, sobald sie die Möglichkeit haben, selbst im Hintergrund zu bleiben, während Handlanger vom Schlage Al Qaidas die Drecksarbeit in ihrem Sinne oder gar Auftrag erledigen. „Wenn wir abwarten, bis sich Bedrohungen voll entfaltet haben, werden wir zu lange gewartet haben. […] Wir müssen den Kampf zum Feind bringen, seine Pläne vereiteln und den schlimmsten Gefahren begegnen, bevor sie an den Tag treten. In dem Zeitalter, in das wir gerade eingetreten sind, ist Handeln der einzige Weg zur Sicherheit.“[7] Dieser Merksatz – wonach die Risiken des Nichthandelns wesentlich größer sind als die Risiken des Handelns – wurde in der Folge zum Mantra offizieller Verlautbarungen. Und am 20. September 2002 setzte man mit der Publikation einer runderneuerten „National Security Strategy of the United States of America“ das Ausrufezeichen. Niemals zuvor hatte ein amerikanischer Präsident das völkerrechtliche Verbot von Präventivkriegen in aller Öffentlichkeit für null und nichtig erklärt.

Der Irak galt dabei in mehrfacher Hinsicht als Demonstrationsobjekt. Saddam Hussein war ein Feind, den man auf eindrucksvolle Weise und vor allen Dingen schnell in die Knie zwingen konnte. Der erste Golfkrieg, die jahrelangen Sanktionen und Kontrollen und die vorbereitenden Angriffe gegen Kommunikationssysteme und Luftverteidigungsanlagen hatten die Festung längst sturmreif gemacht. „Geschwindigkeit“ war der Dreh- und Angelpunkt in Rumsfelds Vision vom Krieg der Zukunft und der Irak das Labor. Realen wie potentiellen Unterstützern des Terrorismus wollte man nicht nur den unvermeidlichen Preis ihrer Politik vor Augen führen. Sie sollten auch erfahren, dass Amerika mit einer Kombination aus Hochtechnologie und Spezialeinheiten jederzeit an jedem Ort der Welt und zur Not aus dem Stand zurückschlagen kann. Und zurückgeschlagen wird, weil die einzig verbliebene Supermacht keine Rivalen fürchten und auf Verbündete keine Rücksicht nehmen muss.

In anderen Worten: Der visuelle Eindruck des 11. September – die weltweit verbreiteten Bilder der Hilf- und Ratlosigkeit des Riesen, den zwei Dutzend mit Teppichmessern bewaffnete Terroristen im Innersten verwundeten – musste auf nicht minder dramatische Weise korrigiert und in sein Gegenteil verkehrt werden. Nach Afghanistan innezuhalten, war keine Option. Vielmehr sollten die Herrscher von „Schurkenstaaten“ Saddam Husseins Niedergang als Menetekel begreifen.

Die „Madman“-Theorie

In dieser Hinsicht war die neue Doktrin alles andere als neu. Im Gegenteil: Man kopierte vermeintliche Erfolgsmodelle aus der Zeit des Kalten Krieges und setzte an dieser Stelle durchaus in erster Linie auf Abschreckung. Nicht umsonst war bei den Mitarbeitern des Nationalen Sicherheitsrates von einer Scare-the-Muslims-Strategie die Rede, von einer Politik, die Angst und Schrecken verbreitet, einschüchtert und lähmt. „Wir reden mit ihnen auf eine Art, die sie verstehen können“, so der Präsident. „Diese Fähigkeit verändert das Spiel. […] Manchmal kann eine Seite mit dem Einsatz von Gewalt die Dinge wirklich klären.“[8]

Im Pentagon bevorzugte man den Begriff shock and awe – „Schrecken und Ehrfurcht“ –, im Weißen Haus war vorzugsweise von game changer die Rede. Gemeint war stets das Gleiche: Angst als Mittel zur Veränderung staatlicher Politik im Besonderen und weltpolitischer Spielregeln im Allgemeinen. Je furchterregender und unberechenbarer die USA auftraten, desto besser; je größer die Angst der Anderen, desto angstfreier konnten Amerikaner angeblich leben. Aus dieser Sicht war es sogar produktiver, grundlos statt mit guten Gründen Krieg zu führen. Kein Gedanke schien zu extrem, als dass er nicht auf höchster Ebene in Umlauf gebracht worden wäre. „Wenn wir tatsächlich die Führung übernehmen wollen, dann müssen wir im Grunde wie die Verrückten dieser Welt wahrgenommen werden“, hieß es in einem Aufsatz, der auf Weisung Donald Rumsfelds an Tommy Franks, den Oberkommandierenden des Irak-Einsatzes, geschickt wurde. „Es muss so aussehen, als wären wir zu allem fähig und bereit, um unserer nationalen Interessen willen alles zu riskieren. […] Wenn wir hehre Ziele erreichen wollen, müssen wir bereit sein, auf die schäbigste Weise zu handeln.“[9] Madman-Theorie nannte man diese Variante der Abschreckungspolitik auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.

Wieder einmal wurde eine Politik für die Zukunft auf den Gewissheiten der Vergangenheit aufgebaut. Die Überbewertung des Militärs und militärischer Konfliktlösung, die Demonstration von Macht um der Beglaubigung der Macht willen, die symbolische Inszenierung von Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit, die strikte Trennung der Welt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, frei und unterdrückt, die Reduktion von Politik auf ein Freund-Feind-Verhältnis und die Verstetigung des Ausnahmezustands, schließlich das Spiel mit der Unberechenbarkeit – all diese Koordinaten des Kalten Krieges wurden unter George W. Bush zu Leitlinien der Antiterrorpolitik. In Anlehnung an die Historikerin Barbara Tuchman sprachen Kritiker von der „Torheit“ der Regierenden oder kognitiver Dissonanz. Und erneut machte die berühmte Metapher von der Lernunfähigkeit rüstungsfixierter Gesellschaften die Runde: Wer nichts anderes zur Verfügung hat als einen Hammer, behandelt jedes Problem wie einen Nagel.

Dass die Generation Cheney und Rumsfeld in der Gedankenwelt des Kalten Krieges aufgewachsen war, spielte zweifellos eine Schlüsselrolle. Ausschlaggebend aber scheint, dass sie aus ihrer Perspektive mit den genannten Instrumenten den Kalten Krieg gewonnen hatten. Sie sahen sich als Sieger der Geschichte und stellten die Frage von Siegern: Warum sollte im „Krieg gegen den Terror“ scheitern, was im Kampf gegen die Sowjetunion funktioniert hatte? Was sprach gegen die Erwartung, eine Horde von „Schurkenstaaten“ derart einzuschüchtern, dass sie erst gar nicht auf den Gedanken kamen, die Autorität der Vereinigten Staaten herauszufordern, geschweige denn Terroristen mit Massenvernichtungswaffen auszustatten? So wurden mit Argumenten der Vergangenheit völlig falsche Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft gezogen.

Krieg im Namen des Glaubens

Im Grunde funktionierte die Administration Bush wie ein politischer Orden. An der Spitze stand ein Präsident, der auf Beratung, auf die Diskussion unterschiedlicher Standpunkte und vielfältiger Informationen, keinen Wert legte – und nicht müde wurde, diese Haltung mit Wort und Tat zu unterstreichen. Für George W. Bush zählten seine Instinkte, seine Menschenkenntnis und vor allem seine religiöse Überzeugung, die Gewissheit, im göttlichen Auftrag eine Mission erfüllen zu dürfen und zu müssen.[10]

Viele Zeitgenossen, zumal aus dem weithin säkularisierten Europa, halten diesen Hinweis noch immer für eine verzerrende Karikatur. Langjährige Beobachter des politischen Washington hingegen sind überzeugt, dass die Religiosität des Präsidenten keine Inszenierung war, sondern dass er tatsächlich an seine öffentlich wie privat bekräftigten Worte glaubte – nämlich „Gottes Willen“ zu kennen und berufen zu sein, das Gottesgeschenk der Freiheit über Amerikas Grenzen hinaus zu verbreiten, den Kampf gegen und den Sieg über das Böse eingeschlossen. Nicht zufällig gehörten „Mission“ und „Kreuzzug“ zu seinen bevorzugten Vokabeln.

Niemandem – außer Gott – zur Rechenschaft verpflichtet zu sein und keine Informationen preisgeben zu müssen: Dieses Prinzip lag dem Präsidenten ganz besonders am Herzen, auf seine Durchsetzung und symbolische Inszenierung legte er auffällig großen Wert. Besonders aggressiv klagte die Bush-Regierung daher die uneingeschränkte Kriegsvollmacht des Präsidenten ein. Vom Weißen Haus um eine rechtsverbindliche Stellungnahme gebeten, kam das Office of Legal Counsel dem Präsidenten mit einer semantischen Spitzfindigkeit zu Hilfe. Zwar ist in der Verfassung das alleinige Recht des Kongresses über Krieg und Frieden verbrieft. Aber die Autoren hätten wie ihre Zeitgenossen Ende des 18. Jahrhunderts die Redewendung „to declare war“ im Sinne von „to publish“ verstanden und folglich an einen bloß symbolischen Akt gedacht: Die Volksvertreter üben die Rolle eines Zeremonienmeisters aus, sie teilen der Öffentlichkeit lediglich mit, dass der Präsident einen Krieg erklärt hat. Dass „to declare“ ehedem kein Synonym für „to initiate“ oder „to authorize war“ gewesen sein soll, dürfte für Linguisten eine neue Erkenntnis sein. Im Vorfeld des Irakkrieges griffen Sprecher der Regierung deshalb auf die vermeintlich unangreifbare Formel der „Executive Supremacy“ zurück. „Wir wollen nicht in die rechtliche Situation kommen, den Kongress um eine Zustimmung zum Militäreinsatz bitten zu müssen. Schließlich steht dem Präsidenten dieses Recht ohnehin voll und ganz zu. Dass wir eine Resolution anstreben, soll nicht so verstanden werden, als wären wir durch die Verfassung dazu verpflichtet gewesen.“[11]

Wer anderer Meinung ist, arbeitet den Terroristen in die Hände und schadet der nationalen Sicherheit – dieser Zusatz musste nicht einmal mehr ausgesprochen werden. Deutlicher hätte man das Prinzip der Gewaltenteilung kaum in Frage stellen können. Auf diese Weise wurden in Folge von 9/11 fundamentale normative und verfassungsrechtliche Grundlagen der amerikanischen Republik zerstört – und zudem die gewachsene Architektur und Balance der Macht in der ältesten Demokratie der Welt.

Aus der in der Verfassung als unhintergehbar charakterisierten Gewaltenteilung ist mittlerweile eine Kann-Bestimmung geworden. Und diese wirkt weit über Kriegszeiten hinaus: Nimmt man die unter George W. Bush geradezu inflationär eingesetzten „Signing Statements“ hinzu – mit denen der US-Präsident deutlich macht, wie ein Gesetz zu verstehen ist –, so zeigt sich, dass heute selbst in Friedenszeiten Präsidenten mit Kompetenzen und Vorrechten wie in Kriegszeiten ausgestattet sind. Es geht dabei um Ermächtigungs- und Notstandsbefugnisse, die von der Beschlagnahmung von Eigentum bis zur Inhaftierung von Oppositionellen alle möglichen Eventualitäten abdecken. Und um Machtmittel, die auf dem wichtigsten Politikfeld eine Dominanz des Weißen Hauses sicherstellen – bei der Entscheidung über Krieg und Frieden, Leben und Tod.

Al Qaida und kein Ende: Der „Kampf gegen die Barbaren“

„Unser Krieg gegen den Terror“, so George W. Bush am 20. September 2001, „beginnt mit Al Qaida, hört dort aber nicht auf. Er wird nicht aufhören, ehe jede Terrorgruppe von weltweiter Ausdehnung gefunden, gestoppt und geschlagen ist.“[12] Auch Obama setzt sich wiederholt über Kriegs- und Völkerrecht hinweg. Von der vor seiner Wahl lautstark versprochenen Schließung Guantánamos ist heute keine Rede mehr, die jedem Militär- und Kriegsrecht Hohn sprechenden Militärkommissionen sind weiterhin aktiv. Tatsächlich hat Bushs Nachfolger den „Krieg gegen den Terror“ nicht gedrosselt, sondern weiter eskaliert: Spätestens die Verlegung von 30 000 zusätzlichen Soldaten an den Hindukusch unterstrich, dass Obama die Prämissen imperialer Selbstbehauptung teilt und die Tradition seiner Vorgänger fortzusetzen gedenkt.

Internationalen Terrorismus als existenzielle Herausforderung zu sehen, die hauptsächlich mit den Mitteln des Militärs bekämpft werden muss, ist allerdings keine spezifisch amerikanische Lesart; auch Russland, Israel und Großbritannien teilen diese Betrachtung. Aber einzig die USA sind zu einer globalen Intervention fähig und willens. Den Feind entwaffnen, bevor er sich selbst bewaffnen kann, latente Gefahren eliminieren, ehe sie zu einer akuten Gefährdung werden – im strategischen Denken des Atomzeitalters jahrzehntelang verkapselt, wurde der Präventivkrieg nach 9/11 als Allzweckwaffe wiederentdeckt. Daran wird sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern, wie Obamas Rede vom „notwendigen Krieg“ in Afghanistan und der in seiner Amtszeit intensivierte Drohneneinsatz gegen Ziele im Jemen und in Pakistan zeigen. Dass die seit Oktober 2001 geführten Kriege die Kader der Terroristen nicht gelichtet, sondern mehr denn je gefüllt haben, gehört zur bitteren Ironie dieser Geschichte. Es ist zugleich ihre größte Hypothek, die weit über den Tod von Osama bin Laden hinaus Wirkung entfalten wird.

Diese Hypothek wirkte auch nach innen und sorgte für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Recht, der bis heute unvermindert fortwirkt. Insofern trifft die Behauptung, dass am 11. September 2001 ein neues Kapital in der endlosen Konfrontation des Liberalismus mit dem Totalitarismus aufgeschlagen wurde, den Kern des Problems – die Tatsache nämlich, dass die USA wie ehedem im Kalten Krieg Gefahr laufen, ureigenste Werte bei dem Versuch ihrer Verteidigung zu ruinieren.[13]

Arabische Terroristen haben die USA erniedrigt, sagt Henry Kissinger, „also müssen wir sie erniedrigen.“[14] Alttestamentarische Religiosität verschmilzt an dieser Stelle mit der nationalen Meistererzählung über die „Frontier“ oder den bis zum Ende des 19. Jahrhunderts währenden Kampf gegen die „Barbaren“ im eigenen Land: Wer die Gesetzlosen bändigen will, muss selbst das Gesetz brechen, muss Gleiches mit Gleichem vergelten und die Terroristen terrorisieren. In diesem Sinne kann und soll die eigene Gesetzlosigkeit als doppelte Botschaft verstanden werden. Amerikas Feinde müssen wissen, dass ihnen das Schlimmste blüht, dass es buchstäblich nichts gibt, wozu die Vereinigten Staaten nicht willens und in der Lage sind. Ob mit der Folter Informationen gewonnen werden oder nicht, ob künftige Generationen von Terroristen tatsächlich verängstigt und abgeschreckt werden, spielt am Ende keine Rolle mehr. In den Worten des Journalisten William Pfaff: „Die Bush-Administration foltert Gefangene nicht, weil es einen Nutzen hätte, sondern wegen der Symbolkraft.“[15] Auch nach innen richtet sich dieses Signal, an einen anderen Adressaten zwar, aber mit dem gleichen Nachdruck: Wir sind nicht verweichlicht, nicht schwach und schon gar nicht wehrlos, wir sind und bleiben unerschrocken, dominant und einzig uns selbst verpflichtet.

Dass Recht ein politischer Störfaktor sein kann und jederzeit suspendiert werden darf, weil Macht über dem Recht steht – das war der Kern des unermüdlich eingeforderten „neuen Denkens“ der Bush-Regierung, der archimedische Punkt bei der Planung von Militäreinsätzen wie im Umgang mit Gefangenen, im Umgang mit Verbündeten ebenso wie bei der Politik gegenüber Gegnern und Feinden. Deshalb ist die viel bemühte Rede vom „Unilateralismus der USA“ eine euphemistische Umschreibung des Problems. Es ging nämlich weniger um amerikanische „Alleingänge“ als um einen im Alleingang vollzogenen Bruch mit Selbstbindung und Selbstbeschränkung – um die eigenmächtige, mit niemandem beratene und von keiner Instanz legitimierte Setzung neuen Rechts.

„Schlachtfeld“ Europa

Diese Entwicklung hat auch vor Europa nicht Halt gemacht. Auch in Europa brachten führende Politiker zur Revision von Recht und Verfassung Argumente vor, die dem Zitatenschatz von Dick Cheney hätten entnommen sein können. „Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949“, erklärte beispielsweise der damalige Bundesinnenminister, Wolfgang Schäuble, mit Blick auf das Grundgesetz.[16] Gemeint war und ist, dass man Bedrohungen im Hier und Heute nicht mit antiquierten Instrumenten der Vergangenheit begegnen kann und dass radikale Herausforderungen nicht minder radikale Antworten verlangen. Dementsprechend wurden in den weitaus meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter extremem Zeitdruck entweder neue Sicherheitsgesetze erlassen oder seit langem gültige Gesetze verschärft. Aktualität und Grad der Gefährdung spielten dabei keine Rolle. In Anlehnung an die amerikanische Diskussion ging es vielmehr um Rückversicherungen für alle Eventualitäten und auch für den Fall, dass nur eine einprozentige Risikowahrscheinlichkeit bestand.

Ob in Spanien, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland, überall erweiterte man den Katalog terroristischer Straftatbestände. Und überall drängen Strafverfolgungsbehörden seit 9/11 auf deutlich erweiterte Kompetenzen. Von „strukturell unstillbaren Sicherheitsbedürfnissen“ spricht der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer: „Eine Schippe Sicherheit passt immer noch in den mit Kontrollen und Sanktionen schon prall gefüllten Sack.“[17] Dass in den USA nach 9/11 sage und schreibe 263 Behörden zur Optimierung „nationaler Sicherheit“ neu gegründet bzw. von Grund auf reorganisiert wurden und inzwischen über 1200 staatliche Organisationen sowie 1931 private Firmen mit der Gefahrenabwehr beschäftigt sind, illustriert das bislang extreme Ende einer internationalen Entwicklung.[18]

Das Problem aber sind nicht nur Politiker, die „von oben“ Ängste schüren und Erregungszustände für ihre Zwecke nutzen. Ihre Appelle blieben ungehört, gäbe es nicht eine verbreitete Bereitschaft „von unten“, sich ängstigen zu lassen und nach Instrumenten zu rufen, die hier und jetzt noch nicht zur Verfügung stehen, aber in Zukunft Leben retten könnten. Dass sich terroristische Gefährdung nicht beseitigen, sondern allenfalls drosseln lässt, wird als Einwand nicht akzeptiert. Die phantasierte Sicherheit, das Ideal einer für sie sicheren Welt, scheint allemal attraktiver. Gegen diese imaginierte Vollkommenheit muss der unvollkommene Rechtsstaat nach 9/11 erneut konkurrieren. Genauer gesagt gegen eine expansive und in ihrer Tendenz totalitäre Präventionslogik.[19] Das Ende dieses abschüssigen Weges aber wäre die Transformation des Rechtsstaates in den Machtstaat.

 

[1] Zit. nach Seymour M. Hersh, Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib, Reinbek 2004, S. 23.

[2] Zu Grunde gelegt wurden folgende Umfragen des Pew Research Center: Domestic Concerns Will Vie with Terrorism in Fall (27.6.2002); Two Years Later, the Fear Lingers (4.9.2003); American Attitudes Hold Steady in Face of Foreign Crises (17.8.2006); Obama Faces Familiar Divisions over Anti-Terror Policies (18.2.2009).

[3] Stephen Holmes, The Matador’s Cape. America’s Reckless Response to Terror, Cambridge 2007,
S. 308-311.

[4] Zit. nach Ron Suskind, The One Percent Doctrine. Deep Inside America’s Pursuit of Its Enemies since 9/11, New York 2006, S. 61; vgl. auch Lawrence Wright, Der Tod wird Euch finden. Al-Qaida und der Weg zum 11. September, Stuttgart 2007, S. 9ff., 179ff., 238ff.; Ahmed Rashid, Descent into Chaos. The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, London 2008, S. 120ff. und 295; sowie The 9/11 Commission Report. Die offizielle Untersuchung zu den Terrorattacken vom 11. September 2001, Potsdam 2004, S. 60.

[5] Zit. nach Suskind, a.a.O., S. 61 f.

[6] Zit. nach ebd., S. 123.

[7] Zit. nach ebd., S. 149 f.

[8] Zit. nach ebd., S. 182, 233.

[9] So General Charles Horner, U.S. Air Force, zit. nach Holmes, a.a.O., S. 91.

[10] Vgl. auch Hans-Eckehard Bahr, Kreuzzug gegen Terror. Politik mit der Apokalypse, in: „Blätter“, 9/2005, S. 1111-1118.

[11] Ein hochrangiger, aber namentlich nicht identifizierter Angehöriger der Bush-Administration, zit. nach Aziz Z. Huq und Frederick A.O. Schwarz, Unchecked and Unbalanced. Presidential Power in a Time of Terror, New York 2007, S. 139.

[12] George W. Bush, Rede vor beiden Kammern des Kongresses, 20.9.2001, zit. nach The 9/11 Commission Report, a.a.O., S. 337.

[13] Tzvetan Todorov, Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Hamburg 2010, S. 152-154.

[14] Zit. nach Holmes, a.a.O., S. 277.

[15] William Pfaff, zit. nach ebd.; vgl. ders., Die Befehlskette nach Abu Ghraib, in: „Blätter“, 6/2004, S. 673 f. 

[16] Zit. nach Heribert Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht, München 2008, S. 29.

[17] Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, Berlin 2009, S. 8.

[18] Danna Priest und William Arkin, A hidden world, growing beyond control, in: “Washington Post”, 19.7.2010.

[19] Prantl, a.a.O., S. 117.

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