Ausgabe Januar 2015

Vom Heldenkult zur Opferverehrung

Zum Wandel der Erinnerungskultur

Siebzig Jahre nach der Shoah – dem von einem hochentwickelten europäischen Staat unternommenen Versuch der planmäßigen Ermordung sämtlicher Juden – ist es offensichtlich, dass die jüdische Diaspora und die Israelis viele Gründe dafür haben, sich innerlich wie äußerlich bedroht zu fühlen. Das ist nicht nur eine Lehre der Geschichte, sondern auch der jüngsten antisemitischen Ausbrüche in Europa. Weniger offensichtlich ist dagegen, dass unmittelbar nach dem Krieg der Holocaust bei den Juden, und vor allem bei den Israelis, ein schamhaft verschwiegenes Thema war. Pola Lifszyc,[1] ein, wie wir heute sagen würden, „ganz normales“ Mädchen aus dem Warschauer Ghetto, das hätte überleben können, sich bei der Nachricht von der Verhaftung seiner Mutter aber freiwillig einem Transport anschloss, passte einfach nicht zum geschwollenen Bizeps des israelischen Helden – meist eines unerschrockenen Fallschirmjägers. „Wir bauen hier die Neue Welt, und im Theater ist wieder Ghetto!“, empörten sich in der Nachkriegszeit die Einwohner eines Kibbuz in einem Roman von Amos Oz. Zwar waren auch sie davon überzeugt, dass ihre Feinde es ihnen nie gestatten würden, in Ruhe zu leben, doch bewog sie das noch stärker dazu, die Erinnerung an die Zeiten der Kraftlosigkeit zu verdrängen.

Sie haben etwa 4% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 96% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (2.00€)
Digitalausgabe kaufen (10.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Micha Brumlik: Ein furchtloser Streiter für die Aufklärung

von Meron Mendel

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und anschließend der Krieg der Netanjahu-Regierung in Gaza begann, fragten mich viele nach der Position eines Mannes – nach der Micha Brumliks. Doch zu diesem Zeitpunkt war Micha bereits schwer krank. Am 10. November ist er in Berlin gestorben.

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.