Ausgabe Oktober 2015

Der monströse Zauberberg

Spätestens seit dem Roman „Die Elenden von Lódz´“ (2009) gehört Steve Sem-Sandberg zu den prägnantesten Autoren Europas. Seitdem wird gefragt, ob der 1958 geborene Schwede nicht eine literarische Rekonstruktion des Ghettos unter der Naziherrschaft wagt, die nur Zeitzeugen erlaubt sein sollte. Das verweist auf ein Dilemma unserer Kultur, die an diese für Europa immer noch konstitutive Vergangenheit erinnern will, jedoch damit umgehen muss, dass immer mehr Augenzeugen sterben. Daher hilft die alleinige Vergegenwärtigung durch kanonische Werke wie jene von Primo Levi, Roman Polanski und Aleksandar Tišma nicht weiter. Irgendwann versinken auch Klassiker im Staub der Bibliotheken, bis es Namen sind, die keiner mehr kennt. Nur was durch aktuelle Beiträge tradiert wird, bleibt erhalten oder kann wiederentdeckt werden.

Dazu leistet Steve Sam-Sandberg mit „Die Erwählten“ einen wichtigen Beitrag. Er bedient sich der Mittel eines bildstarken, szenischen Romans für die Auseinandersetzung mit der Euthanasie am Beispiel einer Wiener Anstalt in der NS-Diktatur. Mit elf Jahren kommt Adrian Ziegler, der aus einem angeblich sozial und erbbiologisch „minderwertigen“ Elternhaus stammt, in die berüchtigte Klinik „Am Spiegelgrund“. Seine Aufsässigkeit, einschließlich einer Flucht, lassen ihn alle Stationen dieser Hölle durchlaufen.

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Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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