Ausgabe Oktober 2015

Der monströse Zauberberg

Spätestens seit dem Roman „Die Elenden von Lódz´“ (2009) gehört Steve Sem-Sandberg zu den prägnantesten Autoren Europas. Seitdem wird gefragt, ob der 1958 geborene Schwede nicht eine literarische Rekonstruktion des Ghettos unter der Naziherrschaft wagt, die nur Zeitzeugen erlaubt sein sollte. Das verweist auf ein Dilemma unserer Kultur, die an diese für Europa immer noch konstitutive Vergangenheit erinnern will, jedoch damit umgehen muss, dass immer mehr Augenzeugen sterben. Daher hilft die alleinige Vergegenwärtigung durch kanonische Werke wie jene von Primo Levi, Roman Polanski und Aleksandar Tišma nicht weiter. Irgendwann versinken auch Klassiker im Staub der Bibliotheken, bis es Namen sind, die keiner mehr kennt. Nur was durch aktuelle Beiträge tradiert wird, bleibt erhalten oder kann wiederentdeckt werden.

Dazu leistet Steve Sam-Sandberg mit „Die Erwählten“ einen wichtigen Beitrag. Er bedient sich der Mittel eines bildstarken, szenischen Romans für die Auseinandersetzung mit der Euthanasie am Beispiel einer Wiener Anstalt in der NS-Diktatur. Mit elf Jahren kommt Adrian Ziegler, der aus einem angeblich sozial und erbbiologisch „minderwertigen“ Elternhaus stammt, in die berüchtigte Klinik „Am Spiegelgrund“. Seine Aufsässigkeit, einschließlich einer Flucht, lassen ihn alle Stationen dieser Hölle durchlaufen.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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