Ausgabe Juli 2016

Die offene Gesellschaft als ihr eigener Feind

Als vor gut einem Vierteljahrhundert der realexistierende Kommunismus implodierte, stürzte dieses Jahrhundertereignis zahlreiche Intellektuelle in veritable Identitätskrisen. Scheinbar geistig desorientiert durch den Wegfall der Ost-West-Konfrontation, in der man sich längst häuslich eingerichtet hatte, verlangten viele, sich umgehend auf die „Suche nach neuen Feinden“ zu machen.[1] Ist eine endgültig „entfeindete Demokratie“ (Ulrich Beck),[2] die ungeachtet eines offenbar „unstillbaren Bedarfs an Feindbildern“ angeblich gar keine wirklichen Feinde mehr „braucht“, nicht eine weltfremde Illusion? Manche wollten daher „mehr Mut zu echter Feindschaft“ machen (Wolfgang Sofsky),[3] obwohl sich zwischenzeitlich gerade kein passender Feind anzubieten schien. Man wandte sich gegen eine moralische Lähmung saturierter, durch und durch ökonomisierter Gesellschaften, die den irreführenden Eindruck erwecken, alles könne für anderes eingetauscht werden, so dass der Gedanke abwegig erscheinen muss, es könne notwendig werden, sich für sie zu opfern, wie es ein obsoletes, von den europäischen Nationalismen vereinnahmtes und endgültig ruiniertes Heldentum verlangt hatte.

Sie haben etwa 3% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 97% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (2.00€)
Digitalausgabe kaufen (10.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Politik vor Recht: Die Aushöhlung der liberalen Demokratie

von Miguel de la Riva

Als der FPÖ-Chefideologe und heutige Parteivorsitzende Herbert Kickl im Januar 2019 in einem ORF-Interview darauf angesprochen wurde, dass seine Asylpläne an die Grenzen von EU-Recht, Menschenrechtskonvention und Rechtsstaat stoßen, antwortete der damalige österreichische Innenminister, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.