Ausgabe März 2020

Die Arztpraxis als Renditeobjekt

Arzt hält Stethoskop und Euro-Noten in den Händen

Bild: imago images / Panthermedia

Es kommt nicht oft vor, dass Arztpraxen unangemeldeten Besuch von der Polizei erhalten. Umso mehr sorgte für Aufsehen, was sich Mitte Dezember in Süddeutschland abspielte: Polizisten durchsuchten Praxen einer Augenarztkette und Privaträume, stellten Unterlagen sicher. Gegen Ärzte der Kette ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Betruges in besonders schwerem Fall. Sie sollen in 20 Fällen Patienten zu ambulanten Operationen vor allem am Grauen Star gedrängt haben – obwohl die Eingriffe nicht nötig waren. Das Ermittlungsverfahren hat auch über Süddeutschland und über die Augenarztbranche hinaus Relevanz. Es betrifft eine Frage, die derzeit Politikern, Ärzten und Patientenvertretern bundesweit Kopfzerbrechen bereitet: Schadet es der Gesundheitsversorgung im Land, wenn Arztpraxen nicht mehr Ärzten gehören, sondern Unternehmen und Finanzinvestoren?

Kronen statt Krönung

Derzeit läuft, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, eine der größten Verkaufswellen in der Geschichte der deutschen Gesundheitspolitik. Augenärzte, Nierenärzte, Radiologen, Zahnmediziner und Ärzte anderer Fachdisziplinen verkaufen ihre Arztsitze an Finanzinvestoren. Die verkaufenden Ärzte freuen sich über das Interesse der neuen Kundschaft, denn so erzielen sie in der Regel deutlich höhere Erlöse als bei einem Verkauf an einen anderen Arzt.

So aber fließt jedes Mal, wenn sich ein Kassenpatient seine Zähne in einer Filiale der Zahnarztkette Colosseum Dental richten lässt, am Ende ein kleiner Betrag in die Schweiz. Denn diese Kette gehört einer Investmentfirma, der Jacobs Holding, die wiederum im Besitz der Familie Jacobs ist, bekannt für die gleichnamige Kaffee-Krönung. Die Familie setzt seit ein paar Jahren auf Zahnkronen statt auf Krönung, denn im deutschen Gesundheitssystem lässt sich gutes Geld verdienen.

Schließlich ist die Branche unabhängig von Konjunkturschwankungen, die Einnahmen fließen stetig – zum großen Teil aus den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen. Zu jenen Fondsgesellschaften, die den deutschen Facharztmarkt als Anlageobjekt entdeckt haben, gehören neben der Schweizer Jacobs Holding auch die Nordic Capital aus Schweden oder Summit Partners mit Sitz in Boston. Dabei dürfen solche Finanzinvestoren in Deutschland auf direktem Wege keine Arztpraxen kaufen. Sie können es aber indirekt tun, indem sie ein Krankenhaus kaufen, das dann als Träger der entstehenden Arztketten fungiert. So übernahm Summit Partners 2016 die Deister-Süntel-Klinik im niedersächsischen Bad Münder, ein kleines Krankenhaus der Arbeiterwohlfahrt, das kurz vor der Insolvenz stand. Erworben wurde das Krankenhaus mit dem Geld eines Fonds, der auf den Caymaninseln sitzt. In den folgenden Jahren wurde das Krankenhaus zum Betreiber von zahnärztlichen Behandlungszentren bundesweit – unter anderem der Kette Zahneins.

Schon vor mehr als einem Jahrzehnt entdeckten internationale Finanzinvestoren Krankenhäuser als rentable Objekte: Sie kauften unrentable kleine Kliniken auf, fassten sie in größeren Verbünden zusammen, machten sie – zumeist auf Kosten des Personals und der Patienten – profitabler und verkauften sie weiter. Dann kamen Altenheime an die Reihe, danach ambulante Pflegedienste – und nun Facharztpraxen.

Möglich machte solche Verkäufe eine Gesetzesänderung unter der damaligen SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Jahr 2003. Vorher durften nur Mediziner Arztsitze innehaben – und wie viele davon es wo im Land gibt, ist streng reglementiert. Mit der Gesetzesnovelle kam die Welle ins Rollen: Erst kauften finanzstarke Ärzte die Sitze von Konkurrenten auf, dann kamen Medizintechnik- und Medikamentenhersteller hinzu. Sie erwarben Zulassungen von Nierenärzten und Onkologen, um sich so exklusive Absatzkanäle für ihre Dialyseprodukte oder Krebsmedikamente zu sichern. Gegen ein solches Konstrukt ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft Hamburg. Sie wirft einem Hersteller von Chemotherapiemitteln vor, Arztpraxen von Onkologen gekauft zu haben, um dort dann seine eigenen teuren Medikamente gewinnbringend an den Patienten zu bringen.

Die neuen Investoren fassen nun die aufgekauften Arztpraxen in sogenannten Medizinischen Versorgungszentren zusammen. Sie formen daraus teils bundesweit agierende Ketten. Hinter fast jedem sechsten Medizinischen Versorgungszentrum hierzulande stehen mittlerweile Finanzinvestoren, wie die Deutsche Apotheker- und Ärztebank schätzt. Die Bank erwartet, dass sich die Verkaufswelle in den kommenden Jahren fortsetzen wird, denn viele niedergelassene Ärzte stehen kurz vor dem Ruhestand. 2018 gab es fast 3200 solcher Facharztzentren, in denen gut 18 000 Ärzte angestellt sind. Das ist eine nicht unbedeutende Zahl im Vergleich dazu, wie viele Fachärzte insgesamt in der ambulanten Versorgung von Kassenpatienten arbeiten: knapp 94 000. Auch bei den Zahnärzten gibt es mittlerweile schon 900 Versorgungszentren, denen niedergelassene Zahnärzte gewichen sind.

Strukturell anfällig für Missbrauch

Aus Patientensicht stellt sich die Frage: Verändert sich die Versorgung, wird sie besser oder schlechter? Zunächst einmal ändert sich vieles an der Arbeitsweise, wenn aus Arztpraxen Behandlungszentren werden. Ein positiver Effekt ist, dass große Behandlungsverbünde gemeinsame Verwaltungsabteilungen haben, die sich um Abrechnung und Einkauf kümmern. Daher muss der einzelne Arzt deutlich weniger Zeit für administrative Dinge aufwenden, weshalb ihm mehr Zeit für die Patienten bleibt. Das jedenfalls betont der Geschäftsführer einer der größten Zahnarztketten im Land, Daniel Wichels von der Zahneins GmbH, der zugleich Vorsitzender des Bundesverbandes für nachhaltige Zahnheilkunde, einem Interessenverband für ebensolche Zahnarztketten, ist. Hinzu käme, so Wichels, dass es vielleicht gar nicht genügend junge Ärzte gebe, die Lust hätten, all die Arztpraxen zu übernehmen, die in den kommenden Jahren verkauft würden. Medizinische Versorgungszentren wie seine seien deshalb „notwendig, um dem Praxissterben entgegenzuwirken“.[1]

Es gibt aber gute Gründe, warum die Skepsis gegenüber solchen sich aktiv einmischenden Investoren im Gesundheitssektor deutlich größer ist als in anderen Branchen: Der Rohstoff, aus dem das Geld in dieser Branche verdient wird, sind Menschen. Auf der einen Seite Kranke und Pflegebedürftige, auf der anderen Seite Mediziner und Pfleger. Bezahlt aber wird ein Großteil der Leistungen von einer dritten Partei, den Krankenkassen. Diese Dreieckskonstellation ist strukturell anfällig für Missbrauch: Einer leistet, ein anderer nimmt die Leistung entgegen, ein Dritter zahlt das alles. Die Krankenkassen können kaum nachprüfen, ob die Leistungen, die eine Klinik, ein Pflegedienst oder eine Arztkette für die Behandlung eines Patienten abgerechnet haben, tatsächlich notwendig waren und ob sie überhaupt erbracht wurden.

Der Gesundheitssektor ist im Prinzip eine riesige Maschine: Oben schütten die Kranken- und Pflegekassen Geld in einen Trichter, im undurchsichtigen Inneren der Maschine rumpelt es, aus allerlei Schläuchen fließt Geld ab, beispielsweise in die Schweiz oder auf die Caymaninseln, bevor die Maschine, wenn es gut läuft, gesunde Patienten entlässt. Patientenverbände, Politiker, Ärzte- und Krankenkassenvertreter befürchten daher nicht ohne Grund: Wenn Betriebswirte anstatt Mediziner oder Pfleger das Sagen in den von ihnen aufgekauften Krankenhäusern oder Praxen haben, könnte es vermehrt passieren, dass nicht mehr nur im Interesse der Patienten behandelt werde, sondern auch mit Blick auf den daraus zu ziehenden Gewinn.

Gewiss – auch Ärzte müssen wirtschaftlich denken, auch sie sind vor diesem Anreiz nicht gefeit. Es gibt niedergelassene Ärzte, die ihre Patienten unnötig behandeln oder sogar ohne Not operieren, die ihnen wirkungslose Privatzahlerleistungen verkaufen oder falsche Diagnosen stellen, um auf diese Weise mehr Geld von den Krankenkassen zu bekommen. Nicht zuletzt im Krankenhausbereich ist dies spätestens seit der Umstellung der Finanzierung auf sogenannte Fallpauschalen ein vieldiskutiertes Thema: Ob Knie-Operationen, vorschnell eingesetzte Hüftgelenke oder steigende Kaiserschnittraten – der Verdacht, dass bisweilen die Aussicht auf eine höhere Pauschale vorschnell zum Messer greifen lässt, liegt immer wieder einmal in der Luft.[2]

Die neuen Behandlungszentren unterliegen jedenfalls zumeist festen Gewinnzielen ihrer Finanzinvestoren. Allein dies führt die dort angestellten Ärzte offenbar in Versuchung, Patienten aufwendiger zu kurieren als in herkömmlichen Praxen – vor allem mit Eingriffen und Behandlungen, bei denen sich mit wenig Aufwand viel Gewinn erzielen lässt. Unter Augenärzten etwa gelten ambulante Operationen am Grauen Star als einer der größten Gewinnbringer in der ambulanten Versorgung. Niedergelassene Ärzte sagen: Weil in den Ketten angestellte Ärzte arbeiten, die häufig den Arbeitgeber wechseln, gebe es weniger Skrupel, mehr zu verschreiben als unbedingt nötig ist. Sie müssten schließlich nicht bis zur Rente immer wieder denselben Menschen in ihren Wartezimmern begegnen.

Mehr Operationen, höhere Rendite

Hinzu kommt, dass Firmenketten und Versorgungszentren noch weitere Anreize setzen: Auf Anfrage antwortete ein Anwalt einer des Betrugs bezichtigten Augenarztkette, dass einige angestellte Ärzte „in Form variabler Vergütungsbestandteile“ bezahlt würden. Sie verdienen also mehr, wenn sie mehr operieren. Dennoch seien die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft „vollumfänglich falsch“. Es gebe keine „abschließenden objektiven Kriterien“, wann eine OP am Grauen Star notwendig sei. Vielmehr sei es die Entscheidung des Patienten, ob er eine Trübung seiner Linse noch hinnehmen wolle oder nicht. Der Arzt gebe also nur Empfehlungen ab. In den untersuchten Fällen gibt es allerdings sogar eine Patientin, die noch gar keine Trübung bemerkt hatte – was ein hinzugezogener zweiter Arzt bestätigte. Die Empfehlung für eine OP war also ein Fehler. Ob dieser nun irrtümlich oder vorsätzlich geschah, wird sich nur schwer herausfinden – und ein Vorsatz noch schwerer beweisen lassen. Auch in anderen Medizinischen Versorgungszentren sind offenbar Arbeitsverträge für angestellte Ärzte verbreitet, die Boni oder Umsatzbeteiligungen für mehr lukrative Behandlungen vorsehen. So legt eine andere Augenarztkette in den Verträgen fest, dass der angestellte Arzt mit 30 Prozent am Umsatz bei Kassenleistungen beteiligt ist, mit 40 Prozent am Umsatz bei Privatzahlerleistungen und ebenfalls mit 40 Prozent am Umsatz bei jeder Verordnung einer Operation am Grauen Star.

Reglementierungen sind nötig

Dass diese Anreizsysteme das Gesundheitssystem tatsächlich Geld kosten, legen zudem Statistiken nahe: Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg stellte nach Auswertung ihrer Datenbank fest, dass die Zahl der Operationen am Grauen Star im südlichen Bundesland in den vergangenen zehn Jahren um mehr als ein Viertel gestiegen ist, parallel zum Anstieg der Augenarztketten.

Noch deutlicher sind die Ergebnisse einer Auswertung für Zahnarztpraxen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Sie hat für das Jahr 2018 untersucht, wie viele Leistungen medizinische Versorgungszentren im Vergleich zu herkömmlichen Zahnarztpraxen pro Patient abrechnen, nämlich, in Euro bemessen: ein Viertel mehr. Besonders viel und für sie lukrativ behandeln demnach jene Zahnarztgruppen, hinter denen nicht Ärzte stehen, sondern internationale Finanzinvestoren. Sie rechneten sogar 30 Prozent mehr pro Patient mit den Kassen ab.

So langsam kommt das Problem in der Politik an: Dort entspannt sich gerade eine Debatte darüber, ob Finanzinvestoren künftig überhaupt noch Arztpraxen kaufen dürfen sollen oder ob man dies, wie etwa der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert, gesetzlich unterbinden müsse. Ärztevertreter teilen diese Auffassung.

Verbieten kann man aber nur Dinge, von denen man überhaupt erfährt. Bisher ist für öffentliche Stellen bei vielen Medizinischen Versorgungszentren nicht nachvollziehbar, wer hinter den Firmenstrukturen steckt. Die Linksfraktion forderte deshalb schon im vergangenen Herbst den Bundestag auf, Käufer von Arztsitzen zu verpflichten, bei Übernahmen ihre Firmenstrukturen gegenüber den Kassenärztlichen Vereinigungen offenzulegen. Denn erst, wenn diese Transparenz herrsche, ließe sich auch systematisch untersuchen, ob Arztketten tatsächlich generell mehr behandeln als andere.

Ein Gesundheitssystem, bei dem die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut – und die rechte nicht, was die linke dafür zahlt –, ist anfällig für Falschabrechnungen und Überbehandlungen. Das Bundesgesundheitsministerium kündigte jüngst zwar an, ein Gutachten zu Arztsitzverkäufen in Auftrag zu geben: Es solle Klarheit über den Zusammenhang von Besitzern von Facharztpraxen und der von ihnen erbrachten Versorgung schaffen. Das reicht aber nicht.

Besser wäre es, schleunigst Licht ins Dunkel zu bringen. Dafür sollten Ärzte den Patienten eine Quittung über die erfolgten Behandlungen und gestellten Diagnosen vorlegen – und die Patienten diese abzeichnen müssen. Eine Bon-Pflicht für Ärzte also. Was bei einer kleinen Bäckerei ein bürokratisches Monstrum sein mag, hätte in diesem Fall einen positiven Effekt. Es würde helfen, das Vertrauen ins Gesundheitswesen wieder zu stärken, egal, ob gegenüber einer Kette oder einem niedergelassenen Arzt. Damit wäre die Grundsatzfrage, wer einen Arztsitz erwerben kann, zwar noch nicht gelöst – aber mehr Transparenz geschaffen.

[1] Im Gespräch mit der Autorin.

[2] Vgl. u.a. Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in: „Blätter“, 9/2012, S. 19-22; Annett Mängel, Hebammen: Unentbehrlich und unterbezahlt, in: „Blätter“, 1/2018, S. 29-32.

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