Ausgabe April 2021

Das Erbe von '68: Identitätspolitik als Kulturrevolution

Eine nervöse Unruhe hat viele westliche Gesellschaften erfasst und macht selbst vor der Spitze des Staates nicht Halt: In Deutschland sieht mit Wolfgang Thierse immerhin der ehemalige Bundestagspräsident „den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet“.[1] Emmanuel Macron wendet sich mit präsidialer Autorität gegen sozialwissenschaftliche Theorieimporte aus den USA, da sie die französische Islam-Debatte verzerren würden.[2] Und die britische Regierung droht gar mit Bußgeldern, damit Universitäten und Studierende künftig die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit auf dem Campus achten. Hier sind alle Reizworte der jüngsten Debatten versammelt: „Identitätspolitik“, Rassismustheorien und „Cancel Culture“.

Damit beginnt das Problem allerdings schon: Die westlichen Gesellschaften haben keine gemeinsame Sprache für den derzeitigen Wandel. „Identitätspolitik“ etwa gilt den einen als neutrale Beschreibung, den anderen als Kampfbegriff. Dabei wird das Konzept in sozialen Bewegungen schon seit 1977 diskutiert, als eine Gruppe schwarzer US-Feministinnen in einem programmatischen Text erstmals für Identitätspolitik plädierte: Denn, so das Combahee River Collective, „die einzigen Menschen, die sich genug für uns interessieren, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, sind wir“.[3] In dieser Tradition agieren auch heute jene gesellschaftlichen Gruppen, die angeblich stets mitgemeint sind, aber allzu oft nicht mitgedacht werden.

Sie alle sind Teil einer Emanzipationsbewegung, die vollenden will, was ab 1968 begonnen wurde und für die vollständige Gleichberechtigung und verstärkte Repräsentation von Frauen und Minderheiten streitet. Was sich unter dem umkämpften Label der Identitätspolitik vollzieht, ist daher ähnlich wie ‘68 eine Kulturrevolution, die vielleicht nicht minder bedeutsam ist. Denn bei dieser Auseinandersetzung geht es um die Zukunft der westlichen Gesellschaften als vielfältige Demokratien.

Wie bei jeder sozialen Bewegung, die einen starken moralischen Anspruch erhebt, sehen wir allerdings auch heute zuweilen den Umschlag ins Rigorose, Rigide und teilweise Autoritäre. Auch das ist eine historische Parallele: 1968 hat die westlichen Gesellschaften liberalisiert, obwohl viele 68er ziemlich illiberal waren und sich beispielsweise in streng hierarchischen maoistischen Kaderparteien organisierten. Kurz: Es war eine libertäre Revolte,[4] die mitunter von autoritären Geistern getragen wurde.

Freiheitlich war das Aufbegehren der 1960er Jahre nicht zuletzt auch deswegen, weil es gründlich mit dem Hauptwiderspruchsdenken der Linken aufgeräumt hat. Gegen den orthodoxen Marxismus etablierte die damalige Jugend eine Einsicht, hinter die manche Linke heute wieder zurückfallen: Nicht nur Klassenverhältnisse prägen das Machtungleichgewicht in einer Gesellschaft, daher darf etwa der Kampf um Frauenrechte nicht als nachrangig abgewertet werden. Neben der zweiten Frauenbewegung traten verstärkt Minderheiten auf den Plan und erlangten eine Sichtbarkeit, die ihnen gesellschaftlich lange verwehrt worden war. Diese Selbstermächtigung führte allerdings bislang nicht zu einer vollständigen Emanzipation.

Das lässt sich am Beispiel queerer Menschen deutlich erkennen. Rechtlich hat die ab 1969 auch in Westdeutschland aktive Schwulen- und Lesbenbewegung einiges erreicht:[5] von der schrittweisen Entschärfung und schließlich endgültigen Abschaffung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs, mit dem Homosexualität kriminalisiert wurde, im Jahr 1994 bis zur Ehe für alle im Jahr 2017. Doch obwohl auch die gesellschaftliche Offenheit seither gewachsen ist, befinden sich queere Menschen noch immer in der Position mehr oder weniger akzeptierter Außenseiter. Dazu muss man gar nicht nach Polen schauen, wo sich ganze Gemeinden mit Unterstützung der homophoben Regierungspartei PiS als „LGBT-freie Zonen“ deklarieren. Allzu oft ist auch in der Bundesrepublik ein Outing nach wie vor mit massiven beruflichen Nachteilen, offenen Anfeindungen, wenn nicht gar Übergriffen verbunden. Bislang hat beispielsweise kein aktiver Profifußballer diesen Schritt gewagt, Politiker wie Klaus Wowereit und Guido Westerwelle oder die Talkmasterin Anne Will gingen ihn wohlweislich erst, als sie schon etabliert waren. Umso bedeutsamer war im Februar das kollektive Outing von 185 deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern der Initiative ActOut.[6]

Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf den Rassismus. Das gilt insbesondere in einer Gesellschaft wie der deutschen, die bis heute ihre koloniale Vergangenheit kleinredet, sich erst 1999 unter heftigem Streit von der Vorstellung verabschiedet hat, dass Staatsbürgerschaft primär durch Abstammung erworben wird, und lange gebraucht hat, um sich selbst als das Einwanderungsland zu begreifen, das sie seit den 1950er Jahren ist. Immerhin hat nun eine Debatte über diese Themen an Fahrt aufgenommen, die Betroffene lange eingefordert haben. Sie ließ sich angesichts der gesellschaftlichen Realitäten aber auch kaum noch aufschieben: Inzwischen haben 26 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, unter Jüngeren und Städtern sind es deutlich mehr. Wie sehr diese Selbstverständigung aber noch in den Kinderschuhen steckt, zeigt sich schon an der Sprache, die Anleihen aus der avancierteren angelsächsischen Debatte machen muss, weil eigene Begriffe fehlen: „Das deutsche Wort für People of Colour lautet übrigens: People of Colour“, bemerkt treffend die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal.[7]

Gleichzeitig hat der Rassismus immer auch eine mörderische Qualität, wie zuletzt das Attentat von Hanau gezeigt hat. Wie zuvor schon die Anschlagsserie des NSU sollte auch diese Gewalttat ein Gefühl von Schutzlosigkeit erzeugen. Die Autorin Aida Baghernejad schreibt: „Kein Pass, kein Titel, kein Kapital, keine Errungenschaft schützt uns davor, immer wieder als die Fremden gesehen zu werden. Als die, die eigentlich nicht dazugehören. Ich muss nicht regelmäßig in Shishabars gehen, um die Nachricht des Terroristen aus Hanau und all jener, die seinen Hass fütterten, zu verstehen.“[8] Angesichts dessen wirkt es mindestens irritierend, „linke“ und „rechte Identitätspolitik“ in einem Atemzug zu kritisieren, wie es auch Wolfgang Thierse in seinem vieldiskutierten FAZ-Beitrag tut – erweckt dies doch den Eindruck einer Äquidistanz zwischen Rassisten und Antirassisten, die gerade ein engagierter Antifaschist wie Thierse nicht intendiert haben kann.

Die Dialektik der Identitätspolitik

Diese Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt machen Identitätspolitik nötig – und zwar in einem dialektischen Sinne: Wer nicht dauerhaft auf eine bestimmte Identität reduziert werden will, muss genau diese Identität temporär verstärken. Um ein besonders krasses Beispiel zu wählen: Wenn ein Afroamerikaner in den Augen so manches US-Polizisten in erster Linie nicht ein Mitbürger, sondern ein Schwarzer ist und als solcher misshandelt und sogar getötet wird, dann trifft das Anmahnen eines universellen Rechts auf körperliche Unversehrtheit nicht den Kern des Problems. Denn gefährdet sind eben nicht alle gleichermaßen, sondern gerade schwarze Leben. Deshalb lautet die Forderung auch zu Recht „Black Lives Matter“. Und deshalb ist die Selbstorganisation von Afroamerikanern wichtig: für die politische Sichtbarkeit und das Empowerment einer bedrängten Bevölkerungsgruppe.

Diesen Zusammenhang verkennen oftmals selbst grundsätzlich aufgeschlossene Menschen wie die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan, die jüngst „kollektive Identitäten“ pauschal als selbstgewählte Abschottung gegenüber der Gesellschaft deutete.[9] Im Falle von Minderheiten ist es aber genau umgekehrt: Die alltägliche und oft strukturelle Diskriminierung verhindert, dass ihre Angehörigen als Individuen – oder emphatischer: als Bürgerinnen und Bürger – gesehen werden. Stattdessen wird ihnen von außen allzu oft ein kollektives Etikett angeheftet: Muslima, Schwuler, Migrantin. Kurz: Sie werden ent-individualisiert und zu „den Anderen“ gemacht. Um irgendwann einfach nur Individuum oder Bürgerin sein zu dürfen, müssen sie daher einen Zwischenschritt gehen und als Vertreter dieser Identitäten Rechte und Repräsentation einfordern. Die Autorin Şeyda Kurt bringt das so auf den Punkt: „Wir wollen uns nicht essenzialisieren lassen durch gewisse Identitäten, wir wollen sie strategisch einsetzen.“[10]

Das hat wenig gemein mit dem utopischen Überschuss, der die Kulturrevolution der 1960er Jahre kennzeichnete. Hoffte Herbert Marcuse damals noch, „Randgruppen“ wie die Afroamerikaner könnten eine revolutionäre Avantgarde bilden und glaubte Michel Foucault, Schwule und Psychiatriepatienten würden letztlich zwangsläufig mit Arbeitern und Studierenden den Kapitalismus herausfordern, so sind die heutigen Engagierten – bei allen Unterschieden zwischen ihnen – zumeist weit weniger radikal: Sie wollen nicht eine ganz andere, sondern vor allem eine bessere Gesellschaft. Ihre Forderungen sprengen meist nicht den Rahmen liberaldemokratischer Gesellschaftsordnungen, sondern nehmen lediglich deren Versprechen ernst.

Die Forderungen von ActOut bieten hierfür ein gutes Beispiel: Wäre es heute bereits selbstverständlich, dass eine lesbische Schauspielerin jede Rolle, also auch die heterosexueller Frauen, spielen kann, und gäbe es gleichzeitig mehr und vielfältigere lesbische Charaktere in Film und Fernsehen, dann wäre das eigene Begehren kein berufliches Hindernis mehr. Das wäre ein Schritt in eine neue Normalität, in der Menschen sich nicht mehr für ihre sexuelle Orientierung rechtfertigen müssen – und würde zugleich dazu beitragen, die Debatten um sexuelle Identitäten zu entpolitisieren. Erstritten werden soll heute also nicht nur die Anerkennung von Minderheitenrechten oder Toleranz für abweichendes Begehren – das wurde schon nach 1968 eingefordert und ist auf eine prekäre Weise etabliert. Jetzt geht es um den Weg in eine Gesellschaft, in der Heterosexualität nicht mehr die unhinterfragte Norm bildet, sondern bloß eine gleichberechtigte Orientierung unter anderen. Oder allgemeiner: Es geht nicht darum, dass die Mehrheit den Minderheiten gütig Rechte gewährt, sondern dass sie sie als gleichrangig ansieht.

Das zielt auch auf materielle Verbesserungen: auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, auf Einstellungspraktiken, bei denen allein die Qualifikation entscheidet – und nicht der Nachname –, und auf das alte bundesrepublikanische Versprechen eines Aufstiegs durch Arbeit. Identitätspolitik steht also nicht zwangsläufig im Gegensatz zu Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. Denn selbst wenn sich in den jüngsten Debatten, wie bei den meisten sozialen Bewegungen, vor allem die gebildete Mittelschicht zu Wort meldet, so leiden auch niedrig entlohnte Beschäftigte im Dienstleistungssektor unter rassistischer oder sexistischer Diskriminierung. Dass viele in der Coronakrise systemrelevante und damit plötzlich gefährliche Jobs – in der Pflege, an der Supermarktkasse, in der Gastronomie – in erheblichem Maß von Frauen und Migranten verrichtet werden, ist jedenfalls kein Zufall.

Ein anderer Gegensatz ist gravierender: der zwischen den Generationen. Denn deren Einstellungen und Werte unterscheiden sich teilweise deutlich, wie eine aktuelle Umfrage aus der Deutschschweiz zeigt, deren Ergebnisse sich mit denen aus anderen westlichen Ländern decken. Dort bezeichnet sich inzwischen mehr als die Hälfte der Frauen unter 35 Jahren als Feministin, bei den älteren aber nur etwas mehr als ein Drittel. Immerhin 40 Prozent der jungen Frauen ist die konsequente Verwendung einer geschlechtsneutralen Sprache wichtig, ab 35 Jahren aufwärts fordert dies hingegen nur noch gut jede Fünfte.[11] Das spiegelt den kulturellen Wandel der vergangenen Jahrzehnte wider: Die Jüngeren sind mit den Errungenschaften der Jahre nach 1968 aufgewachsen und geben sich nicht mit Verhältnissen zufrieden, die für ihre Eltern und Großeltern aufgrund anderer Erfahrungen noch immer mindestens akzeptabel sind. Der heutige Generationenkonflikt resultiert damit nicht zuletzt aus unterschiedlichen Erwartungen.

Das gilt auf besondere Weise für die Kinder der Gastarbeiter: Ihre Eltern haben über viele Anfeindungen hinweggesehen, weil sie vor allem dankbar für die Chance waren, sich ein auskömmliches Leben zu sichern und ihren Kindern den Aufstieg zu ermöglichen. Diese wiederum haben ein stärkeres Selbstbewusstsein ausgeprägt, das höhere Bildung oft mit sich bringt, und akzeptieren daher nicht mehr so ohne weiteres eine untergeordnete Rolle.

Die Angst vor dem Statusverlust

Doch wie jede (Kultur-)Revolution ruft auch diese zuverlässig eine Konterrevolution auf den Plan – im Fall der USA beinahe ganz wörtlich: Der Putschversuch vom 6. Januar war auch ein Aufbäumen reaktionärer Kräfte gegen den gesellschaftlichen Wandel – von einer verrohten unteren Mittelschicht bis hin zu ihren vermögenden finanziellen Unterstützern.[12] Getragen wurde es überwiegend von Männern mittleren Alters, wie die bisher ergangenen Haftbefehle nahelegen,[13] angetrieben von älteren, mächtigen Männern wie Donald Trump und Rudy Giuliani. Auch außerhalb der USA zeugt die enorme Gewalt dieser Milieus – die Aggressionen insbesondere gegen exponierte Frauen[14] mit Migrationshintergrund aus Medien und Politik, die queerfeindlichen Übergriffe, die Brandanschläge auf Geflüchtete – nicht zuletzt von dem Wissen, dass sie ihre Vorstellung von Gesellschaft auf demokratischem Weg kaum noch durchsetzen können. Daher flüchten sie so oft in die Phantasmen einer angeblichen Verschwörung übermächtiger kosmopolitischer Eliten, um so ein Widerstandsrecht für sich reklamieren zu können.

Jedoch reagieren keineswegs nur ausgemachte Reaktionäre mit Abwehr auf den gesellschaftlichen Wandel, sondern selbst Liberale und Linke. Dabei vermischen sich drei Motive: die verständliche Sorge um das Debattenklima, die oft uneingestandene Angst vor Statusverlust und die berechtigte Verteidigung einer universalistischen Tradition. So erleben wir derzeit, erstens, dass die Kritik von allen Seiten schroffer formuliert wird, als es inhaltlich nötig wäre, und vermittelnde Stimmen in der Minderheit bleiben. Das ist typisch für Generationenkonflikte: Wo die Einen sich, oft zu Recht, unverstanden fühlen, sehen sich die Anderen angegriffen. Denn politische, ökonomische und diskursive Macht liegt eher bei Männern – und seltener Frauen – mittleren bis fortgeschrittenen Alters, während die aufbegehrenden Jüngeren ihren geringeren Einfluss teils mit polemischen Angriffen auf die Älteren ausgleichen und diese rituell als „alte weiße Männer“ abqualifizieren.

Deren Abwehr wiederum gilt nicht nur dem scharfen Ton in den sozialen Medien, sondern ist, zweitens, auch eine implizite Verteidigung ihrer angestammten Position. Denn mit dem Aufkommen neuer Themen sowie neuer Sprecherinnen und Sprecher werden immer auch etablierte Erklärungsmuster und Autoren verdrängt. Fast schon mustergültig zeigte sich das, als im Herbst 2019 so mancher deutsche Feuilletonist den Nobelpreis für Peter Handke feierte. Diese Würdigung galt dem einstigen ästhetischen Erneuerer, dessen romantisierende Fürsprache zugunsten des serbischen Regimes während des Jugoslawienkrieges in den 1990er Jahren nicht seine Preiswürdigkeit schmälern sollte. Dass diese Sicht nicht unwidersprochen blieb, lag nicht zuletzt am Einspruch von Saša Stanišić, dessen Familie von jenen Leuten vertrieben wurde, deren Gräueltaten Handke nicht sehen will. Stanišić sprach nicht nur als ehemaliger Kriegsflüchtling, sondern als deutscher Schriftsteller und Buchpreisträger – als eine Stimme von innen also, die man nicht ignorieren konnte. Die Interventionen von Autorinnen und Autoren wie Stanišić, Jagoda Marinić oder Krsto Lazarević zeigen zugleich, wie sehr sich der deutsche Diskurs europäisiert hat. Südosteuropa ist näher gerückt, und der Genozid an den bosnischen Muslimen in Srebrenica beansprucht einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur. Diese größere Stimmenvielfalt ist eine Bereicherung – fordert aber bestehende Deutungsmonopole heraus.

Doch die Etablierten haben dabei mehr zu verlieren als ihre Diskurshoheit: „Der Verlust von bestimmten Privilegien ist kein unangenehmer Neben­effekt, sondern ein Kern emanzipativer Politik“, schreibt die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach programmatisch.[15] Wenn nämlich endlich mehr Frauen, queere Menschen oder People of Colour in Dax-Vorstände einziehen, auf Professuren berufen oder Chefredakteurinnen werden, würde das die gesellschaftlichen Realitäten besser widerspiegeln – für die heutigen Eliten aber Einbußen bedeuten. Auch deswegen fällt die Abwehr gegenüber Identitätspolitik zuweilen so heftig aus.

Allerdings lässt sich die Kritik an identitätspolitischen Debatten, drittens, nicht auf Statuspanik reduzieren. Denn im heutigen Aktivismus finden sich auch äußerst dogmatische Tendenzen. So wird der berechtigte Hinweis, dass ein bestimmtes Erfahrungswissen – als Arbeiterkind, Transperson oder Schwarzer – wichtig ist, gelegentlich derart überhöht, dass Argumente nur noch zählen, wenn sie aus der richtigen Sprecherposition vorgebracht werden. Bestes Beispiel dafür ist die Debatte um „kulturelle Aneignung“, in der Überlieferungen und kulturelle Traditionen oft nicht als geistiges Eigentum der Menschheit gelten, sondern als exklusives Gut bestimmter Gruppen.

Der Irrweg des Essenzialismus

Wie umstritten – aber auch wie komplex – diese Fragen sein können, zeigte sich kürzlich in den Niederlanden: Das Verlagshaus Meulenhoff hatte sich die Rechte an dem Gedicht „The Hill We Climb“ gesichert, mit dem Amanda Gorman bei Joe Bidens Amtseinführung für Furore gesorgt hatte. Mit der Übersetzung betraute es Marieke Lucas Rijneveld, einen Shootingstar der niederländischen Literatur, der*die (Rijneveld ist nicht-binär) mit gerade einmal 29 Jahren schon den renommierten Booker Prize gewonnen hat. Doch nach empörten Reaktionen in den sozialen Medien verzichtete Rijneveld – immerhin Gormans Wahl – auf den Auftrag.[16] Die Vorbehalte gegen Rijneveld brachte die Kuratorin und Aktivistin Janice Deul so auf den Punkt: Warum habe der Verlag die Übersetzung nicht an jemanden vergeben, die „eine Spoken-Word-Künstlerin ist, jung, Frau und: unapologetically Black?“[17]

In Deuls Kritik vermischen sich drei Argumente, von denen eines extrem fragwürdig ist: Sie weist, erstens, darauf hin, dass Gormans Gedicht auch stark von ihrem Sprachrhythmus lebt und daher Spoken-Word-Künstlerinnen bei der Nachdichtung gewisse Vorteile hätten, unter denen es, zweitens, einige schwarze Frauen gibt, denen durch die ursprüngliche Wahl ein prestigeträchtiger Auftrag entging. Dass Schwarze gerade aufgrund solcher verlegerischer Entscheidungen im europäischen Literaturbetrieb unterrepräsentiert sind, ist ein unbestreitbares Problem. Schwarze haben zudem ein Erfahrungswissen über Rassismus, das Weißen schlicht fehlt. Doch die Kritik an Rijneveld ging über diese berechtigten Punkte hinaus und mündete, drittens, in einer problematischen Schlussfolgerung: Nur eine schwarze Frau könne die schwarze Dichterin Gorman treffend übersetzen.

Wenn aber auf diese Weise Identität als etwas Festes und Abgeschlossenes begriffen wird, droht jene Übersetzungsleistung, die Rijneveld auf literarischer Ebene leisten wollte, auch in der Gesellschaft verloren zu gehen. Das aber untergräbt ganz grundlegend Empathie und universelle Erkenntnis.[18] Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat dies in einem anderen Zusammenhang treffend den „Irrweg“ des Essenzialismus genannt: „die Entscheidung für eine imaginierte Reinheit, ein Festhalten an einem irrealen Wesen, ein Bestehen auf einer einzigen Bedeutung von Kategorien, deren Sinn offen und anfechtbar bleiben sollte“.[19]

Letztlich geht es dabei um die Frage, wer authentisch genug ist, um in einer konkreten Sache sprechen zu dürfen. Nicht ohne Grund wird dies derzeit immer wieder hitzig diskutiert, prallen dabei doch alte Machtstrukturen auf einen neuen Rigorismus. So trifft der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller einerseits einen wunden Punkt, wenn er schreibt: „Sich selbst als liberal deklarierende Akteure sagen, es gehe wie in einem Debattierclub vor allem darum, alle Argumente zu hören. [...]. Aber es geht manchmal eben auch darum, wer Zugang zum Club hat und bei wem sich alle abwenden, sobald sie den Mund aufmacht. Wer über Macht gar nicht erst reden will, hat sie meistens selbst fest im Besitz.“[20] Es ist also wichtig, dass Marginalisierte zunehmend in die Debatte vordringen. Doch wer im Beharren auf Authentizität einzelnen Sprecherinnen und Sprechern pauschal die Berechtigung, sich zu bestimmten Themen zu äußern, abspricht, reklamiert – auf ziemlich autoritäre Weise – selbst eine Machtposition.

Das gilt umso mehr, wenn dies mit der Störung oder gar Verhinderung öffentlicher Auftritte durchgesetzt wird. Auch hier zeigt sich eine Parallele zu 1968, als solche Aktionen ebenfalls zum Repertoire gehörten und sich schon damals auch gegen vermeintliche Abweichler aus den eigenen Reihen richteten. Das ist allerdings keine „Cancel Culture“, wie oft behauptet wird: In seiner Unschärfe ist dieser Begriff, unter den ziemlich disparate Phänomene subsummiert werden – etwa Shitstorms auf Twitter oder verlegerische Entscheidungen zulasten rechtsoffener Autoren –, eher vernebelnd als erhellend. Aktivistischer Rigorismus sollte nicht mit tatsächlicher Zensur verwechselt werden. Dogmatismus allein ist schon schlimm genug – und hat noch jedem guten Anliegen geschadet. Die Selbstorganisation von Diskriminierten ist zu bedeutsam, um sie durch die Flucht in den Essenzialismus zu beschädigen.

Denn noch leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der alle „ohne Angst verschieden sein können“ (Adorno). Besonders drastisch zeigen dies der Rechtsterrorismus der vergangenen Jahre – aber auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Bluttaten. So schreibt Mithu M. Sanyal im Nachwort zu ihrem Roman „Identitti“: „Es geht nicht darum, dass wir die Toten von Hanau und alle anderen Opfer von Rassismus und anderer Diskriminierung betrauern sollen, weil sie außergewöhnlich sind – das ist zwar die Art ihres Todes –, sondern weil sie gewöhnlich sind: Sie waren und sind normale Bürger*innen dieses Landes [...]. Wir alle sind diese Gesellschaft.“[21]

Solange diese Einsicht nicht selbstverständlich ist, wird – und muss – es Identitätspolitik geben. Wer demgegenüber fürchtet, diese müsse zum Zerfall der Gesellschaft in Partikularinteressen und Kleingruppen führen, sollte sich fragen, was die Alternative ist: Sollen sich die Minderheiten einordnen und fügen oder sich – sofern das überhaupt möglich ist – unsichtbar machen? Höchste Zeit also, den Zugewinn an gesellschaftlicher Vielfalt endlich anzunehmen und zu gestalten. Dazu aber braucht es einen Dialog jenseits von kategorialer Abwehr und identitären Abschließungen.

[1] Wolfgang Thierse, Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 22.2.2021.

[2] Vgl. Discours du Président de la République sur le thème de la lutte contre les séparatismes, www.elysee.fr, 2.10.2020.

[3] Vgl. The Combahee River Collective Statement, www.combaheerivercollective.weebly.com.

[5] Manfred Bruns, Die Schwulenbewegung in Deutschland. Von § 175 über die neuen Schwulengruppen zur Bürgerrechtsbewegung, www.lsvd.de.

[6] Vgl. „Wir sind schon da“, in: „Süddeutsche Zeitung Magazin“, 5/2021.

[7] Mithu M. Sanyal, Suddenly, it’s OK to be German and to talk about race, www.theguardian.com, 18.9.2019.

[8] Aida Baghernejad, Und am Ende steht Hanau, www.spex.de, 24.2.2020.

[9] Gesine Schwan, Wider das Gift kollektiver Identität, in: „Süddeutsche Zeitung“, 27./28.2.2021.

[10] In der Sendung „Studio M – Monitor“, www.youtube.com, 4.3.2021.

[11] Cyril Bosshard, Sarah Bütikofer, Michael Hermann und David Krähenbühl, annajetzt – Frauen in der Schweiz, Zürich 2021.

[12] Igor Derysh, How one billionaire family bankrolled election lies, white nationalism – and the Capitol riot, www.salon.com, 4.2.2021.

[13] Program on Extremism, „This is Our House!” A Preliminary Assessment of the Capitol Hill Siege Participants, Washington 2021.

[14] Susanne Kaiser, Gekränkt und militant: Der Angriff der Maskulinisten, in: „Blätter“, 3/2021, S. 79-88.

[15] Franziska Schutzbach, Wer oder was wird „gecancelt“?, www.republik.ch, 14.8.2020.

[16] Alison Flood, ‚Shocked by the uproar’: Amanda Gorman’s white translator quits, www.theguardian.com, 1.3.2021.

[17]  Janice Deul, Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk, www.volkskrant.nl, 25.2.2021.

[18] Thomas Assheuer, Es geht um den Universalismus, in: „Die Zeit“, 7/2020.

[19]  Kwame Anthony Appiah, Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, Berlin 2019, S. 135.

[20]  Jan-Werner Müller, Die Mär von der illiberalen Linken, www.ipg-journal.de, 13.8.2020.

[21]  Mithu M. Sanyal, Identitti, München 2021, S. 424.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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