Ausgabe August 2021

Nach dem Balkonapplaus: Pflegereform ohne Weitblick

IMAGO / Christian Ohde

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Die Probleme in der Altenpflege sind bekanntlich groß und zahlreich – und sie werden weiter wachsen. Daran ändern auch die jüngst beschlossenen Neuregelungen der Pflegefinanzierung kaum etwas. Zu den größten Herausforderungen zählen erstens ein Fachkräftemangel, der sich bei der absehbar steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen noch verstärken wird, und zweitens die hohe finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen selbst. Daher bedarf es eines grundsätzlichen Wandels, um die Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen.

Denn der eklatante Fachkräftemangel ist vor allem die Folge schlechter Arbeitsbedingungen in der Branche: Die Beschäftigten klagen über hohe körperliche und psychische Belastungen, über eine starke Arbeitsverdichtung, ungünstige Arbeitszeiten und niedrige Gehälter.[1] Die permanente Unterbesetzung in der stationären und ambulanten Pflege tut ein Übriges, um deren Belastungen zu erhöhen. Zwar sind die Gehälter in der Altenpflege, vor allem aufgrund politischer Interventionen, in den vergangen Jahren stärker gestiegen als in der Gesamtwirtschaft, bleiben aber weit davon entfernt, angemessen oder gar attraktiv zu sein: Das mittlere Bruttomonatseinkommen einer Vollzeit-Pflegefachkraft lag im Jahr 2019 bei lediglich 3034 Euro, das einer Pflegehilfskraft bei 2146 Euro.[2] Nur 40 Prozent der Pflegeheime und lediglich 26 Prozent der ambulanten Pflegedienste zahlten im Jahr 2018 die tariflich vereinbarten Löhne, die selbst dringend erhöht werden müssten.[3] Doch schon allein die bestehenden Tariflöhne würden den Pflegebeschäftigten nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums bis zu 300 Euro mehr pro Monat bescheren.[4]

Die unzureichende Bezahlung sagt mehr über die gesellschaftliche Anerkennung der Pflegekräfte aus als der wohlfeile Balkonapplaus und die öffentlichen Lobreden während der Corona-Pandemie. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass viele Pflegekräfte in ihrer Arbeit eine Sinnkrise erleben und sich mit dem Gedanken an einen Berufsausstieg tragen.

Unzureichende Trippelschritte

Immerhin hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren einige Regelungen verabschiedet, um die Bedingungen in der Altenpflege zu verbessern. Dazu zählen zum einen aufgestockte Mittel für zusätzliche Stellen in der stationären Pflege, die von den Krankenkassen getragen werden. Zum anderen wurden die Mindestlöhne für die Beschäftigten erhöht – diese liegen seit dem 1. Juli 2021 für Pflegefachkräfte bundeseinheitlich bei 15 Euro und für Pflegehilfskräfte ab dem 1. September 2021 bei 12 Euro pro Stunde und sollen in den nächsten Jahren weiter steigen.[5] Zudem wird in den vollstationären Pflegeeinrichtungen schrittweise ein Verfahren etabliert, mit dem das tatsächlich benötigte Personal bemessen wird. Allerdings kann dieses Instrument nur dann erfolgreich sein, wenn es auch eine entsprechende Zahl an qualifizierten Pflegekräften gibt. Insgesamt bleiben Reichweite und Tempo der beschlossenen Maßnahmen deutlich hinter den Erfordernissen zurück. Klar ist: Wenn sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung nicht grundlegend verbessern, wird der Fachkräftemangel nicht zu beheben sein – und sich sogar weiter verschärfen.

Das zweite Problem, die hohen Kosten für die Pflegebedürftigen, liegt an der Konstruktion der Pflegeversicherung selbst: Sie sieht bekanntlich nur eine Teilkostenübernahme bei Pflegebedürftigkeit vor. Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen ist in den letzten Jahren kräftig gestiegen, insbesondere in der stationären Pflege. Im ersten Quartal 2021 lag die durchschnittliche finanzielle Belastung je Heimbewohner bei immerhin 2135 Euro im Monat, von denen 894 Euro auf die reinen Pflegekosten, 785 Euro auf Unterkunft und Verpflegung sowie 456 Euro auf die Investitionskosten entfielen.[6]

Demgegenüber lag die durchschnittliche gesetzliche Rentenzahlung Mitte 2020 abzüglich der Kranken- und Pflegebeiträge bei 988 Euro im Monat.[7] Es ist offenkundig, dass der Eigenanteil insbesondere für die vollstationäre Pflege einen erheblichen Teil der Pflegebedürftigen finanziell überfordert.

Ein Dilemma: Steigende Ausgaben, klamme Kassen

Dies lässt sich auch daran ablesen, dass wieder mehr Pflegebedürftige von Sozialhilfe abhängig sind, nachdem ihre Zahl in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zwischenzeitlich gesunken war. So erhielten Ende 2019 gut 300 000 Menschen Hilfe zur Pflege, darunter rund 250 000 Personen, die in Einrichtungen gepflegt wurden.[8] Damit waren immerhin rund 30 Prozent der Heimbewohner von staatlicher Hilfe abhängig.

Eines der wichtigsten Ziele bei der Einrichtung der Pflegeversicherung – die drastische Reduzierung der pflegebedingten Abhängigkeit von der Sozialhilfe mit all ihren formalen Hürden und aufwendigen Prozeduren – ist damit in weite Ferne gerückt. Aber das Problem endet nicht dort, wo Pflegebedürftigkeit in die Abhängigkeit von Sozialhilfe führt. Auch viele Angehörige, die den Eigenanteil aus laufenden Einkommen oder Rücklagen tragen können, büßen durch die Kostenbeteiligung an Lebensqualität ein oder landen sogar in der Armut. Zwar sind seit Anfang 2020 immerhin Kinder mit einem Jahreseinkommen bis unter 100 000 Euro nicht mehr zur Übernahme des Eigenanteils für ihre pflegebedürftigen Eltern verpflichtet, aber für Ehepartnerinnen und -partner gilt dies nicht.

Die Bundesregierung steht also vor einem Dilemma: Einerseits sind höhere Ausgaben nötig, um Fachkräfte zu halten und zu gewinnen, wodurch erhebliche Mehrkosten entstehen. Diese wird man andererseits aber kaum den Pflegebedürftigen aufbürden können, die ohnehin schon derart stark belastet sind, dass eigentlich eine Reduzierung des Eigenanteils auf der Tagesordnung stünde. Ein höherer Pflegeversicherungsbeitrag wiederum ist politisch nicht erwünscht, unter anderem weil dadurch die politisch gesetzte Marke eines höchstens 40prozentigen Anteils der Sozialversicherungsbeiträge an den Lohnkosten gefährdet wäre.[9]

Das Pflegereförmchen

Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktionen im „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ vom 11. Juni dieses Jahres unter anderem die Pflegefinanzierung ab 2022 novelliert. Vorrangiges Ziel dabei ist, den Eigenanteil in der stationären Pflege zu reduzieren, wofür aus der Pflegeversicherung höhere Zuschüsse an die Einrichtungen fließen sollen. Im ersten Jahr des Heimaufenthalts soll der Eigenanteil an den Pflegekosten im Vergleich zu heute um 5 Prozent sinken, im zweiten um 25 Prozent, im dritten um 45 Prozent und ab dem vierten um 70 Prozent. Hinzu kommt, dass die Pflegekassen ab September 2022 neue Versorgungsverträge nur noch mit solchen Einrichtungen abschließen dürfen, die ihre Beschäftigten nach Tarifverträgen oder mindestens in vergleichbarer Höhe entlohnen.

Bezahlt werden soll all das aus unterschiedlichen Quellen: Zunächst verzichtet die Bundesregierung auf die ursprünglich geplante Dynamisierung von Leistungen für alle Pflegebedürftigen. Diese Anhebungen sind in mehrjährigen Abständen vorgesehen, um den mit der Preisentwicklung einhergehenden Kaufkraftverlust zu kompensieren. Die Bundesregierung hatte dafür Ende 2020 vorgesehen, die Zahlungen für erbrachte Leistungen um fünf Prozent zu erhöhen.[10] Ferner soll es einen jährlichen steuerfinanzierten Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung in Höhe von einer Milliarde Euro geben, das entspricht knapp zwei Prozent der Gesamtausgaben der sozialen Pflegeversicherung in 2020. Der allgemeine Beitrag zur Pflegeversicherung bleibt unverändert bei 3,05 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens, aber der Zusatzbeitrag für Kinderlose ab dem vollendeten 23. Lebensjahr soll von 2022 an um 0,1 Prozentpunkte auf 0,35 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens steigen.

Die Bundesregierung scheint sich immerhin zunehmend des Problems bewusst zu sein, allerdings reichen die jüngsten Beschlüsse längst nicht aus. So fällt die Entlastung der Pflegebedürftigen insgesamt viel zu schwach aus und dürfte überdies nur kurzfristig wirksam sein. Kritikwürdig ist dabei nicht nur die Höhe der jährlichen Eigenanteile vor allem in den ersten beiden Jahren des Heimaufenthalts, sondern auch, dass an einer prozentualen Kostenbeteiligung festgehalten wird.[11] Noch im Oktober 2020 wollte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Eigenanteil deckeln.

Hinzu kommt, dass die pflegebedingten Ausgaben in den nächsten Jahren weiter steigen werden. Dies liegt an teilweise schon zuvor beschlossenen Verbesserungen bei Bezahlung und Personalausstattung. Die dadurch steigenden Gesamtkosten werden die Pflegebedürftigen weiterhin mittragen müssen: Auf sie entfallen nach wie vor rund 61 Prozent der Mehrkosten, während die Pflegeversicherung nur 39 Prozent trägt.[12] Die reale Entlastung fällt somit deutlich geringer aus, als die beschriebenen Prozentwerte suggerieren, und „schon 2023 erreichen die Eigenanteile […] wieder den aktuellen Wert“.[13]

Ferner wird ein erheblicher Teil der Mehrkosten durch den erwähnten Verzicht auf die Leistungsdynamisierung finanziert, die allen Pflegebedürftigen, auch den ambulant versorgten, zugute gekommen wäre. Zwar werden die Leistungen für Bezieher von Pflegesachleistungen ab 2022 um fünf Prozent angehoben, nicht aber die Leistungen für die Bezieher von Pflegegeld, also derjenigen, die von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt werden. Insofern werden die Leistungsanhebungen in der vollstationären Pflege de facto durch eine Umverteilung zwischen den Pflegebedürftigen aufgebracht werden. Damit sind insbesondere all jene, die zu Hause pflegen, sogar schlechter gestellt, als dies mit der ursprünglich vorgesehenen Leistungsdynamisierung und ohne die aktuelle Reform der Fall gewesen wäre.

Ausweg Pflegebürgerversicherung

Ungeachtet dieser Einwände wies der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen darauf hin, dass die geplante Gegenfinanzierung schon jetzt eine Finanzierungslücke von rund zwei Mrd. Euro aufweise. Schließlich ist unklar, ob die Bestimmungen zur Tarifbindung zum gewünschten Ergebnis führen. So kritisiert die Gewerkschaft Verdi, dass das Gesetz keine Regelungen vorsieht, mit denen ein Abschluss von Tarifverträgen zwischen Arbeitgebern und sogenannten gelben, arbeitgebernahen Gewerkschaften mit unfairen Löhnen unterbunden werden kann. Um die längst bekannten und immer virulenter werdenden Probleme im Pflegebereich zu lösen, bedarf es einer Reform an Haupt und Gliedern, die sowohl das Leistungsrecht als auch die Finanzierung der Pflegeversicherung einschließt.

Eine solche Reform müsste zweierlei beinhalten: die Einführung einer Pflegebürgerversicherung, die die bisher getrennten Systeme der gesetzlichen und der privaten Pflegepflichtversicherung zusammenführt, und die Umstellung auf eine Vollfinanzierung der Pflegekosten. Eine solche Versicherung würde die Langzeitpflege auf eine breitere und solidere finanzielle Basis stellen, denn erstens zahlen privat Versicherte aufgrund ihrer im Durchschnitt deutlich höheren Einkommen auch entsprechend höhere Versicherungsbeiträge und zweitens sind die Pflegequoten bei privat Versicherten durchweg niedriger als bei gesetzlich Versicherten.

Zugleich würden bestehende Ungerechtigkeiten abgebaut, wenn Besserverdienende in einen gesamtgesellschaftlichen Solidarausgleich zur Finanzierung der Pflegeversicherung einbezogen würden. Je nach Ausgestaltung der Pflegebürgerversicherung könnten substanzielle Leistungsverbesserungen, bis hin zu einer Vollkostenfinanzierung, auch ohne Beitragssatzerhöhungen finanziert werden. Insbesondere eine kräftige Anhebung – oder gar Aufhebung – der Beitragsbemessungsgrenze zur Pflegeversicherung würde die finanziellen Handlungsspielräume erhöhen und bestehende Ungerechtigkeiten verringern.

Die von der Regierungskoalition durchgesetzte Reform der Pflegefinanzierung löst demgegenüber keines der großen Probleme. Bestenfalls hat sie der Pflegeversicherung eine kurze Atempause verschafft. Die Fragen nach strukturellen Veränderungen im Leistungsrecht und in der Finanzierung werden nach der Bundestagswahl sehr bald wieder auf die Tagesordnung kommen.

[1] Rolf Schmucker, Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen. Ergebnisse einer Sonderauswertung der Beschäftigtenbefragung zum DGB-Index Gute Arbeit, in: Klaus Jacobs u.a. (Hg.), Pflege-Report 2019: Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher?, Berlin 2020, S. 49-60; vgl. auch Jenny Weber, Pflege: Der alltägliche Ausnahmezustand, in: „Blätter“, 6/2020, S. 13-16.

[2] Bundesagentur für Arbeit, Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Nürnberg, Mai 2021, S. 8.

[3] Spahn: „Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre“, in: „Bild am Sonntag“, 4.10.2020.

[4] „Bis zu 300 Euro mehr für eine Pflegekraft“, Interview mit Hubertus Heil, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 8.5.2021.

[5] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Höhere Mindestlöhne für Beschäftigte in der Altenpflege. Pressemitteilung vom 29.1.2020, www.bmas.de.

[6] Heinz Rothgang und Thomas Kalwitzki, Pflegeversicherungsreform 2021 – Was muss geschehen und was geht noch?, in: „Gesundheits- und Sozialpolitik“, 2/2021, S. 6-15, hier: S. 7.

[7] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Die Rentenbestände in der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: 1.7.2020, Bonn 2021, S. 17.

[8] Statistisches Bundesamt, Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zur Pflege am Jahresende, www.destatis.de.

[10]  Bericht der Bundesregierung über die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung, BT-Ds. 19/25283, 9.12.2020.

[11] Heinz Rothgang, Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 7.6.2021, Ausschussdrucksache 19(14)347(20).

[12] Ebd.

[13] Ebd., S. 25.

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