
Bild: IMAGO / ITAR-TASS
Belarus befindet sich in einer Pattsituation: Seit der gefälschten Präsidentschaftswahl im August vergangenen Jahres protestieren Woche für Woche zigtausende Menschen landesweit gegen den Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko. Unzählige Menschen wurden bislang bei den Protesten verletzt, über 33 000 verhaftet, mehrere Menschen getötet und zahlreiche in der Haft misshandelt und gefoltert.[1]
Die Fronten sind klar: Auf ihrer Seite haben die Protestierenden eine landesweite Demokratiebewegung, die Solidarität der belarussischen Diaspora, die moralische Unterstützung vieler westlicher Regierungen sowie mit Swetlana Tichanowskaja eine Hausfrau und Mutter, die binnen weniger Wochen zur beeindruckenden Oppositionsführerin ihres Landes aufstieg.[2] Gegen sich haben sie einen zu allem entschlossenen Diktator, seinen Sicherheitsapparat, eine kalte Jahreszeit, eine alles überschattende Covid-19-Krise sowie den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Trotz beeindruckender Demonstrationen – auf dem Höhepunkt der Proteste gingen allein in Minsk jeden Sonntag mehr als 100 000 Menschen auf die Straße – konnten die Demonstrierenden Lukaschenko bisher weder zum Rücktritt zwingen noch Neuwahlen durchsetzen. Aber auch dem Diktator ist es bisher trotz massiver Polizeigewalt nicht gelungen, die Proteste zu unterdrücken. Umso mehr aber stellt sich die Frage, wie die staatliche Gewalt in Belarus gestoppt und Lukaschenko zum Einlenken bewegt werden kann.
Der letzte Diktator Europas – mit russischer Unterstützung
Lange Jahre hatte der autoritär-paternalistische „Batka“ (Landesvater) die Zustimmung eines nennenswerten Teils der Bevölkerung. Im Vergleich zum ineffizienten Oligarchenkapitalismus in Russland oder der Ukraine stand das Regime mit seinem Mix aus begrenzter Privatwirtschaft, Sowjettraditionen und fortgesetzter Subventionierung von Staatsbetrieben und Kolchosen insbesondere bei den Älteren und den sogenannten einfachen Leuten ganz gut da, während gleichzeitig junge urbane Mittelschichten Migration oder bessere Verdienstmöglichkeiten im dynamischeren Privatsektor für sich als individuelle Alternativen nutzten.
Freilich hätte dieses Modell nicht ohne die russischen Wirtschaftshilfen funktioniert, die Moskau in den vergangenen Jahrzehnten im Gegenzug für Minsks prorussische Außenpolitik gewährte. Auf russischer Seite bestehen geopolitische, militärstrategische sowie oligarchische Interessen: Für Moskau ist Belarus von strategischer Bedeutung für die landeseigene Luftverteidigung sowie für sein Selbstverständnis als regionale Hegemonialmacht. Russische Oligarchen sind an belarussischen Raffinerien, Chemiefabriken und Kali-Bergwerken interessiert. Der geschickt lavierende Lukaschenko erwirtschaftete mittels prorussischer Rhetorik bei gleichzeitigem Festhalten an nationaler Souveränität zwischen 2001 und 2016 umgerechnet mehr als 100 Mrd. US-Dollar an russischen Transferzahlungen.[3]
Doch in den vergangenen Jahren zeigte sich Russland zunehmend ungeduldig und verlangte energischer Fortschritte bei der staatlichen Integration beider Staaten, die seit den 1990er Jahren immer wieder verabredet, aber kaum praktiziert wurde.[4] Fallende Ölpreise, die EU-Sanktionen sowie kostspielige militärische Interventionen in Syrien und der Ukraine ließen zudem in Moskau das Geld knapp werden. Auch deshalb sank im Kreml die Bereitschaft, Belarus ohne harte Gegenleistungen mit verbilligten Öl- und Gaslieferungen zu unterstützen.
Allerdings hat Putins Entscheidung, seit 2019 die ökonomischen Daumenschreiben anzuziehen, ironischerweise wesentlich zur Schwächung Lukaschenkos beigetragen. Denn der Versuch, den eigensinnigen Diktator durch wirtschaftlichen Druck gefügiger zu machen, entzog diesem zugleich die Mittel, mit denen er seinen autoritären Paternalismus finanziert. Das weitgehende Versagen Lukaschenkos in der Covid-19-Krise tat sein Übriges: Die aus der Gesundheitskrise und der wirtschaftlichen Stagnationskrise resultierende Unzufriedenheit schlug nach dem dreisten Wahlbetrug endgültig in Massenprotest und den Ruf „Lukaschenka uchadi!“ (Hau ab!) um. Auf den Autoritätsverfall seiner moderaten Autokratie reagiert Lukaschenko seit August mit massiver Polizeigewalt.[5]
Lukaschenko hat verschiedene Vermittlungsangebote der EU, der OSZE sowie einzelner westlicher Regierungen strikt abgelehnt. Versuche der Protestbewegung, mit Russland ins Gespräch zu kommen, waren erfolglos. Offenbar ist in Moskau die Sorge groß, dass der Ruf der Freiheit von Minsk über St. Petersburg bis nach Moskau hallen könnte, weshalb sich der Kreml unnachgiebig zeigt.
Auch eine internationale Vermittlung lehnt Putin ab. Dabei böte ein gemeinsamer europäisch-russischer Vermittlungsprozess für Russland eine Chance, sich Europa wieder diplomatisch anzunähern. Stattdessen protestiert Moskau gegen eventuelle Westeinmischung und gibt gleichzeitig Lukaschenko wieder Sofortkredite, entsendet Medien- und Sicherheitsexpert*innen und droht den Demonstrierenden mit Intervention, falls die Proteste außer Kontrolle geraten.[6]
Europäische Sanktionen
Angesichts der festgefahrenen Lage richten sich die Bestrebungen der Protestbewegung zunehmend darauf, den internationalen Druck auf das Regime zu erhöhen. Polen und Litauen sowie EU-Kommissionsvorsitzende haben unmittelbar nach den Wahlen klar Stellung bezogen. Die Wahlen waren weder frei noch fair. Die Gewalt gegen Demonstrierende muss aufhören. Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden. Lukaschenko wird als Präsident nicht anerkannt. Die Forderung nach Neuwahlen wird unterstützt. Auch die Bundesregierung – traditionell geneigt, mit Russland eher Wege der Kooperation statt der Konfrontation zu suchen – hat sich nach anfänglicher Zurückhaltung und vergeblichen Gesprächsangeboten dieser Position angeschlossen.
Aufgrund des taktischen Widerstands Zyperns – Nikosia verlangte wegen der umstrittenen türkischen Erdgasbohrungen vor Zyperns Küste vergleichbare Sanktionen gegen Ankara – konnte sich der Rat der Europäischen Union allerdings erst am 2. Oktober auf die Verurteilung des gewaltsamen Vorgehens der belarussischen Behörden gegen die Demonstrierenden und erste Sanktionen gegen vierzig belarussische Personen, die zum inneren Zirkel der Minsker Regierung gehören, einigen. Zehn Tage darauf beschloss die EU die Neuausrichtung der Zusammenarbeit mit Minsk: Diese wird auf ein Minimum reduziert, die Unterstützung der Zivilgesellschaft ausgebaut und ein wirtschaftliches Hilfsprogramm für ein demokratisches Belarus in Aussicht gestellt.[7] Inzwischen hat die EU bereits das dritte Sanktionspaket gegen Belarus verhängt: Nunmehr unterliegen 78 Personen Einreisebeschränkungen und ihre Konten sind gesperrt. Zudem wurden eine Reihe von Staatsunternehmen – insbesondere Rüstungskonzerne – auf die Sanktionsliste gesetzt. Selbst unter dem Gesichtspunkt personenbezogener Sanktionen nehmen sich die beschlossenen Maßnahmen bescheiden aus. Sie könnten beispielsweise auf alle Führungspersonen in Polizei, Justiz, KGB, Präsidialverwaltung und staatlichen Medien ausgedehnt werden und die EU könnte veröffentlichen, wie viel Vermögen von wem eingefroren wurde.
Zivilgesellschaft von unten stärken
Die bisherigen Sanktionen sind zwar für die Protestbewegung ein Signal moralisch-politischer Unterstützung, aber sie haben mehr symbolischen Charakter als Durchsetzungsmacht. Niemand kann ernsthaft glauben, dass diese Strafmaßnahmen Lukaschenko zum Umdenken oder den Sicherheitsapparat zum Bruch mit dem Präsidenten bewegen könnten. Der Wirtschaftsberater der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja schlug daher am 15. Dezember eine Reihe von schärferen Wirtschaftssanktionen vor, mit der die internationale Gemeinschaft den Druck erhöhen könnte. Unter anderem solle die EU alle Kooperationen mit dem Staatssektor einfrieren, den Export von Waren jener belarussischen Privatunternehmen stoppen, die mit dem Regime verbunden sind, und jegliche Kooperation mit staatlichen belarussischen Banken einstellen. Sollten diese Maßnahmen keinen Erfolg haben und die Repressionen weitergehen, könnten auch die staatlichen Banken von Belarus vom SWIFT-System abgekoppelt werden.[8]
So verständlich die Forderung nach weiteren Verschärfungen nach Monaten brutalen Polizeiterrors auch sind, muss jedoch bezweifelt werden, dass sich damit etwas an der Pattsituation in Belarus ändert. Denn Sanktionen können ihre volle Wucht nur dann entfalten, wenn das Regime in Minsk über keinerlei Ausweichmöglichkeiten mehr verfügt – und das geht nur, wenn sich auch Russland und China an den Strafmaßnahmen beteiligen. Davon ist jedoch nicht auszugehen.
Was kann daher zusätzlich noch getan werden? Das Europaparlament verlieh der Protestbewegung Mitte Dezember den Sacharow-Preis für Menschenrechte, und bereits wenige Wochen zuvor hatte der Deutsche Bundestag eine umfassende Unterstützungsresolution für diese verabschiedet.[9] Wirkungsvolle Unterstützung müsste über solche – durchaus wichtigen – Wortbekundungen und symbolische Gesten hinausgehen.
Weitaus entscheidender sind Maßnahmen, die zu Veränderungen vor Ort in Belarus führen. Im Dezember hat die EU-Kommission dazu 24 Mio. Euro für ein Sofortprogramm zur Unterstützung der Zivilgesellschaft, unabhängiger Medien, für Stipendienprogramme sowie die Förderung von Klein- und Mittelunternehmen in Belarus bereitgestellt.[10] Die Mittelvergabe soll unter anderem durch das Programm European Endowment for Democracy erfolgen.[11] Es wurde eigens 2012 geschaffen, um in autoritär regierten Ländern demokratische Aktivist*innen zu unterstützen.
Die Förderung der belarussischen Zivilgesellschaft kann dabei allerdings nicht sinnvoll von Brüsseler oder Berliner Beamt*innen geleistet werden. Vielmehr bedarf es des zivilgesellschaftlichen Engagements von Europäer*innen für Belarus: Die neuen Bewegungen und Protestgruppen brauchen den Austausch und die Solidarität mit Gleichgesinnten aus Europa und insbesondere aus Osteuropa, um ihre eigenen Ideen weiterzuentwickeln und sich organisatorisch zu festigen. Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass ohne eine solche Konsolidierung keine demokratischen Gesellschaften erwachsen, sondern sich stattdessen ein politisches Vakuum auftut, das durch ein Geflecht aus Geld, Macht und Korruption gefüllt wird.
Wirtschaftshilfe für ein demokratisches Belarus
Die EU hat Hilfen zur wirtschaftlichen Unterstützung eines demokratischen Belarus in Aussicht gestellt und dabei die Wiederaufnahme der Gespräche über die Durchführung weiterer Reformen als notwendige Voraussetzung für die Makrofinanzhilfe der EU angeboten. Insgesamt klingt das Angebot für Wirtschaftshilfe in dem EU-Beschluss vom Oktober wie „Brüsselsprech“ für ein konventionelles Strukturanpassungsprogramm.[12]
Wer aber die Demokratie in Belarus tatsächlich stärken und den Menschen vor Ort Vertrauen und Hoffnung vermitteln will, der muss Hilfe vermeiden, die als Erstes zu einem massiven Anstieg von Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Armut führt. Dies gilt vor allem mit Blick auf Expert*innen, die in Übergangsgesellschaften allzu gerne ökonomische Schock- und Rosskuren empfehlen. Ein demokratisches Belarus zu fördern, darf nicht heißen, vor die Wahl zwischen Staatsbankrott und Umsetzung eines von IWF und EU ausgedachten Strukturanpassungsprogramms gestellt zu werden
Statt Marktgewalt zu entfesseln, sollte vielmehr das Verständnis dafür gestärkt werden, dass es in demokratischen Gesellschaften kein sich natürlich ergebendes Gemeinwohl gibt, sondern sich dieses über vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte erst konstituiert. Daher sollte die EU schon jetzt einem demokratischen Belarus den freien Zugang zum europäischen Markt zusagen. Außerdem sollte sie versprechen, Infrastrukturprogramme und Unternehmensgründungen zu fördern, und darüber hinaus finanzielle Hilfen ohne die üblichen Forderungen nach schneller Privatisierung, Streichung öffentlicher Daseinsvorsorge und Arbeitsmarktderegulierung anbieten.
Kurzum: Über Symbolpolitik hinaus müssen vor allem die Stärkung der Zivilgesellschaft, der Aufbau demokratischer Institutionen und eine inklusive wirtschaftliche Entwicklung zusammengedacht werden, um die Protestbewegung in Belarus zu stärken und in ihrem Kampf für eine demokratische Zukunft nach Lukaschenko zu
unterstützen.
[1] Vgl. Human Rights Situation in Belarus in 2020. Analytical Review by Viasna, www.spring96.org, 13.1.2021.
[2] Vgl. Svetlana Tikhanovskaya, I’m Trying to Topple Europe’s Last Dictator, www.youtube.com, 23.9.2020.
[3] Roland Götz, Staatskapitalismus à la Belarus, in: „Osteuropa“, 10-11/2020.
[4] Vgl. Jakob Wöllenstein, Unionsstaat „Bela-Russland“? Vereinigung vertagt, www.kas.de, 10.1.2021.
[5] Vgl. www.bti-project.org, 10.1.2021.
[6] Vgl. Putin says he could send police to Belarus if necessary, www.bbc.com, 10.1.2021.
[7] Vgl. Schlussfolgerungen des Rates zu Belarus, www.consilium.europa.eu, 12.10.2020.
[8] Latushko And Tikhanovskaya Present 7 Ways Of Economic Pressure On Lukashenko’s Regime, www.belarusfeed.com, 16.12.2020.
[9] Vgl. Drucksache 19/23943, www.bundestag.de, 3.11.2020.
[10] Vgl. European Commission, Commission implementing decision on the special measure in favour of the Republic of Belarus for 2020, https://ec.europa.eu, 11.12.2020.
[12] Vgl. Schlussfolgerungen des Rates zu Belarus, www.parlament.gv.at, 10.1.2021.