Ausgabe Januar 2021

Bidens Sieg, Mexikos Niederlage?

Der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador bei einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt, 8. Dezember 2020

Bild: Der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador bei einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt, 8. Dezember 2020

Der Ausgang der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten hat auch für deren Beziehungen zu Lateinamerika weitreichende Bedeutung: Während die rechten Regierungen in Brasilien und Kolumbien mit Donald Trump einen engen Verbündeten verloren haben, erhoffen sich insbesondere Kuba und Venezuela vom president elect Joe Biden einen deutlich weniger konfrontativen Kurs. Und tatsächlich setzt Biden, der bereits als Vizepräsident unter Barack Obama enge Beziehungen zu Lateinamerika pflegte, auf eine stärker an Menschenrechten und dem Umweltschutz orientierte, langfristig angelegte Politik der Annäherung.

Umso mehr verwundert es, dass der linksnationalistische Präsident Mexikos, Andrés Manuel López Obrador – in Mexiko kurz AMLO genannt –, Biden selbst drei Wochen nach dem Wahltag noch keine Glückwünsche geschickt hatte. „Wir werden warten, bis alle rechtlichen Probleme gelöst sind. Wir […] wollen die Selbstbestimmung der Völker und die Rechte anderer respektieren“, gab er zu verstehen.[1] Trump habe „nie eine Entscheidung getroffen, ohne uns zu konsultieren, und uns immer respektiert”, lobte er diesen sogar.[2] In der (latein-)amerikanischen wie der europäischen Öffentlichkeit hat López Obrador  mit diesem Verhalten Unverständnis und Empörung hervorgerufen. Sollten sich nicht gerade die Mexikanerinnen und Mexikaner freuen, den „grobschlächtigen“ Präsidenten Trump los zu sein, der die Mexikaner pauschal als „Verbrecher“, „Vergewaltiger“ und „Drogenhändler“ beschimpfte und eine Mauer zwischen beiden Ländern bauen ließ? Auch die politische Opposition in Mexiko – allen voran die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) um Ex-Präsident Vicente Fox, die Partei der permanenten Revolution (PRI), die Mexiko über 70 Jahre wie ein Staatskartell regierte, die von López Obrador einst mitgegründete, gemäßigt linke Partei der Demokratischen Revolution (PRD), aber auch soziale Bewegungen – kritisierte die Zurückhaltung harsch. Gleich mehrere Gouverneure gratulierten Biden und seiner Vize Kamala Harris gar in einem eigenen Brief zum Wahlsieg. Offensichtlich versuchen die politischen Gegner, sich mit der neuen Administration in den USA zu verbünden – gegen den amtierenden Präsidenten.

Vom Sündenbock zum Partner

Schaut man jedoch hinter die Kulissen, entpuppt sich das Verhalten von López Obrador als keineswegs so irrational, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr ist es Ausdruck des komplexen Beziehungsgeflechts beider Länder, die seit jeher eng miteinander verbunden sind. So ist Mexiko zum einen stark von der US-Wirtschaft abhängig: Rund 80 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die USA und ein Großteil der Auslandsinvestitionen kommt von dort. Für die Vereinigten Staaten nimmt Mexiko den dritten Platz unter den Außenhandelspartnern ein. Der tägliche Wert der US-Importe aus Mexiko beträgt eine Milliarde Dollar.[3] Zum anderen sind beide Staaten auch über die große Zahl der US-Mexikaner eng miteinander verwoben. Rund 38 Millionen Mexikaner leben in den USA und überweisen jedes Jahr 36 Mrd. US-Dollar an ihre Angehörigen in der Heimat. Im Gegenzug machen jährlich 13 Millionen US-Amerikaner Urlaub im Nachbarland oder lassen sich dort medizinisch behandeln.[4] Für die mexikanische Wirtschaft sind beide Faktoren existenziell. Angesichts dessen suchte das Land schon immer stabile Beziehungen zu seinem mächtigen nördlichen Nachbarn – unabhängig von der politischen Ausrichtung der jeweiligen US-Präsidenten.

Hinzu kommt: Mexikos Bevölkerung und erst recht die US-Mexikaner sind in ihrer Einstellung zu Trump gespalten. Die einen fühlen sich durch seine pauschalen Diffamierungen tief verletzt und verurteilen den Bau einer Mauer. Die anderen teilen seine konservativen Ansichten in gesellschaftspolitischen Fragen. Zwar waren die Beziehungen beider Länder in den vergangenen Jahren von den verbalen Entgleisungen Trumps und dessen lautstarken Drohungen geprägt. Wiederholt forderte Trump unter Androhung von Sanktionen, Mexiko solle den Bau der Grenzmauer bezahlen. Auch das starke Engagement der Trump-Regierung bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens in Mexiko missfiel dem seit 2018 regierenden López Obrador. Washington drängte dessen Regierung, Dutzende Verdächtige an die USA auszuliefern. Speziell das Agieren der dem US-Justizministerium unterstellten Drug Enforcement Administration (DEA) empfand er zunehmend als Eingriff in die nationale Souveränität seines Landes und monierte deren mangelnde Kooperation mit mexikanischen Behörden. Innerhalb der USA diente dieses Vorgehen vor allem der Befriedigung der überwiegend rassistisch und latinophob eingestellten Trump-Unterstützer.

López Obrador und Trump: Verbündete im Verborgenen

Nichtsdestotrotz aber gab es durchaus Gründe für López Obrador, sich mit dem Trump-Lager gutzustellen und zu den Demokraten auf Distanz zu gehen. Denn die Beziehung zwischen ihm und Trump besaß noch eine andere Seite, die sich allerdings kaum offen zeigte. Sie brachte Mexiko nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern dem Präsidenten auch Unterstützung für seine innenpolitischen Vorhaben. So war das unter Trump verhandelte T-MEC-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada aus Sicht von López Obrador ein Erfolg. Gegenüber dem Vorgängerabkommen NAFTA hatte es für Mexiko wichtige Vorteile: Es regelt Arbeitsrechte mexikanischer Beschäftigter in den USA, gewährleistet die Souveränität Mexikos im Energiesektor und gibt zudem Garantien für mexikanische Unternehmen im Lohnveredelungssektor, in dem Waren US-amerikanischer Firmen weiterverarbeitet und anschließend in die USA rückimportiert werden. Der neue Freihandelsvertrag brachte besonders den Unternehmen der Autoindustrie Stabilität – nicht zuletzt deshalb, weil US-Konzerne ihre Lieferketten angesichts der Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China zunehmend nach Mexiko verlagern. Weite Teile der mexikanischen Unternehmerschaft verbinden mit Trump daher Kontinuität und Vorhersehbarkeit. Nur 31 Prozent erhoffen sich einer Umfrage zufolge unter Biden eine bessere Zukunft.[5] Viele Unternehmen befürchten, dass der neue Präsident auf mehr Protektionismus setzen könnte.[6]

Auch beim Thema Migration verstanden sich die beiden Präsidenten zuletzt immer besser: Als López Obrador Trump im Juli 2020 besuchte, wurde vom Bau der Mauer nicht mehr gesprochen. Stattdessen gaben beide Präsidenten grünes Licht für den Einsatz des mexikanischen Militärs und der Nationalgarde als Grenzschutzbehörden, um die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die Vereinigten Staaten aufzuhalten. Die USA verschoben damit ihre Grenzsicherung nach Süden; Mexiko übernimmt dabei die „Polizeiarbeit“ für die USA – sowohl an seiner Nord- als auch an der Südgrenze zu Guatemala. Außerdem ließ López Obrador mit finanzieller Unterstützung der US-Regierung Lager für Migranten in Mexiko errichten, aus denen heraus diese Asylanträge in den USA stellen können.

Im Gegenzug akzeptierte Trump auch die Militarisierung des mexikanischen Staates. Sie soll nicht nur der Bekämpfung der mächtigen Drogenkartelle und der massiven Korruption im Land dienen, sondern auch das Projekt der „vierten Transformation“ absichern. Damit will López Obrador nicht weniger als ein neues Entwicklungsmodell schaffen, das sich von der neoliberalen Politik seiner Vorgänger unterscheidet. Zwar protegiert auch er dabei das transnationale Kapital, allerdings will er die Rolle des Staates gegenüber diesem deutlich stärken und eine Politik der Industrialisierung mit sozialpolitischen Elementen flankieren. Umweltstandards spielen dabei allerdings keine Rolle.

Um sein Projekt voranzutreiben, setzt der Präsident auf das Militär: Er löste die Bundespolizei auf und bildete aus Teilen von ihr sowie aus Armee und Marine die Nationalgarde. Diese untersteht dem Verteidigungsministerium und übernimmt innere Aufgaben wie den Kampf gegen den Drogenhandel und die Grenzsicherung. Überdies übertrug er den Generälen öffentliche Aufgaben – etwa eine Führungsrolle beim Bau des Flughafens Santa Lucia oder der Errichtung des als Tourismusprojekt ausgegebenen, tatsächlich jedoch auf die wirtschaftliche Erschließung Süd-Mexikos abzielenden „Maya-Zuges“, ferner die Kontrolle der Häfen und die Leitung des Zolls. Zudem beeinflusst das Militär zunehmend auch das zivile Leben: Es verteilt Schulbücher, organisiert Baumbepflanzungsprojekte und ist in die Pandemiebekämpfung eingebunden.

Es gibt also durchaus gewichtige Gründe für López Obrador, Trump die Treue zu halten. Zudem ist der US-Präsident noch bis zum 20. Januar 2021 im Amt und könnte den südlichen Nachbarn aus Rachsucht erheblich unter Druck setzen. Und letztlich weiß auch López Obrador: Aller Voraussicht nach wird das Trump-Lager angesichts der Machtverhältnisse im Senat auch in Zukunft erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik der USA ausüben. Seine Zurückhaltung ist daher ebenfalls von der Furcht geprägt, Erfolge in der Partnerschaft zum nördlichen Nachbarn zu gefährden.

Überdies scheint sich die Zurückhaltung gegenüber Biden bereits jetzt auszuzahlen. Dies illustriert der Fall des ehemaligen Verteidigungsministers Salvador Cienfuegos. Die DEA hatte ihn Mitte Oktober in den USA ohne vorherige Absprache mit der mexikanischen Regierung wegen Drogenhandels und Geldwäsche inhaftiert – letztere sah in diesem Vorgehen eine eindeutige Verletzung ihrer nationalen Souveränität.[7] Die Verhaftung kratzte nicht zuletzt am von López Obrador bemühten Bild des „sauberen“ Militärs, was dessen politischen Gegnern erheblichen Aufwind bescherte und seinen engsten Verbündeten, das Militär, verärgerte. Das Blatt wendete sich jedoch, als Außenminister Marcelo Ebrard erfolgreich mit den US-Behörden verhandelte, den Fall Cienfuegos an die mexikanische Staatsanwaltschaft abzugeben. US-Staatsanwälte äußerten hinterher, die Trump-Regierung habe der Aufrechterhaltung ihrer Beziehung zu Mexiko Vorrang vor einer Verfolgung des Falls in den USA eingeräumt.[8] Das aber kommt einem Kurswechsel Trumps in der Drogenbekämpfung gleich, hatte dieser doch bisher immer auf einer Strafverfolgung in den USA beharrt.

Der Vorgang ist ein außerordentlicher diplomatischer und innenpolitischer Erfolg der mexikanischen Regierung. Er stärkt einerseits die nationale Souveränität Mexikos und bekräftigt andererseits López Obradors Ankündigung, alle Verbrechen innerhalb der Armee strengstens zu ahnden – auch wenn angesichts der hohen Straflosigkeit in Mexiko fraglich ist, ob der Fall tatsächlich umfassend aufgeklärt werden wird.

Die Neudefinition der Beziehungen

Trotz dieser Nähe zu Trump wird sich López Obrador ab Januar mit Joe Biden arrangieren müssen. Von diesem erhofft sich seine Regierung eine deutlich gemäßigtere Rhetorik, aber auch eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Migration und in internationalen Institutionen. Auch die Nominierung von Julie Chávez Rodríguez – Obamas ehemaliger Beraterin zur Gleichstellung und Integration von Latinos in den USA – ist ein Lichtblick für die US-amerikanische Latino-Gemeinde und damit auch für den mexikanischen Präsidenten.

Dennoch wird die Zusammenarbeit unter Biden nicht einfacher werden – schon jetzt zeichnen sich neue Konfliktfelder ab. Biden will die alte Führungsrolle der USA auf dem Subkontinent wiederbeleben, die Trump mit seiner auf kurzfristige Interessen ausgelegten America-first-Politik vernachlässigt hatte.

Dabei ist von ihm auch ein größeres Engagement in Umweltfragen und eine stärker an Menschenrechten ausgerichtete Migrationspolitik zu erwarten. Die Rolle Mexikos als „Migrationspolizei“ der USA, die dem Land auch finanzielle Vorteile brachte, wird dabei sicher neu definiert werden. Zwar wird auch Biden darauf bedacht sein, nicht den Eindruck einer offenen Grenze entstehen zu lassen. Doch wird sein Augenmerk auf der Bekämpfung der Fluchtursachen in den Krisenländern Zentralamerikas liegen, etwa durch Maßnahmen zu deren wirtschaftlicher Entwicklung sowie zur Korruptionsbekämpfung. Die im Zuge der vierten Transformation aufgelegten, umweltschädigenden Großprojekte stehen Bidens Ansatz ebenso entgegen wie die starke Rolle des mexikanischen Militärs.

Fest steht: Beide Staaten sind durch die engen wirtschaftlichen Beziehungen und die vielen in den USA lebenden Mexikaner derart eng miteinander verwoben, dass äußere und innere Angelegenheiten der Länder sich gegenseitig beeinflussen. Aus dieser Perspektive ist das jüngste außenpolitische Lavieren der mexikanischen Regierung auch Ausdruck des innenpolitischen Ringens zwischen Regierung und Opposition um das Projekt der vierten Transformation.

Und auch in den Vereinigten Staaten bestimmen vielfältige Kräfte die Außenpolitik gegenüber Mexiko – in der Auseinandersetzung zwischen den Lagern um Trump und Biden, aber auch zwischen dem linken und moderaten Flügel der Demokraten. Die Beziehungen zwischen Mexiko und den USA werden somit auch künftig von erheblichen Widersprüchen gekennzeichnet sein.

[1] Horacio Jiménez, Aliancistas le llevan a AMLO la contraria y reconocen triunfo de Biden, www.eluniversal.com.mx, 12.11.2020.

[2] Michael S. Schmidt und Natalie Kitroeff, U.S. to Drop Case Against Mexican Ex-Official to Allow Inquiry in Mexico, www.nytimes.com, 17.11.2020.

[3] Klaus Ehringfeld und Alexander Busch, Brasilien und Mexiko käme eine zweite Amtszeit für Trump gelegen, www.handelsblatt.com, 3.11.2020.

[4] Sandra Weiss, Obama hat mehr Mexikaner abgeschoben als Trump, www.berliner-zeitung.de, 10.11.2020.

[5] Ehringfeld/Busch, Brasilien und Mexiko, a.a.O.

[6] Klaus Ehringfeld, Viva Donald Trump? Was Lateinamerika von Joe Biden erwarten kann, www.handelsblatt.com, 11.11.2020.

[7] El caso que pone en conflicto a México y EEUU: así impactó la detención de Cienfuegos, www.infobae.com, 10.11.2020.

[8] Schmidt und Kitroeff, U.S. to Drop Case, a.a.O.

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