Ausgabe Januar 2021

Grüne 2021: Die Macht im Visier

45. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen mit den Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck (imago images / Rüdiger Wölk)

Bild: 45. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen mit den Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck (imago images / Rüdiger Wölk)

Im Wahlkampf 1997/98 prognostizierten die US-Politologen Andrei Markovits und Philip Gorski, die Grünen würden eines Tages die SPD – und die 68er Linke – überflügeln, wenn sie denn ihren Frieden mit dem Westen, der EU und Nato machten, Demokratie und Menschenrechte, Republikanismus und Multiethnizität voranstellten – und ein unbefangenes Verhältnis zur liberalen deutschen Demokratie als freundlichem Hegemon Europas gewännen. Dann werde Grün die autoritär geprägte Linkspartei, damals noch PDS, aber auch die staatstragend-jugendfreie SPD schlagen. Ein Vierteljahrhundert und einen ersten virtuellen Parteitag später ist festzuhalten: Die Grünen haben unter Annalena Baerbock und Robert Habeck alle genannten Bedingungen erfüllt. Sie agieren als westlich-demokratische Partei, die eindeutig auch militärische Aktivitäten befürwortet, um Demokratie und Menschenrechte zu schützen. Sie setzen auf Republikanismus und Multiethnizität und bilden den libertären Gegenpol zur autoritären AfD. Gleichzeitig haben sie ihren Frieden mit Bundeswehr und Polizei gemacht, fordern aber zugleich als beste Sicherheitspolitik eine bessere Bildungs- und Sozialpolitik. Damit haben sie auch ihre soziale Flanke geschlossen und treten offensiver auf als die SPD: keine Sanktionen bei Hartz IV, Bürgergarantie als abgeschwächtes Grundeinkommen, Kindergrundsicherung und zwölf Euro Mindestlohn.

Die Ökonomie wollen die Grünen gemeinsam mit der Wirtschaft in eine sozial-ökologische Richtung transformieren – und sie unterstützen auch deshalb den „Green Deal“ der EU. Ihr Multilateralismus und ihre EU-Treue rühren aus der Überzeugung, die großen Herausforderungen – Agrar- und Energiewende, Digitalisierung, grüner Umbau, Klimawandel- und Ungleichheitsbekämpfung – seien nicht mehr national zu lösen. Und sie sehen Deutschland als Vorkämpfer gegen die autoritär-rechtspopulistische Welle in der EU.

Auf ihrem Kerngebiet schließlich, der Umwelt- und Klimapolitik, weist ihnen ohnehin eine Mehrheit die größte Kompetenz zu. Mit alledem haben sich die Grünen als zweitstärkste Kraft im Parteienspektrum etabliert und die SPD längst überholt. Sie haben viele Großstädte im Westen und auch einige im Osten ergrünen lassen, regieren in elf von 16 Ländern mit und sind auf dem Weg zur grünen Volkspartei.

Allerdings gibt es dabei ein nicht ganz kleines Problem: Angesichts der unaufhaltsamen Schwächung der SPD als Juniorpartner Merkels schien es, als könnten sich die Grünen regelrecht zur Macht schleichen. So etablierte sich auch bei den Grünen ein „juste milieu“ der smarten Schwiegersohntypen, das vor allem in wohlhabenden Südländern wie Hessen und Baden-Württemberg eine überaus wirtschaftsfreundliche Versöhnung von Ökonomie und Ökologie vorexerzierte. (Stilbildend dafür war der langjährige Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon, der prompt vor Kurzem eine herbe Niederlage einstecken musste.) Kurzum: Hier wurde das Bündnis mit der CDU vorstrukturiert, das in einem Jahr auch auf Bundesebene folgen soll.

Genau das lässt die Grünen jetzt heftig mit neueren sozialen Bewegungen wie Fridays für Future oder radikaleren Umwelt- und Tierschützern aneinandergeraten. Denn: Die Grünen wurden so selbst zum Establishment, das für kleine Leute ohnehin schon immer unwählbar schien, nun aber zunehmend auch von jüngeren Umweltaktivisten, Künstlern und Intellektuellen kritisch beäugt wird.

Der politische Arm der neuen Mittelklasse

Das größte Problem der Grünen bei ihrem Wunsch nach der Kanzlerfähigkeit ist aber nach wie vor ein diametral anderes – nämlich, dass sie weiter vor allem jüngere, gebildete und urbane Milieus ansprechen. Sie wirken nach wie vor ganz primär wie der politische Arm der „neuen Mittelklasse“ (Andreas Reckwitz), der „globalisierungsfreundlichen Kosmopoliten“ (Wolfgang Merkel), während sie der „alten Mittelklasse“ – Facharbeiter, Handwerker und kleine Selbstständige – eher Angst einflößen, zumal auf dem flachen Land. Grüne sieht man hier eher als Gefahr für Arbeitsplätze, automobile Verkehrsanbindungen und den eigenen Diesel.

Annalena Baerbock, die selbst vom Land stammt und ihren Wahlkreis im brandenburgischen Potsdam hat, wo beide Milieus hart aufeinandertreffen, hat dies längst erkannt und fordert unablässig Investitionen in die ländliche Infrastruktur, in Kitas und Schulen, ÖPNV und Kliniken. Sie weiß: Ohne Verankerung in der alten Mittelklasse bleiben die Grünen ein Phänomen jüngerer urbaner Milieus. Inzwischen fordern alle Grünen daher möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse. Offen bleibt jedoch, ob sie diese Versprechen in einer Reformregierung mit knappen Ressourcen umsetzen können.

Dabei hat die „stecken gebliebene“ Energiewende längst gezeigt, dass Bürger Reformen eher mittragen, wenn diese ihre Interessen bedienen: Einfachere Bedingungen für Bürgergenossenschaften hätten die Akzeptanz für Windkraftanlagen deutlich erhöht. Daher plädieren die Grünen hier inzwischen für Vereinfachungen: Der Europapolitiker Sven Giegold fordert einen Rentenfonds nach schwedischem Vorbild, also unter staatlicher Aufsicht, aber unabhängig verwaltet, ohne hohe Profite für Private und ohne Einfluss der Regierung und Ausschüttung nach Kassenlage. Damit will er das Interesse der alternden Bürgerschaft an sicherer, kapitalgedeckter Rente mit dem der Kapitalmärkte an green finance kombinieren. Ob so etwas mit der Union, die bisher stets im Dienst der privaten Versicherer agierte, zu machen wäre, steht allerdings dahin. Konflikte sind hier jedenfalls vorprogrammiert.

All das zeigt: Inhaltlich haben sich die Grünen enorm fortentwickelt, ihre frühere Spaltung in „Fundis“ und „Realos“ überwunden und erheblich breiter aufgestellt. Ihre einstige finanz- und wirtschaftspolitische Schwäche haben sie mit dem neuen Grundsatzprogramm beseitigt. Finanzpolitisch vertreten sie einen Keynesianismus für nachhaltige Investitionen, den der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther wie der arbeitnehmernahe Sebastian Dullien teilen: Ihre Bekämpfung der Coronafolgen durch einen starken „grünen“ Staat ist auf der Höhe der Zeit. Nicht zufällig enthalten alle „Wiederaufbauprogramme“ von EU, Bund und Ländern transformative Elemente zu den grünen Themen Bildung, Digitalisierung und sozial-ökologischer Umbau zur Klimaneutralität. So soll das neue Europa ergrünen – auch wenn die Industrie und deren Vertreter in den Volksparteien alles tun werden, damit die grünen Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Allerdings fließt derzeit eine Menge Wasser auf die grünen Mühlen – mit jedem Skandal à la Dieselgate, vor allem aber mit dem persönlichen Erleben der Dürresommer, Brände, Nitrifizierung der Böden, dem Rückgang der Artenvielfalt, kurz: der Zerstörung des Planeten. Der clevere Markus Söder hat dies nach dem Erfolg des bayerischen Volksbegehrens zum Schutz der Bienen längst begriffen. Seine Doppelstrategie lautet: Grüne Themen auf- und die Grünen als Hauptgegner angreifen. Er begradigt damit die Frontlinie seines Vorgängers, der noch um die AfD-Wähler buhlte und versucht, die Bürgerskinder zu gewinnen, die längst bei FfF, unteilbar, Seebrücke, Greenpeace und Co umherwimmeln.

Richtig schwer wird es nach der Wahl

Zugleich aber macht Söder die Union für die Grünen anschluss- und koalitionsfähig. So haben die Grünen tatsächlich beste Chancen, in einem Jahr im Bund mitzuregieren.

Ihre eigentlichen Probleme werden aber genau dann beginnen: Bisher war ihre Rolle ausgesprochen bequem, etwa wenn sie das Klimapaketchen der Groko mit einem halbwegs diskutablen CO2-Preis versahen. Aber die kritischen Kommentare der FfF-Sprecher nach dem Parteitag zeigen, dass dies künftig kaum genügen wird.

Grüne Juniorpartner-Politik in den Ländern wirkt schon heute höchst widersprüchlich, etwa wenn sie in Hamburg an der Seite der wirtschaftsnahen SPD den Ausbau der Elbe und des Airbuswerkes durchwinkten. In NRW haben sie weiteren Braunkohleabbau mitgetragen, genauso wie in Hessen den Kahlschlag am Dannenröder Forst. Da knirscht es nicht nur zwischen radikalen Auto- und Kohlegegnern und grünen Politikern in Verantwortung, sondern auch zwischen diesen und der grünen Basis. Kämen noch die Kompromisse einer Bundesregierung hinzu, würde die Loyalität vor Ort womöglich sehr schnell überstrapaziert.

In Berlin sind die Grünen auf Landesebene derzeit in den Umfragen zwar stärkste Kraft, kommen aber beim Umbau des Verkehrs nicht eben rasch voran. Und im Osten bleiben sie außer in ein paar Uni-Städten weiter schwach, auch wenn sie auf dem flachen Land viel tun, um die Zivilgesellschaft zu stärken. Schließlich werden die Ostgrünen dominiert von Ministern und Fraktionen und müssen stets die Wendungen ihrer komplexen Dreier- und Viererkoalitionen nachvollziehbar machen. Das größte Problem der Grünen ist allerdings der kommende Partner, und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Union. Egal mit welchem Kandidaten sie 2021 auch antreten wird, sie bleibt eine strukturkonservative Partei. Merkels Erfolge haben sie verwöhnt; die immer kleiner werdende SPD konnte sie mit immer weniger abspeisen. Über viele Jahre prägte so die Union die strategischen Linien der Berliner Republik: Economy first, keine Steuererhöhungen und Schulden. Es wird daher jedem neuen Partner schwerfallen, die Union bei wirklichen ökologischen Veränderungen mitzunehmen, die nicht nur den Bürgern, sondern vor allem Industrie, Mittelstand und Handwerk wehtun würden. Mit Merz wäre es am schwersten, mit Laschet und Söder möglich und mit dem – allerdings wohl chancenlosen – Röttgen am leichtesten.

Grüne Politik mit leeren Kassen

Entscheidend wird daher das Geschick sein, mit dem die Grünen eine seit langem entpolitisierte und seit Hartz IV reformskeptische Bevölkerung und eine erfolgsverwöhnte Union im nächsten Jahr für neue Wege gewinnen können: Klar, alle Wählerinnen und Wähler sind verbal für Klimaschutz, jedenfalls in Maßen. Aber bedeutet das auch den Verzicht auf Diesel- und Dienstwagenprivileg? Begnügen sich die Grünen mit Kfz-Steuerreformen, die SUVs kaum anders bewerten als Kleinwagen, oder mit Ausnahmen für energieintensive Industrien, die dafür kleinen Leuten Milliarden Euro Mehrkosten aufbrummen?

Schließlich wird nach dem Kreditfeuerwerk des Coronajahres nicht viel Geld da sein, um wie Merkel und Scholz die Konflikte zuzukleistern: Die Grünen müssen sich also entscheiden, ob sie Reiche stärker heranziehen oder schmerzhafte soziale Schnitte machen wollen. Fest steht: Einen echten sozialökologischen Umbau gibt es nicht gratis. Da aber sind die Grünen gebrannte Kinder: Im Wahlkampf 1998 verhagelte ihnen ihre Forderung nach 5 Mark pro Liter Benzin das Ergebnis. Werden sie diesmal laut sagen, dass fossile Energie teurer werden muss, und soziale Kompensationen dafür durchsetzen? Kurzum, die Grünen können es im nächsten Jahr eigentlich nur falsch machen: Als ökologischer Reformagent müssen sie sich treu bleiben, in Wahlkampf und Regierung Horizonte aufzeigen, Reformen angehen, Konflikte aushalten – und zugleich werden sie es mit massivem Gegenwind seitens der politischen Konkurrenz und eines Teils der Medien, vor allem vom Boulevard, zu tun bekommen. Um dagegen anzukommen, wollen die Grünen zu Recht neue Bündnisse schließen. Dazu müssen sich Frauen, Sozial- und Gesundheitsbeschäftigte, Migranten, aber auch Selbstständige und Mittelständler wiederfinden. Es geht dabei nicht um von oben verordnete Identitätspolitik von grün-links, sondern um einen geerdeten Republikanismus, der offen bleibt für praktische Probleme. Der durchaus auch mit einem Schuss grünem Populismus die Interessen der 99 Prozent und der Natur, das Gemeinwohl, gegen die Interessen des 1 Prozent vertritt. Dazu gehören bezahlbare öffentliche Güter, ökologisch ehrlichere Preise, echter Wettbewerb, Stärkung kleiner Betriebe und der Kommunen, Aufwertung der Dienstleistungsberufe, Verringerung der Ungleichheit zwischen Stadt und Land etc. Massive Konflikte werden dabei unausweichlich sein. Der Versuch, es allen recht zu machen, wird jedenfalls scheitern: Das heißt auch, das Auto retten andere.

Unverzichtbar für die Grünen ist dagegen die Vision der „einen Welt“, zu der internationale Kooperation, Entwicklungsarbeit und Rüstungskontrolle gehören. Nur wenn sie hier über Klientelpolitik für ihr urbanes Milieu hinausgehen, können sie Brücken schlagen zur alten Mittelklasse, die derzeit den Veränderungen – von der Energiewende bis zur Digitalisierung – mit Angst und Abwehr begegnet und die die SPD als eigentlicher Hauptkonkurrent immer weniger erreicht.

Das alles wird nicht ohne massive Rückschläge ablaufen, ist aber der einzig gangbare Weg: Die Union mag eine weitere Koalition, die die gewaltigen Strukturprobleme aussitzt, gerupft überstehen. Die Grünen als kleinerer Partner und Reformmotor würden dabei zerrieben – die SPD lässt grüßen. Daher müssen sie Visionen vermitteln und zugleich mit vielen Partnern konkrete Projekte starten. Auf dem Parteitag ist ihnen das durchaus gelungen: Der 1,5-Grad-Kompromiss war strategisch ebenso klug wie die Tatsache, dass die Grünen in der Coronakrise die Interessen der Schulen und Selbstständigen verteidigen. Bleiben sie dieser selbstbewussten Linie treu, könnten sie den kommenden Stürmen trotzen.

Denn eines haben die 15 Jahre einer fast durchgängigen schwarz-roten Koalition gezeigt: Der Staatspartei Union ringt nur ein eigenständiger Partner Reformen ab. Noch einer, der meint, dass Merkel eigentlich alles richtig gemacht habe, hilft bei keiner Baustelle weiter. War 1990 die grüne Rede vom Wetter noch reichlich aus der Zeit gefallen („Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“), was die Grünen prompt aus dem Bundestag fliegen ließ, ist sie heute – Corona hin oder her – dringender denn je. Vom Geschick der Grünen dürfte es daher abhängen, ob diese Republik weiter dem Unionskurs folgt – nur mit grünem statt rotem Feigenblatt – oder ob sie sich den Herausforderungen der Gegenwart tatsächlich stellt und ihnen mit entschiedenen Reformen begegnet.

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