Mit dem Ausbruch der Pandemie blieb Bob Dylan unsichtbar – ganz wie es sich für einen „Risikopatienten qua Alter“ gehört, der am 24. Mai 80 Jahre alt wird – und zugleich allgegenwärtig. Aus dem ganzen zurückliegenden Kalenderjahr ist kein Foto von ihm überliefert, und die „Never Ending“-Tour, auf die er sich seit dem Sommer 1988 begeben hat (mit zuletzt immer noch bis zu neunzig Konzerten jährlich), musste er zum ersten Mal unterbrechen. Doch mitten in die erste Quarantänephase hinein lancierte er das knapp siebzehnminütige „Murder Most Foul“. Darin nimmt Dylan die minutiöse Vergegenwärtigung des Kennedy-Mordes zum Anlass, amerikanische Albträume auszuleuchten.
„Rough and Rowdy Ways“, das darauffolgende triumphale Album aus dem vergangenen Sommer, ist sein erstes lyrisches Werk seit dem Nobelpreis und demonstriert noch einmal die ungebrochene Kraft und Vitalität seiner späten Veröffentlichungen.
Dylan verkörpert hier den archetypischen amerikanischen Künstler, der sich wie kein anderer mit der Geschichte, den Mythen und Obsessionen, aber auch den Hoffnungen des Landes auseinandersetzt. Die Welt, die Dylan uns darbietet, ist brutal: Krieg, Rachsucht und Mord durchziehen seine Songgebilde. Die Suche nach Erlösung, die rettende Kraft der Liebe, „sweet memories“ und Kontemplation bleiben letzte Rückzugsorte. Nur durch sardonischen, bisweilen verschmitzten Humor bricht Dylan seine Sicht auf die New Dark Ages auf und macht so das Ganze erträglich.
Dylan hat seine gleichzeitige Präsenz und Zurückgezogenheit in den vergangenen Jahren perfektioniert. Zur Ära Trump vernahm man von ihm kein Wort. Vielleicht betrachtete er jede Äußerung dazu als selbstevident und wollte diesen Mann nicht durch Aufmerksamkeit nobilitieren. Wo er politisch steht, daran konnte es ohnehin nie einen Zweifel geben. Filmisch verbeugte er sich kürzlich noch vor seinem greisen Freund Jimmy Carter, dem Rock’n’Roll-Präsidenten, und auch der alten Freundin Joan Baez erwies er zu verschiedenen Anlässen ergreifend die Reverenz. Seine Wortmeldungen gehorchen dabei kaum den gängigen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Die Ausnahme war ein Interview mit der „New York Times“ im vergangenen Jahr, als er seine Fassungslosigkeit über den Mord an George Floyd in seinem Heimatstaat Minnesota ausdrückte: „It sickened me no end to see George tortured to death like that.“ Dabei hatte er die einschlägigen Lieder der Bürgerrechtsbewegung zu Lynchjustiz und rassistischen Morden schon vor sechs Jahrzehnten geschrieben.
Nein, Dylan machte sich nie Illusionen über die Ursünden der amerikanischen Geschichte: die Ausrottung der indigenen Völker und die Sklaverei – sie legten von Beginn an den Schatten der Gewalt über die Vereinigten Staaten. Schon der junge Dylan beschäftigte sich fast obsessiv mit dem Bürgerkrieg und verbrachte seine Tage in der New York Public Library, um alte Zeitungen zu lesen. Seine Vorliebe für die alten Folksongs, die von Leid, Krieg, Verbrechen und Erlösung erzählen, machten ihn zum Archäologen und wohl besten Kenner des Genres.
Dylans Texte, die alten wie die neuen, aber auch seine Gestik markieren das Bewusstsein um die eigene Bedeutung. Wenn man den Alten, auf seltsame Weise zerbrechlich und entrückt wirkend, heute auf der Bühne sieht, besteht kein Zweifel daran, dass er auch die ihm verbleibenden Jahre noch nutzen will. Durchaus selbstbewusst wirft er sich in Positur. Wie ein Boxer im Ring nimmt er mittlerweile die Ovationen entgegen, wenn er im kultivierten Stil des Southern Gentleman, Hand in der Hüfte, nach den Zugaben vor sein Publikum tritt. In Interviews spekuliert er schon einmal darüber, dass man ihn erst in Jahrzehnten verstehen werde. „Ich bin kein falscher Prophet“, wettert er gegen den Vorwurf des emeritierten Papstes Benedikt XVI. (der sich skeptisch gegen Dylans Auftritt vor Johannes Paul II. in Bologna wandte), „ich weiß, was ich weiß“: „I’m first among equals – second to none / I’m last of the best – you can bury the rest“.
Auch wenn er sich in seiner täglichen Arbeit davon nicht behindern lässt, wird der eigene Mythos munter hinterhergeschleift. Ohne Unterbrechung poliert ein ganzes Heer von Archivaren seinen Vorlass: Vom Notizbuch, Tonbändern, Briefen bis zur Lederjacke wird alles im Dylan-Center in Tulsa verwahrt, wohin Literatur- und Kulturwissenschaftler unermüdlich pilgern. Längst hat die Dylan-Forschung schier unübersehbare Ausmaße angenommen. Seine Bootleg-Series übertreffen das ursprüngliche offizielle Werk schon lange. Martin Scorsese montierte einen amüsanten Film über die legendäre „Rolling Thunder“-Tournee von 1975, als muntere Verschränkung von Fakten und Fiktionen. Und mitten in der Me-Too-Debatte strickte Dylan höchstpersönlich mit an einem Scherz, die damals minderjährige Sharon Stone verführt zu haben – sogar die Schauspielerin selbst hatte Freude an der Grille.
Ansonsten gibt Dylan in Dada-Laune zu Protokoll, sich an nichts erinnern zu können. „I don’t remember a thing, it was forty years ago, I wasn’t even born then!” Stimmt, denn seine christliche Reborn-Experience setzte ja auch erst drei Jahre später ein. Überhaupt pflegt er – ganz der Altersweise – ein entspanntes Verhältnis zu allen Irrungen und Wirrungen, die letztlich dem Mythos der Wiederauferstehung dienen. Sein Ausgebranntsein in den 1980er Jahren hat er so drastisch eingeräumt, dass er sich nicht mehr mit jedem einzelnen Sündenfall beschäftigen muss. Gut gelaunt stellte er Ende 2019 seinen Bassisten Tony Garnier (der über dreißig Jahre und rund 3 000 Live-Auftritte mit ihm absolviert hat) beim Heimspiel im New Yorker Beacon Theatre als denjenigen vor, der schon länger mit ihm zusammenspielt als Dylan mit sich selbst – ein freimütiges Eingeständnis, das wohl auf eigene tiefe Krisen und völlig entgleiste Konzerte zu Anfang der 90er Jahre zielt.
Vor dem Hintergrund überwundener Tiefen gewinnt Dylans Spätwerk eine gewisse Leichtigkeit auch und gerade aus der Vielfalt seiner Tätigkeiten. Fröhlich schweißt er eiserne Tore in seiner Werkstatt, hat Freude als Teilhaber einer Bourbon-Destillerie, nimmt Radiosendungen auf oder bebildert auf überraschende Weise seine bekanntesten Songs (die er zu dieser Gelegenheit handschriftlich völlig modifiziert). Dylan machte so auf subtile Weise deutlich, dass Lieder und Gedichte sich über die Zeit wandeln dürfen – und dass sie nicht unbedingt nur dem Autor gehören, wie manch hybride Übersetzungsdebatten um „jung-genialische“ Literatinnen vermuten lassen.
Dylans Werk gehört längst zur Welt der großen Geister; seine Collage-Techniken, die Ovid, Willie-The-Shake, die Bibel und viele andere Quellen ausschöpfen, belegen dies. Dass er auch mit achtzig einfach weiterzumachen gedenkt, hat er hinreichend klar gemacht. „We hope to be back on the road at the earliest possible time”, liest man auf seiner Website. Von seiner eigenen Langlebigkeit geht er offenbar aus: Wenn man ihn als 90jährigen suche, werde man ihn auf irgendeiner Bühne finden, verriet er vor dreißig Jahren einem Reporter. Eine erfrischende Perspektive.