
Bild: Bamber Hawes (links) und seine Eisbärskulptur Clarion auf dem Weg zur COP26, 24.10.2021 (IMAGO / Images)
Wenn vom 31. Oktober bis zum 12. November die Klimakonferenz COP 26 in Glasgow stattfindet, dann ist dies so etwas wie eine letzte Bestandsaufnahme vor dem drohenden Klimakollaps. Derzeit befindet sich die Welt auf einem „katastrophalen Weg“, so UN-Generalsekretär Antonio Guterres, „es drohe der massive Verlust von Menschenleben und Lebensgrundlagen“. Statt der notwendigen Reduzierung der CO2-Emissionen um 45 Prozent bis 2030 könnte es real ein Wachstum von mehr als 30 Prozent geben, was der irreversible Weg in die Klimakatastrophe wäre. Tatsächlich ergeben die bislang eingegangenen nationalen Selbstverpflichtungen der 191 Staaten bis 2030 ein Plus an Emissionen von 16 Prozent gegenüber dem Berechnungsjahr 2010.[1] Und da die Selbstverpflichtungen nur von wenigen kleinen Staaten überhaupt eingehalten werden und von den G20, die 75 Prozent aller Emissionen verursachen, nur Großbritannien auf Kurs ist, ist von einem vermutlich weit höheren Zuwachs auszugehen.
Wir müssen daher zuallererst endlich die „unbequemen Wahrheiten“ und den dramatischen Ernst der Lage wirklich zur Kenntnis nehmen – gerade auch in Deutschland als dem sechstgrößten CO2-Emittenten weltweit. 2021 wird es hierzulande mit etwa 40 Mio. Tonnen zusätzlichem CO2 den größten Emissionsanstieg seit 1990 geben. Damit liegen die deutschen CO2-Emissionen, nach der „Corona-Delle“, wieder bei etwa 800 Mio. Tonnen. Der deutsche Wald kann allerdings nur 80 Mio. absorbieren – bei stark abnehmender Tendenz in Anbetracht seiner zunehmenden Schädigung. Unter Einbeziehung der CO2-Rucksäcke all seiner Zulieferer und der globalen Aktivitäten seiner Konzerne verursacht Deutschland jährlich damit etwa das Zehnfache dessen, was seine eigenen CO2-Senken aufnehmen können. Das ist ökologischer Imperialismus, der die Folgen seines Tuns externalisiert und die „Freiheit“ des Südens und der Zukunft verbraucht.
Laut Umweltbundesamt verursacht eine Tonne CO2 inzwischen Schäden in Höhe von 195 Euro und müsste demnach auch so viel kosten. Dennoch liegt der CO2-Preis derzeit bei nur 25 Euro pro Tonne. Bezieht man auch die globalen Folgekosten durch die drohende Klimakatastrophe ein, müsste eine Tonne CO2 inzwischen sogar bereits 680 Euro kosten, also mehr als das 25fache des aktuellen Preises.[2] Allerneueste Studien kommen angesichts der Vervielfachung der Schäden auch zu einer Neubewertung der „langfristigen Schäden“ durch den Klimawandel, die eine zunehmende und viel größere Rolle spielen als bisher angenommen. Sie gehen inzwischen von „ungedeckten Schadenskosten“, also „sozialen Kosten des CO2“, von 2500 Euro pro Tonne aus.[3] Vor diesem Hintergrund ist es völlig falsch, ständig nach den Kosten einer Klimawende zu fragen. Viel realistischer und zwingender ist es, danach zu fragen, was es kostet, wenn die erforderliche Klimawende nicht stattfindet.
Der gleichermaßen wasser- wie hitzereiche Sommer hat in aller Dramatik gezeigt, dass eine veränderte atmosphärische Zirkulation die Gefahren und auch die Schäden erheblich erhöht. Bis vor kurzem hätte sich niemand ein Ereignis wie die verheerende Flut im Ahrtal und in Nordrhein-Westfalen mit 190 Todesopfern und materiellen Schäden in Höhe von 30 Mrd. Euro vorstellen können. Doch damit ist in Zukunft immer häufiger zu rechnen. Denn mehr Feuchtigkeit in der Luft und höhere Temperaturen, sowie blockierte Wetterlagen (stehendes Wetter) und das häufige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Luftmassen können, wenn alles zusammenkommt, verheerende Auswirkungen haben. Die zu erwartenden Schäden müssen daher, sowohl was Flutschäden als auch was Waldverluste anbelangt, erheblich nach oben korrigiert werden. Speziell beim Wald braucht es Jahrzehnte, um die Schäden zu ersetzen, wenn dies überhaupt noch möglich ist.
Maja Göpel weist in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken“ auf eine brisante Studie hin, wonach die kostenlosen Leistungen der Natur noch 2007 fast das Dreifache des globalen Bruttoinlandprodukts (BIP) betrugen, aber längst beständig abnehmen.[4] Inzwischen sind die Verluste an Naturvermögen sogar größer als das Wachstum des BIP.[5] Die sich ausweitende Klimakatastrophe vergrößert diese Verluste und Schäden beständig und vermindert die Leistungsfähigkeit der Natur. Würde man die Umweltschadenskosten in allen Bereichen konsequent berücksichtigen, dann würde sich das derzeitige fossil-mobil-globalisierte Geschäftsmodell auch ökonomisch schon lange nicht mehr rechnen.
Der realexistierende Kapitalismus würde so als das Verlustgeschäft kenntlich, dass er eigentlich schon lange ist – von den unersetzlichen und unwiederbringlichen menschlichen Opfern ganz zu schweigen. Dass man die erneuten Opfer der Klimakrise – bereits das Hitzejahr 2003 forderte etwa 15 000 Menschenleben allein in Deutschland – nicht einmal mit einer Staatstrauer gewürdigt hat, zeugt von anhaltender Realitätsverdrängung. Dabei scheint inzwischen selbst dem US-Präsidenten der dramatische Ernst der Lage klar geworden zu sein, angesichts der Dreifach-Katastrophe in den USA durch Hurrikan Ida, die schweren Waldbrände in Kalifornien und die dramatische Flut in New York.
Keine Zeit mehr für Scheinlösungen
Die Eindämmung der Klimakatastrophe erfordert umgehend radikale, einschneidende Veränderungen und muss zum vorrangigen Ziel des gesellschaftlichen Handelns werden. Das Vorantreiben der material- und energieintensiven Digitalisierung und Automatisierung ist dabei allerdings genauso ein Irrweg wie die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs und massive Investitionen in eine energieverschwendende Wasserstoffwirtschaft. Bei diesen und anderen Scheinlösungen geht es nicht um Wege aus der Klimakrise, sondern um Auswege aus der Wachstumskrise durch weitere Produktivitätssteigerung, Markterweiterung und zusätzliche Bedarfsweckung. Bei alledem wird die zukünftig zu erwartende, unvermeidliche und dringend erforderliche Verteuerung von Energie und Rohstoffen nicht berücksichtigt. Diese „Lösungen“ folgen Effizienzkriterien, die längst zur Disposition stehen, und gehorchen den Imperativen des Weltmarktes und nicht den Imperativen der Klimakatastrophe. Die realen ökologischen Kosten dieser vermeintlich klimafreundlichen Modernisierungen, also ihre „ökologischen Rucksäcke“, sprich: die bei der Herstellung verbrauchten Energiemengen und Rohstoffe, sowie die anfallenden Emissionen, müssen bei alledem schon in Rechnung gestellt und von späteren Emissionseinsparungen abgezogen werden. Nur so lässt sich feststellen, ob sich eine derartige Modernisierung wirklich für das Klima „rechnet“, zumal im Zuge des sogenannten Rebound-Effekts eventuelle Einsparungen wieder aufgefressen werden.
Das beste Beispiel für diese trügerische Rechnung ist die angebliche neue ökologische Wundertechnik der E-Mobilität. Die Herstellung eines einzigen Elektroautos verursacht etwa 12 Tonnen CO2, allein wegen der Batterie sind das etwa 7 Tonnen mehr als bei einem „Verbrenner“. Wenn man weiß, dass ein Mittelklasse-Benziner auf einer Fahrtstrecke von 7000 Kilometern etwa eine Tonne CO2 verursacht, dann weiß man auch, dass ein neues Elektroauto, bevor es überhaupt losgefahren ist, bereits einen „Klimarucksack“ hat, der 50 000 von einem herkömmlichen Auto gefahrenen Kilometern entspricht. Seine Herstellung verbraucht zudem mehr Energie und verursacht mehr Emissionen als ein Durchschnittshaushalt in zehn Jahren. Schon bei der Produktion der geplanten 10 Mio. E-Autos, die ja mit vielen Milliarden Euro subventioniert werden, fallen also dutzende Mio. Tonnen zusätzliches CO2 an. All das hat mit Klimaschutz wenig zu tun, allerdings eine Menge mit der Schaffung neuer Nachfrage nach Millionen von E-Autos und einer gewaltigen Konjunkturspritze für die deutsche Automobilindustrie.
Was nutzt es aber dem Klima, wenn die von vornherein CO2-belasteten E-Autos dann auch noch jahrelang mit 50 Prozent Kohlestrom fahren und Wasserstoff vorwiegend aus Erdgas produziert wird? Ganz abgesehen von der zusätzlichen Naturzerstörung durch solche „Gigafactorys“ wie etwa im Tesla-Standort Grünheide.
Für die Verhinderung der Klimakatastrophe und weiterer Naturzerstörung reicht die Dekarbonisierung und Elektrifizierung der derzeitigen Strukturen ohnehin nicht aus – ganz abgesehen davon, dass es ja gar nicht genügend erneuerbare Energien dafür gibt –, sondern es bedarf darüber hinaus einer sehr schnellen Verringerung des Energie- und Rohstoffverbrauchs in Wirtschaft und Gesellschaft. Das bedeutet natürlich auch ein Ende der bisherigen internationalen Arbeitsteilung mit ihrer enormen Energie- und Ressourcenverschwendung sowie eine drastische Reduzierung des dazugehörigen Verkehrs.
Wir lügen uns in die Tasche
Wer meint, allein mit erneuerbaren Energien unsere Welt retten und dabei unsere imperiale Produktions- und Lebensweise beibehalten und wie bisher Gewinner des globalen Monopolys bleiben und gleichzeitig das Klima schützen zu können, der lügt sich und anderen in die Tasche und verkennt den parasitären und destruktiven Charakter unseres gigantischen Stoffwechsels mit der Natur. Der gegenwärtige Überkonsum und die herrschenden kapitalistischen Ausbeutungsstrukturen selbst zerstören die Biosphäre und die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen. Der weltweite Raubbau an Ressourcen und Naturgütern (Extraktivismus), der enorme Transport- und Verpackungsaufwand, all die ökologischen Rucksäcke, die in unseren Bilanzen gar nicht auftauchen, verursachen nicht nur Treibhausgasemissionen, sie zerstören auch CO2-Senken. Aber auch der ungleiche Tausch, die ungerechte weltweite Arbeitsteilung und rücksichtslose Markteroberung, die Verdrängung von regionalen, kleinteiligen, zwar weniger effizienten, aber dafür naturverträglichen Wirtschaftsformen ist zerstörerisch und vernichtet nachhaltige, überlebensfähige Strukturen, wie die der indigenen Völker.
Die Menschheit steht heute an einem Scheideweg – und vor der Systemfrage. Sie muss sich jetzt entscheiden, ob sie das Klima- und Erdsystem im noch lebensfreundlichen Bereich stabilisieren will oder ob sie mit einem wachstumsbesessenen Gesellschaftssystem ins Chaos einer lebensfeindlichen Heißzeit steuern will.
Für ein neues Denken und Handeln
Die Zeit für neues Denken und Handeln ist jetzt gekommen und Glasgow dürfte die letzte freie Ausfahrt auf der immer schneller werdenden Fahrt in Richtung Klimakatastrophe sein. Letztlich führt kein Weg an einer schnellen, global koordinierten Verteuerung von Energie, Rohstoffen, Transporten und Emissionen vorbei, welche die derzeitige Verschwendung realökonomisch unrentabel macht und einen ökologischen, klimafreundlichen Umbau der Wirtschaften und Gesellschaften ökonomisch und finanziell erzwingt.[6] Das „falsche“ Wachstum der destruktiven, fossilistischen Strukturen darf sich „nicht mehr rechnen“. Sprich: Die weitere Zerstörung der Welt muss unprofitabel, also ökonomisch und finanziell unmöglich gemacht werden. Letztlich geht es dabei um nicht weniger als eine andere, sozial-ökologische Weltwirtschafts- und Finanzordnung, um die Aufhebung von Wachstumszwängen, um das Zurückdrängen von globaler Konzernmacht, um eine Re-Regionalisierung und Demokratisierung, also um einen fundamentalen Kurswechsel.
Für eine derartige sozial-ökologische Transformation bedarf es auf nationaler Ebene eines grundlegenden Umbaus des Steuersystems im Sinne einer ökologischen Steuerreform: massive Belastung des Energie- und Rohstoffverbrauchs bei gleichzeitiger Entlastung der lebendigen Arbeit, regenerativer Energien und des öffentlichen Verkehrs. Das Bruttosozialprodukt wäre abzuschaffen zugunsten eines Ökosozialprodukts, das die Unternehmen nicht nur nach ökonomischen Kennzahlen bilanziert und besteuert, sondern ebenso nach ökologischen und sozialen Kriterien. International bedürfte es einer möglichst globalen, stetig steigenden Transportsteuer zur Eindämmung des ausufernden weltweiten Warenverkehrs und der Auswüchse der Globalisierung sowie eines grundlegenden Umbaus der Finanzordnung: der Abschaffung des Kapitalzinses und der leistungslosen Spekulations- und Aktiengewinne. Das Geld würde so reines Tauschmittel und das Bankensystem reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, mit der Konsequenz der Geldmengenbegrenzung und der friedlichen Kapitalvernichtung. Um eine derartige neue verbindliche ökologische Globalsteuerung tatsächlich durchzusetzen, bedürfte es allerdings eines immensen gemeinsamen politischen Willens – sowie vor allem der Einsicht, dass am Ende alle Verlierer der kommenden Klimakatastrophe wären und einen schier unermesslichen Preis bezahlen müssten.
Nur wenn der Gipfel in Glasgow diese Einsicht und diesen Willen tatsächlich aufbringt, wird er zu einem echten Fortschritt in der Klimapolitik führen. Wobei die westlichen Industriegesellschaften dabei entschieden vorangehen müssen. Es gilt, die Debatte über eine gesellschaftliche Alternative weltweit wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Letztlich geht es um den Aufbau von Gesellschaften, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist.
[1] Vgl. Full NDL Synthesis Report: Some Progress but still a big concern, www.unfccc.int, 17.9.2021; siehe auch: Weltgemeinschaft droht Klimaziel laut UN-Bericht deutlich zu verfehlen, www.zeit.de, 17.9.2021.
[2] Vgl. die Pressemitteilung des Umweltbundesamtes Nr. 63/2020 vom 21.12.2020.
[3] Klimakrise viel teurer als bisher angenommen, www.kurier.at, 6.9.2021.
[4] Maja Göpel, Unsere Welt neu denken, Berlin 2020, S. 49 ff.
[5] Robert Costanza u.a., Changes in the global value of ecosystem services, in: „Global Environmental Change“, Vol. 26, 2014, S.152-158.
[6] Vgl. Jürgen Tallig, Earth first: Der Preis des Lebens, in: „Blätter“, 10/2018, S.67 f.