Ausgabe August 2022

Der weibliche Körper als Staatseigentum

Der Kreuzzug des Supreme Court gegen das Recht auf Abtreibung

Eine Großdemonstration für reproduktive Rechte in Washington D.C., 30.6.2022 (IMAGO / NurPhoto)

Bild: Eine Großdemonstration für reproduktive Rechte in Washington D.C., 30.6.2022 (IMAGO / NurPhoto)

1972 waren Abtreibungen in Minnesota illegal. Irgendwann in jenem Jahr – das genaue Datum ist in Vergessenheit geraten – fuhr ein 21jähriger Mann seine 16jährige Freundin zu einer Frauenklinik in Minneapolis. Er brachte sie dorthin, damit sie einen Schwangerschaftstest machen lassen konnte, und fuhr weg. Die Freundin war ich. Damals gab es keine Heimschwangerschaftstests. Die Feigheit meines damaligen Freundes nagt immer noch an mir, vor allem aber erinnere ich mich an meine Angst, Verwirrung und das unwürdige Geheimhalten meines möglichen Zustands. Meine Phantasie schweifte zu Abtreibungen in Hinterzimmern. Ich hatte die Ergebnisse einiger solcher illegalen Eingriffe auf körnigen Schwarzweißfotos gesehen – die Leichen junger Frauen, die auf schmuddeligen Sofas oder Metalltragen in ihrem Blut schwammen. Ich stellte mich mir selbst in einem dreckigen Zimmer mit einem fremden Mann und seinem blitzenden Instrumentenbesteck vor.

Ich hatte kein eigenes Geld. Wäre ich schwanger gewesen – es stellte sich heraus, dass ich es nicht war –, hätten mein Freund oder meine Eltern für eine Abtreibung aufkommen müssen. Ich bin sicher, dass sie es gemacht hätten, obwohl keiner von ihnen viel hatte, und die Vorstellung, dass mein Vater von meiner Schwangerschaft erführe, machte mich krank. Ich glaube nicht, dass das Geld für den Flug nach New York und die Hunderte Dollar für den Eingriff zur Verfügung gestanden hätten, aber ich hätte die Schwangerschaft niemals durchgezogen. Ich hätte das Gesetz gebrochen.

Sechzehn Jahre später gebar ich meine Tochter Sophie. Als ich sie aus meinem Körper presste, war ich in einem Zustand der Ekstase, wie ich ihn nie zuvor und auch danach nie wieder erlebt habe. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Geburtserfahrungen enorm unterschiedlich sind. So war eben meine. Wie sehr ich dieses Kind wollte!

Viele Jahre später, nachdem Sophie ihr Studium abgeschlossen hatte und ihr eigenes Leben lebte, rief sie mich an. Ich hörte an ihrer Stimme, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie eröffnete mir, es sei ein medizinisches Problem. Bei ihr wurde eine tödliche Krankheit festgestellt, dachte ich. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Als sie mir sagte, sie sei schwanger, war ich so erleichtert, dass ich lachte. Sie erinnert sich besser an meine Antwort als ich selbst: „Wir sind in New York“, sagte ich. „Es ist deine Entscheidung. Wenn du abtreiben willst, kannst du es tun.“ Sie war noch ganz am Anfang der Schwangerschaft. Sie entschied sich für eine Abtreibung und hat es nie bereut.

Ein Jahr nach meiner Schwangerschaftsangst wurde das Grundsatzurteil im Fall Roe versus Wade die bundesweite gesetzliche Grundlage für Abtreibungen und hatte dann beinahe fünfzig Jahre Bestand. Nun hat der Supreme Court, das Oberste Gericht der USA, das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung abgeschafft. Man muss jetzt wieder Angst haben. Und man muss jetzt auf diese Angst reagieren, indem man gegen die Entscheidung protestiert und radikale, antidemokratische Politiker abwählt.

Die Einschränkung reproduktiver Selbstbestimmung – ein Markenzeichen autoritärer und faschistischer Regierungen

Gesetzliche Einschränkungen der reproduktiven Selbstbestimmung waren und bleiben ein Markenzeichen autoritärer und faschistischer Regierungen. In Nazi‑Deutschland waren Abtreibungen für alle „arischen“ Frauen verboten. Sie hatten die Pflicht, sich für das Reich fortzupflanzen. Sondergerichte sowohl in Deutschland als auch in Vichy‑Frankreich durften die Todesstrafe für illegale Schwangerschaftsabbrüche verhängen. In Mussolinis Italien war schon die Bereitstellung von Informationen zur Empfängnisverhütung eine Straftat. Die ohnehin illegale Abtreibung in dem Land wurde unter noch schärfere Strafe gestellt. In Spanien erklärte Franco 1941 Abtreibung zum Verbrechen gegen den Staat.

Das rechtslastige polnische Verfassungsgericht hat die bereits stark restriktiven Abtreibungsgesetze in letzter Zeit noch weiter verschärft. Aus Sorge, sie könnten das Gesetz brechen, weigerten sich Ärzte Ende letzten Jahres, einen toten Zwilling aus dem Mutterleib einer Frau zu entfernen. Sie erkrankte schwer, doch die Ärzte verweigerten weiterhin einen Eingriff, obwohl das polnische Gesetz das Recht auf Abtreibung vorbehält, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Erst zwei Tage nachdem der andere Zwilling in ihr gestorben war, brachen die Ärzte die Schwangerschaft ab. Die als Agnieszka T. bekannt gewordene Frau starb am 25. Januar. Wie in vielen amerikanischen Bundesstaaten hat in Ungarn die Regierung Orbán mehrere Hürden zwischen die Abtreibungssuchende und die Durchführung des Aborts aufgestellt. Sie wissen, dass Zeit bei einer Abtreibung von größter Wichtigkeit ist.

Die Vereinigten Staaten sind jetzt einem extrem antidemokratischen Obersten Gerichtshof unterstellt. Das ist nicht neu. Einen Großteil seiner Geschichte war das Gericht eine Körperschaft, die das konstitutionelle „Wir, das Volk“ eng als „weiße Männer, die Eigentum besitzen“ definierte. Das war die ursprüngliche Anschauung der Gründerväter. Ihr „Wir“ schloss Frauen, Indigene, Schwarze, Asiaten, Katholiken oder Juden nicht ein. Wenn man so will, begannen die USA erst dann einer Demokratie zu ähneln, als die Afroamerikaner durch den Voting Rights Act von 1965 das Wahlrecht erhielten. Als der Gerichtshof ebendieses Gesetz 2013 aushöhlte, kehrte er die stetige Ausweitung unseres „Wir“ um.

Der Originalismus, die perverse juristische Theorie, die in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts aufkam und nun im Gerichtshof vorherrscht, ist bis ins Mark reaktionär. Er behauptet, das Gesetz müsse entsprechend der „objektiven“ öffentlichen Bedeutung, die es 1787, zur Zeit seiner Abfassung, hatte, interpretiert werden. Der Originalismus ist eine Rechtsphilosophie des Stillstands, die einen historischen Augenblick oder historische Augenblicke verdinglicht. Obwohl er auch die Zusatzartikel zur Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Abfassung berücksichtigen muss und vorgeblich auch Präzedenzfälle anerkennt, leugnet er weitgehend Wandel und den dynamischen Verlauf von Geschichte.

Die extreme Rechte lebt von statischen Kategorien und strengen Grenzen. In dem durchgesickerten Entwurf einer Mehrheitsmeinung und in der endgültigen Fassung bezieht Richter Samuel Alito sich wiederholt auf das „Ungeborene“ als eine einzige Kategorie, die jedes Stadium der Schwangerschaft von der Zygote (der befruchteten diploiden Zelle) über den Embryo bis hin zum menschlichen Fötus nur Minuten vor der Geburt umfasst. So wie der Originalismus rechtliche Bedeutungen in einem bestimmten historischen Augenblick einfrieren möchte, leugnet auch die Reduktion eines dynamisch sich entwickelnden Keimlings auf eine einzige abstrakte Entität – „das Ungeborene“ – sowohl Zeit als auch Veränderung.

Die große Lüge der Abtreibungsgegner

Schwangerschaft ist genderunabhängig. Transmänner können gebären und tun es, und diese Wahrheit hat dazu geführt, dass das Wort „Frauen“ heutzutage oft aus progressiven Diskussionen über Schwangerschaft verschwunden ist. Es braucht jedoch ein funktionierendes weibliches Reproduktionssystem, um schwanger zu werden, und die fruchtbaren Jahre eines Menschen sind begrenzt. Biologie spielt eine Rolle.

Als Teenager war ich es, die sich wegen der Aussicht auf eine sich entwickelnde Schwangerschaft schämte, nicht mein Freund. Meine Tochter, und nicht ihr Freund, stand vor einem drohenden biologischen Prozess, von dem sie nicht wollte, dass er ihren Körper übernahm. Eine Schwangere ist kein passives Behältnis für das „Ungeborene“. Ihre Gefühle, wie Schrecken, Unglücklichsein, Wohlgefühl und Freude sind untrennbar mit einer Schwangerschaft verbunden. Allein die Idee, eine klare Grenze zwischen einer Schwangeren und dem Fötus zu errichten, ist absurd.

Es ist die große Lüge der Abtreibungsgegner, dass von der Empfängnis an ein „Ungeborenes“ existiere, ein Homunculus, der im Innern eines unbewegten Mama-Behältnisses auf seine Zeit wartet, bis er sich hinausdrängen kann. Die Phantasie ist uralt und so mächtig, dass sie zur Leugnung wohlbekannter biologischer Tatsachen führen kann. Im Jahr 1857 formulierte der amerikanische Arzt Jesse Boring, was meist im Verborgenen geblieben ist: „Das befruchtete Ei ist nicht nur ein bereits vitaler, embryonaler Mensch, sondern ein in wichtiger Weise unabhängiges, für sich existierendes Wesen, das sein eigenes Potential für seine Entwicklung hat, da es tatsächlich von der Mutter wie von dem Vater getrennt ist […] es gibt […] wirklich keinerlei Bindung der Plazenta an die Gebärmutter.“ Die tatsächliche physiologische Verbindung des Fötus mit der Plazenta und die Verbindung der Plazenta mit dem Uterus, aus der sie erst bei der Geburt herausgerissen wird, wird weggewünscht.

Progressive achten zwar darauf, Transmänner in ihre Beschreibungen von Schwangerschaft einzuschließen, aber autoritäre Rechte kümmern sich einen Dreck um diese Differenzierung. Laut ihrer Definition gibt es nur zwei Geschlechter, und sie haben verinnerlicht, dass der Fötus in einer Frau männlich sein könnte, ein embryonaler Mann, ein kostbares Gut, das um jeden Preis geschützt werden muss. Ich hege den starken Verdacht, dass, wenn durch Zauberei alle Föten plötzlich weiblich würden, das Grauen der Rechten vor Abtreibung verschwände.

Das Problem der aggressiven, theatralischen Männlichkeit

Aggressive, theatralische Männlichkeit geht mit allen Rechtsaußenbewegungen einher, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern an vielen Orten weltweit. Das Hirngespinst vom ungeborenen Menschen dient dazu, die fundamentale Abhängigkeit des Fötus vom Körper eines anderen Menschen zu verschleiern, eines Menschen, den die autoritäre Rechte aufgrund ihrer starren Genderkategorien als Frau betrachtet. Ihr zu erlauben, über das Schicksal der wachsenden Zellen in ihrem Innern zu entscheiden, heißt zuzugeben, dass sie, und allein sie diejenige ist, die die Zukunft der von ihrem Körper genährten Zellen kontrolliert, und dass die Entscheidung, sie zu nähren oder nicht, ihr zusteht.

Es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, wie sehr das Denken von Abtreibungsgegnern von Frauenfeindlichkeit gesteuert wird und wie sehr es bei diesem Hass um Verleugnung geht: Ich war nie im Körper einer Frau, war nie mit ihm verbunden oder wurde von ihm gefüttert. Ich war nie ein Fötus und dann ein hilfloses Neugeborenes, das auf sie oder ihresgleichen angewiesen war, um zu überleben. Abhängigkeit endet ja nicht mit der Geburt. Menschen sind besonders gefährdete Säugetiere, die ohne jahrelange Versorgung sterben.

Mehr als neunzig Prozent aller in den USA vorgenommenen Abtreibungen finden in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten oder dem ersten Trimenon statt. Wenn sich das befruchtete Ei, das eine Hohlkugel sich teilender Zellen (Blastozyste) wird, in die Gebärmutterschleimhaut einnistet – ein in der Embryologie noch nicht vollständig erforschtes Phänomen –, kann es sich zu einem Embryo entwickeln und eine Plazenta ausbilden. Obwohl die Plazenta, die aus fötalem und mütterlichem Gewebe entsteht, in den ersten drei Monaten wächst, ist die mütterliche Blutzirkulation erst ab dem zweiten Trimenon an den fötalen Blutkreislauf gekoppelt. Vorher wird der winzige Embryo unmittelbar von Sekreten der Gebärmutterschleimhaut versorgt; diese werden mitunter „Gebärmuttermilch“ genannt.

Wenn der Embryo die ersten drei Monate überlebt – es gibt viele Spontanaborte –, nimmt die Plazenta ihre Funktion als Vermittlerin der Schwangerschaft auf. Sie liefert dem Fötus Hormone und Nährstoffe, entsorgt Abfallstoffe, sondert das mütterliche und fötale Blutsystem voneinander ab und orchestriert den Zellaustausch zwischen Mutter und Fötus, was zu Mikrochimärismus führt, dem Vorkommen fötaler Zellen im Körper der Mutter noch lange nach der Schwangerschaft und umgekehrt dem Vorhandensein mütterlicher Zellen in ihrem Nachwuchs.

Es gibt keine Schwangerschaft ohne Plazenta, doch ihre bloße Existenz als Zwischenorgan muss im Diskurs der Abtreibungsgegner unterdrückt werden, weil die komplexe Plazenta‑Nabelschnur‑Verbindung die Körpergrenzen verwischt, die diese Kräfte so verzweifelt aufrechterhalten wollen.

Abtreibungen im zweiten Trimenon sind laut Planned Parenthood am häufigsten bei Mädchen unter fünfzehn Jahren. Unwissenheit über Schwangerschaft und Angst vor den Eltern sind wahrscheinlich die häufigsten Gründe für den Aufschub. Es gibt auch zwingende medizinische Gründe für spätere Abtreibungen: einen absterbenden Fötus, eine versagende Plazenta, ein Fötus, der nicht außerhalb seiner Mutter überleben könnte. Von nun an werden diese Entscheidungen an vielen Orten unseres Landes nicht von der Schwangeren und ihrer Geburtshelferin getroffen werden. Der Staat wird entscheiden, und deswegen wird es noch sehr viel mehr Agnieszka T.s geben.

Das philosophische Problem fötalen Lebens

In seiner Mehrheitsmeinung gebraucht Richter Samuel Alito das Wort „Seele“ nicht, aber dieses Wort und seine religiöse Bedeutung lauern hinter seinen Erwähnungen des „Ungeborenen“. Jahrtausendelang drehte sich das philosophische Problem fötalen Lebens um den moralischen Status des Keimlings. Hat er eine Seele? Wann bekommt er eine? Ist er eine Einzelperson, oder ist er Teil einer schwangeren Frau? Oder ist er vielmehr ein potentieller Mensch und muss nach dem gewürdigt werden, was er werden könnte?

Aristoteles glaubte nicht, dass Menschen bei der Empfängnis eine Seele haben. Der Embryo hatte eine vegetative Seele, etwa wie eine Pflanze, aber die rationale Seele, die nur Menschen besaßen, kam später. Männliche Föten wurden am 40. Tag beseelt, Frauen am 90. Die Unterlegenheit der Frau war für den Philosophen eine Gegebenheit. Laut Aristoteles verlieh das Sperma dem Embryo die aktive, belebte „Form“ oder Seele. Die Frau steuerte nur Materie bei – inaktiven körperlichen Stoff. Thomas von Aquin übernahm die aristotelische Position: Die Seele war bei der Empfängnis noch nicht da. Sie kam zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft. Die katholische Kirche wollte sich in der Frage nicht festlegen, bis Papst Pius IX. 1869 verkündete, das befruchtete Ei sei „eine Seele“.

Sowohl die katholische Kirche als auch die evangelikalen Abtreibungsgegner haben die biologistische Theorie des genetischen Determinismus übernommen, um für eine Seele bei der Empfängnis einzutreten: eine aus DNA bestehende Seele. Versteht man Gene als „Blaupause“ oder Code des Lebens, als die unveränderliche Essenz eines einzigartigen Selbst, dann kann die Zygote, die genetisches Material beider Eltern hat, als Seele betrachtet werden. In einer Veröffentlichung des Vatikans greift Enrico Berti auf Aristoteles zurück, um genau dieses Argument vorzubringen: Die DNA-Sequenz bildet eine „Formel“ oder „Form“ für ein menschliches Wesen. Berti führt Genetik als Beweis für Beseelung ins Feld.

Obwohl unsere DNA‑Sequenz weitgehend stabil ist, ist genetisches Material keine abstrakte Blaupause oder ein Code für unsere Eigenschaften. Es ist ein Stoff in jeder einzelnen unserer Zellen, und ohne die Aktivitäten der Zelle ist der Stoff inaktiv. Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass viele Formen von Stress die Genexpression beeinflussen. Wenn eine Schwangere wegen Armut in ständiger Sorge und Bedrängnis ist, wenn sie Giftstoffe aus verschmutzter Luft atmet, einen grausamen Partner hat, der sie geringschätzt, wenn sie unter dem täglichen Elend von Rassismus, Sexismus oder Fremdenfeindlichkeit leidet oder aus ihrer Heimat anderswohin geflüchtet ist – all das kann ihre Genexpression und die ihres Fötus beeinflussen. Das Genom ist keine von der Empfängnis an unveränderliche Seele. Es ist Teil der dynamischen Entfaltung des biologischen Prozesses, bei dem sich zwei vereinigte Zellen bis hin zu einem Neugeborenen entwickeln.

Die Legalität der Abtreibung bei der Entstehung der Verfassung

Die Mehrheitsmeinung, die jetzt das Grundsatzurteil Roe vs. Wade und die darauf folgende Entscheidung von 1992, Planned Parenthood vs. Casey, aufgehoben hat, ignoriert die körperliche Realität tatsächlicher Schwangerschaften. Alito macht geltend, die Abtreibung werde nicht in der Verfassung erwähnt. Vieles wird darin nicht erwähnt. Medizinische Praktiken werden nicht erwähnt. Schwangerschaft wird nicht erwähnt, vermutlich weil man keine Person, die schwanger gewesen war, gerade schwanger war oder schwanger hätte werden können, als denjenigen zugehörend ansah, die in dem großartigen Eröffnungssatz des Dokuments beschrieben werden: „Wir, das Volk“. Alitos Auslegung der verfassungsmäßigen Rechte ist so eng, dass er sich nur auf Präzedenzfälle des englischen Gewohnheitsrechts für das 1787 verfasste Dokument und auf den 14. Zusatzartikel von 1869 konzentriert, der die Staatsbürgerschaft für alle im Land Geborenen, also auch für ehemalige Sklaven, festschrieb und eine Gleichheitsklausel enthielt, die im Fall Roe vs. Wade als Argument für ein Recht auf Privatsphäre verwendet wurde.

Alito behauptet, „es gab eine ununterbrochene Tradition, die Abtreibung vom Gewohnheitsrecht an bis 1973 strafrechtlich verbot“. Das verdreht die Geschichte der Abtreibung in geradezu grotesker Weise. Wie schon häufig hervorgehoben wurde, war Abtreibung zum Zeitpunkt, als die Verfassung geschrieben wurde, weit verbreitet und bis zu den ersten Kindsbewegungen legal – also dem Moment, in dem die Frau zum ersten Mal spürt, dass sich der Fötus bewegt. Wann das eintritt, ist höchst unterschiedlich. Alito erklärt, es sei zwischen der 16. und 18. Schwangerschaftswoche der Fall, aber allgemeine Schätzungen gehen von einem späteren Zeitpunkt, um die 20. Schwangerschaftswoche, aus. Dabei übersieht Alito, dass die Angaben über die Kindsbewegungen von der Frau selbst gemacht wurden. Niemand sonst war schließlich in der Lage, es zu wissen. Nach dem Gewohnheitsrecht brauchte die Frau bei vielen Dingen die Zustimmung ihres Mannes. Abtreibung gehörte nicht dazu. Das zutiefst Ironische daran ist, dass Roe versus Wade das Abtreibungsrecht im Grunde wieder auf einen Gewohnheitsrechtstandard zurückführte, weil in den USA die meisten Abbrüche in der Mitte oder am Ende der Schwangerschaft gesetzlichen Beschränkungen unterworfen waren.

Das Geschäft mit der Abtreibung

Vom 17. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert verkauften Ärzte, Apotheker und Heiler Abtreibungsmittel, „um die Menstruation wiederherzustellen“. Indigene Frauen hatten schon lange Kräuter verwendet, um Aborte einzuleiten, und sogar Sklavinnen, deren Körper Eigentum waren und die oft von ihren Besitzern vergewaltigt wurden, hatten Rezepte, um ungewollte Schwangerschaften loszuwerden. Frühe Abtreibung war ein großes Geschäft, überall verbreitet und weithin akzeptiert. Alito verwendet viel Zeit auf die ersten Kindsbewegungen und zitiert perverserweise Fälle von Angriffen auf Schwangere als Beweis für eine Anti-Abtreibungsstimmung, statt als Beleg dafür, dass ein Gewaltverbrechen damit umso abscheulicher wurde. Laut Gewohnheitsrecht musste eine Person geboren sein, damit ihre Tötung als Mord galt. Richter Alito verwirft die Schwellenwerte für die Kindsbewegungen dann aber, weil „die Regel im 19. Jahrhundert abgeschafft wurde“. Mit anderen Worten im Jahr 1869, dem anderen von seinem Originalismus in der Zeit eingefrorenen Datum.

Es herrscht ein weitgehender wissenschaftlicher Konsens darüber, warum die ersten Kindsbewegungen ihre Bedeutung verloren, ein Konsens, den Alito ignoriert. Schwangerschaftsabbrüche wurden zumeist von Menschen außerhalb des Medizinerberufs durchgeführt, viele von ihnen Frauen. Die Ärzte begannen sich zu organisieren, um diese „Irregulären“ hinauszudrängen. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend unverheiratete, arme Frauen einen Abbruch wollten, war es dann eine wachsende Zahl weißer, verheirateter angelsächsischer Mittelklasse-Frauen, die sich auf die in Zeitungen geschalteten Anzeigen zur Lösung ihres Frauenproblems meldeten. Abtreibung wurde ein Thema für nativistische Einwanderungsgegner, als Millionen von Einwanderern – Iren, Italiener und osteuropäische Juden – in die Vereinigten Staaten kamen. Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass viele Angelsachsen die Neuankömmlinge als rassisch andersartig betrachteten. Iren zum Beispiel waren als „Kelten“ minderwertig. „Schottische Iren“ war ein Begriff, mit dem die Protestanten unter ihnen bezeichnet wurden. Die Idee des „Weißseins“ gab es schon immer in den USA, aber seine Definition hat sich mit der Zeit verändert.

Zurück in die brutale Ära der Gebärmuttergesetzgebung

1869 war der Bürgerkrieg beendet. Schwarze erhielten für kurze Zeit das Wahlrecht, bis die Jim‑Crow‑Gesetze es ihnen wieder nahmen. Weiße Frauen forderten ungestüm das Wahlrecht und Zugang zu Berufen, einschließlich der medizinischen. Sie verfochten lautstark das Recht auf „gewollte Mutterschaft“. Die Ärzte widersetzten sich. Sie nahmen Einfluss auf die Gesetzgebung, um Abtreibung als gefährlichen Eingriff und moralische Untugend zu verbieten. Horatio Storer, der Vorsitzende der Ärzte gegen Schwangerschaftsabbruch, machte sich Sorgen um die demographische Veränderung. Was würde geschehen, wenn die Angelsachsen ihre politische Macht verlören? Er fragte sich laut, ob die westlichen Territorien „von unseren Kindern oder denen dieser Fremden gefüllt sein würden“. Das alte Lied. „Ich möchte mich bei Ihnen für den historischen Sieg im Supreme Court zugunsten des weißen Lebens bedanken“, sagte Mary E. Miller, eine republikanische Abgeordnete, kürzlich bei einer Kundgebung zu Donald Trump.

Im Jahr 1880 hatten die Ärzte ihren Kreuzzug dann gewonnen. Auf die vielen im 19. Jahrhundert verabschiedeten Gesetze gegen Abtreibung hinweisend, schreibt Alito, es gebe Beweise, dass „diese Gesetze von der aufrichtigen Überzeugung motiviert waren, dass Abtreibung ein menschliches Wesen tötet“. Und dann, in Anspielung auf die Geschichte, die er offensichtlich kennt, aber nicht erwähnen will, fragt er: „Sollen wir etwa glauben, dass die Hunderten Abgeordneten, deren Stimmen für die Verabschiedung dieser Gesetze erforderlich waren, von Feindseligkeit gegen Katholiken und Frauen motiviert waren?“

Meine Antwort lautet: Ja – und auch von der Feindseligkeit gegen andere. Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie sind eine giftige Mischung. Der Oberste Gerichtshof hat uns in die brutale Ära der Gebärmuttergesetzgebung zurückversetzt, zu der angsterfüllten 16jährigen im Jahr 1972 und zu unzähligen anderen wie sie, deren reproduktive Körper Staatseigentum geworden sind.

Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „Racism, Patriarchy, and Power: Siri Hustvedt on the Toxic Thinking Behind the Supreme Court’s Destruction of Abortion Rights“ bei „Literary Hub“ erschienen ist. Übersetzt von Uli Aumüller.

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