Ausgabe Juli 2022

Syrien helfen – den Menschen, nicht dem Regime!

Menschen im Flüchtlingscamp Ain Issa in Nordsyrien, 8.7.2017 (IMAGO/Le Pictorium)

Bild: Menschen im Flüchtlingscamp Ain Issa in Nordsyrien, 8.7.2017 (IMAGO/Le Pictorium)

Im Schatten des Ukraine-Krieges hat sich die Welt mit einem Konflikt arrangiert, der für Europa und die Bundesrepublik teuer und folgenreich ist: der Krise in und um Syrien. Mehr als eine Million Syrer*innen sind nach Europa geflüchtet. In Deutschland bilden die 880 000 Menschen mit syrischem Pass nicht nur unter den Migrant*innen die zweitgrößte Gruppe, sondern auch bei den Einbürgerungen. Und noch immer werden Monat für Monat die meisten Erstanträge auf Asyl von Syrer*innen gestellt – im Mai waren es 3555.[1] Für die Versorgung der Menschen in Syrien und dessen Nachbarländern gibt Berlin Jahr um Jahr mehr als eine Milliarde Euro aus und ist damit der wichtigste bilaterale Geber humanitärer UN-Hilfe für das Land. Dennoch geht es den Syrer*innen so schlecht wie noch nie.

Die Lage im Land ist katastrophal. 90 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, Inflation und steigende Preise verstärken die Not. Mehr als 14 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, sieben Millionen Binnenvertriebene harren in zugigen Zelten und provisorischen Unterkünften aus. Die Hälfte der Bevölkerung musste seit Beginn des Krieges vor elf Jahren ihr Zuhause verlassen und kann nicht zurück – die meisten, weil das Regime sie enteignet hat oder ihnen unter Machthaber Baschar al-Assad Verhaftung und Folter drohen. Andere, vor allem kurdische Vertriebene, sind vor den türkischen Militärinterventionen im Norden geflohen und müssen jetzt zusehen, wie syrische Islamisten im Auftrag Ankaras ihr Eigentum beschlagnahmen und an Verbündete verteilen.

Die Angst ist in Syrien nach wie vor allgegenwärtig: Je nach Region fürchten die Menschen Assads Geheimdienste, extremistische Milizen, einen weiteren türkischen Einmarsch oder die Rückkehr des sogenannten Islamischen Staates (IS). Der Traum von einem Leben in Würde, für das die Syrer*innen ab Frühjahr 2011 demonstriert hatten, ist Elend, Verzweiflung und Resignation gewichen. Befreien kann sich nur, wer die Kraft und Mittel zur Flucht aufbringt: Während die Türkei eine Million syrische Geflüchtete nach Nordsyrien zurückschicken will und in einigen EU-Staaten darüber diskutiert wird, wann es wohl sicher genug für Abschiebungen nach Syrien sein könnte, denken noch immer Tausende Syrer*innen darüber nach, wie sie wegkommen können. Ziel muss deshalb sein, die Bedingungen im Land so zu verbessern, dass die Menschen dortbleiben wollen.

Erste Voraussetzung dafür ist die ehrliche Einsicht, dass der Syrien-Konflikt in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht gelöst werden wird. Gespräche über eine neue Verfassung, wie sie in unregelmäßigen Abständen – und ohne Ergebnis – in Genf stattfinden, sollten nicht als „Friedensverhandlungen“ missverstanden werden. Da Russland das Assad-Regime mit militärischen und politischen Mitteln an der Macht hält, gilt seit Jahren: Der Weg zu einer politischen Lösung in Syrien führt über Moskau, auch weil der andere wichtige Unterstützer Assads – der Iran – aufgrund seiner eigenen Isolation als Vermittler ausfällt. Doch dieser Weg ist nun verschüttet. Durch seinen Angriff auf die Ukraine ist Russlands Präsident Wladimir Putin vom Strippenzieher zum Paria geworden, zumindest für Amerikaner und Europäer, die in ihm nicht mehr einen Partner zum Frieden, sondern einen Kriegstreiber sehen. Damit ist der Syrien-Konflikt noch unlösbarer geworden als zuvor.

Assad wird also weiterherrschen wie bisher, und unter seinem Regime kann das Land keinen Frieden finden. Mit russischer und iranischer Unterstützung hat er zwischen 2016 und 2020 wichtige Gebiete zurückerobert, seine Gegner sind geflohen, geschlagen oder diskreditiert. Es gibt für ihn folglich keinen Grund, Macht abzugeben. Ohnehin ist sein Regime als totalitärer Polizeistaat mit mafiösen Strukturen unfähig zu Reformen.

Wegen dieser Abhängigkeit von anderen ist Assads Herrschaft zwar nicht stabil, aber überlebensfähig. Die Profiteure seines Systems leben von der westlich finanzierten UN-Hilfe, vom Handel mit synthetischen Drogen[2] und von den Devisen-Einnahmen, die die syrischen Botschaften in Europa mit Passgebühren eintreiben. Damaskus‘ Botschaft in Berlin ist dabei die größte Gelddruckmaschine, da die Hälfte der in Deutschland lebenden Syrer*innen nur subsidiären Schutz hat und bei den Ausländerbehörden gültige syrische Papiere vorweisen muss. Mehr als 400 000 Syrer*innen sind dadurch gezwungen, alle zwei Jahre für jeweils mehrere hundert Euro ihre Dokumente erneuern zu lassen – auf diese Weise kommen Millionenbeträge zusammen.

Auch in der Region läuft es für Assad gut. Die arabischen Nachbarn nähern sich ihm wieder an. Staatsbesuche, Ministertreffen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Wiedereröffnung von Botschaften in Damaskus treiben die Rehabilitierung des syrischen Regimes voran – aller schweren Verbrechen zum Trotz. Dahinter steckt ein einfaches Kalkül: Da Assad nicht so bald abtreten wird, holt man ihn lieber in den arabischen Geltungsbereich zurück, statt Syrien dem Einfluss des Iran, Russlands und der Türkei zu überlassen.

Wie also umgehen mit einem festgefahrenen Konflikt in der Nachbarschaft, der Europa unmittelbar betrifft, dessen Profiteure aber wegen ihrer Verbrechen keine Partner sein können? Wie lässt sich die Not der Menschen lindern, ohne das Assad-Regime zu stärken?

Der Schlüssel dazu liegt in der derzeitigen geographischen Vierteilung des Landes: Seit Frühjahr 2020 sind die Konfliktlinien weitgehend eingefroren, Syrien ist in vier Einflusszonen zerfallen. Die bevölkerungsreichen Gebiete im Zentrum (Damaskus, Homs, Hama und Aleppo), entlang der Küste (Tartus und Latakia) und im Süden (Daraa und Sweida) kontrolliert Assad. Der Nordosten – fast ein Drittel des Staatsgebietes – wird von der kurdisch dominierten Autonomen Verwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) regiert. In der letzten von Assad-Gegnern gehaltenen Region in der nordwestlichen Provinz Idlib herrscht Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ein Zusammenschluss extremistischer Milizen. Und im Norden, entlang der türkisch-syrischen Grenze, hat Ankara syrische Söldner und Oppositionelle als Statthalter installiert. In jedem dieser Gebiete haben sich unterschiedliche Realitäten entwickelt, die je eigene Antworten der internationalen Gemeinschaft erfordern – nicht, um die Teilung zu zementieren, sondern um die Lebensbedingungen der Menschen erträglicher zu machen und den Austausch zwischen den Regionen zu erleichtern. Schon jetzt wird über Kriegsfronten hinweg gehandelt und geschmuggelt: Öl und landwirtschaftliche Produkte, Waren aus der Türkei, Waffen, Drogen und Menschen. Von dieser Kriegswirtschaft profitieren jedoch vor allem bewaffnete Gruppen, lokale Geheimdienstvertreter und Assad-nahe Geschäftsleute. Ein landesweites Netz aus Kontrollposten sichert ihnen den willkürlichen Zugriff auf alles, was Geld bringt, während die lokale Bevölkerung nie weiß, woran sie ist, und unter ständig steigenden Preisen und neuen Bestimmungen leidet.

Das geteilte Land

Würden ausländische Geber Syrien vorübergehend als geteiltes Land begreifen und einen effektiven Umgang mit den verschiedenen regionalen Machthabern finden, könnte zwischen diesen ein Aushandlungsprozess in Gang kommen – nicht über politische Themen wie Demokratie, Mitbestimmung und die Aufarbeitung von Verbrechen, sondern über die praktischen Alltagsprobleme, die ohne geregelte Zusammenarbeit das Leben der Syrer*innen erschweren: die Lieferung von Öl und Kochgas, der Transport von Gemüse und Obst, die Versorgung mit Strom und Wasser, die Anerkennung von Schulabschlüssen oder die medizinische Versorgung.

Für solche pragmatischen Vereinbarungen werben auch der Konfliktberater Malik al-Abdeh und der Politikwissenschaftler Lars Hauch, die sich seit Jahren mit der Krise in Syrien befassen: Zunächst müsse man die großen Fragen wie Identität, Legitimität und Machtteilung ausklammern und sich auf technische Details konzentrieren. Alle Beteiligten – Regime, HTS, türkisch unterstützte Opposition und AANES – seien dabei als gleichwertige Verhandlungspartner anzusehen. Und es dürfe nur gleiches mit gleichem getauscht werden, etwa indem jeweils beide Seiten Straßensperren oder Zölle abbauen.[3] Keinesfalls sollten einmalige Gesten des guten Willens wie die Freilassung von Gefangenen zu strukturellen Veränderungen wie der Aufhebung von Sanktionen führen, schreiben al-Abdeh und Hauch und kritisieren damit den bisherigen Ansatz der UN gegenüber Damaskus. Dieser beruht auf gegenseitigen Zugeständnissen, ohne jedoch klar zu benennen, welches Angebot des Regimes mit welcher Gegenleistung belohnt würde.

Bessere Kontakte zwischen den syrischen Einflusszonen könnten auch einem Staatszerfall entgegenwirken und langfristig die Grundlagen für eine politische Einigung schaffen, so al-Abdeh und Hauch. Deshalb seien grenzüberschreitende Abkommen auch im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Sie sollten daher von den UN unterstützt, von den Interventionsmächten mit Garantien abgesichert und von den syrischen Konfliktparteien in direkten Gesprächen ausgehandelt werden. Europäer und Amerikaner müssen die jeweiligen Machthaber dafür nicht legitimieren. Sie sollten ihnen gegenüber nur klarmachen, wer am längeren Hebel sitzt – nämlich Europa und die USA, die 80 Prozent der humanitären Hilfe finanzieren und deshalb an jedem Ort in Syrien sicherstellen wollen, dass dieses Geld den Bedürftigsten zugutekommt. Statt den Goldesel zu spielen und Jahr für Jahr Milliarden in den UN-Topf zu werfen, aus dem sich Assad bedient, wie er will, sollte Europa seine Wirtschaftskraft endlich in Verhandlungskapital umwandeln.

Wie ineffektiv und korrupt das internationale Hilfesystem für Syrien ist, beschreibt die US-Wissenschaftlerin Natasha Hall in einem schockierenden Bericht.[4] Sie zeigt, dass das Assad-Regime die humanitäre Hilfe seit Jahren als Instrument des eigenen Machterhalts nutzt, beginnend mit dem künstlich niedrigen Wechselkurs, der für die UN beim Kauf von syrischen Pfund gilt. Dadurch landen 51 Cent pro Dollar – also mehr als die Hälfte der Hilfsgelder – als Devisenreserven bei der Zentralbank in Damaskus. Der Rest wird von den UN-Unterorganisationen an syrische Partner weitergegeben, die mit dem Regime eng verbunden sind. Dass viele dieser Partner auf der Sanktionsliste von EU und den USA stehen, kümmert die UN nicht – Hauptsache, die Genehmigungen werden zügig erteilt und die Arbeit läuft.[5] Zugleich lassen sich die verschiedenen UN-Organisationen vom Regime gegeneinander ausspielen, manch hochrangiger UN-Funktionär in Damaskus klingt inzwischen gar wie ein Bewunderer Assads.

Geberländer wie Deutschland müssten ihre Unterstützung für die Regime-Gebiete deshalb an konkrete Bedingungen knüpfen. Drohen europäische Steuergelder weiterhin bei denjenigen zu landen, die aus gutem Grund sanktioniert sind, sollten Hilfen zurückgehalten werden. Dadurch würde der Druck auf die UN wachsen, Damaskus klarzumachen, dass die Milliarden entweder nach humanitären Kriterien ausgegeben werden oder gar nicht. Schließlich ist es Assad, der die UN braucht, und nicht umgekehrt. Die Unterorganisationen müssen geeint auftreten, Regime-freundliches Personal austauschen, unabhängige Bedarfspläne aufstellen und diese umsetzen. Verweigert das Regime seine Zustimmung, wird das Geld zunächst nicht ausgezahlt. Zuckerbrot und Peitsche – anders wird es nicht gehen.

Eine solche Neuausrichtung der UN-Hilfe würde die Menschen in den Regimegebieten besser versorgen, und müsste zugleich sicherstellen, dass auch der kurdisch geprägte Nordosten die notwendige Unterstützung bekommt. Seitdem der syrisch-irakische Grenzübergang Al-Yaroubia Anfang 2020 durch Russlands Veto im Weltsicherheitsrat geschlossen wurde, muss die gesamte UN-Hilfe für Nordostsyrien über Damaskus laufen. Mit den Behörden der Autonomen Verwaltung AANES dürfen die UN nicht direkt kooperieren. NGOs versuchen zwar, entstandene Lücken zu schließen, doch vor allem die Gesundheitsversorgung im Nordosten leidet unter dem faktischen Vetorecht des Regimes. So lieferte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) während der Corona-Pandemie weder notwendiges Testmaterial noch entsprechende Impfdosen, weil Damaskus keine Erlaubnis erteilte. Sollte die WHO aus Rücksicht auf das Regime weiterhin die drei Millionen Menschen im Nordosten im Stich lassen – darunter Hunderttausende Vertriebene, die vor den völkerrechtswidrigen Offensiven der Türkei geflohen sind –, müssten sich ausländische Geber lokale Partner suchen.

Das Wiedererstarken des IS verhindern

Die AANES-Gebiete bieten dafür gute Voraussetzungen, da mehr als 200 NGOs dort relativ frei agieren können. Selbst vorsichtige Länder wie Deutschland, die den Unmut der Türkei fürchten, weil diese das Autonomieprojekt aufgrund der Verbindungen zur PKK-nahen Partei der Demokratischen Union (PYD) als „terroristisch“ bezeichnet und bekämpft, können folglich helfen, denn sie müssen dafür nicht direkt mit der AANES kooperieren. Das Gesundheitssystem ließe sich etwa über den Kurdischen Roten Halbmond unterstützen, eine unabhängige Organisation, die seit Jahren Geld aus Europa und den USA erhält und sich als zuverlässiger Partner erwiesen hat.

Die Entwicklung der Region ist wichtig, um dem Wiedererstarken des IS entgegenzuwirken, der erfolgreich unter den Angehörigen ehemaliger IS-Kämpfer und der verarmten Bevölkerung in den Provinzen Raqqa und Deir a-Zor rekrutiert. Eine jahrelange Dürre und der Umstand, dass der Euphrat so wenig Wasser führt wie noch nie, weil die Türkei am Oberlauf mehr Wasser entnimmt, als sie einem Abkommen gemäß darf, machen viele landwirtschaftliche Flächen unbenutzbar. Der Getreideanbau im Nordosten sicherte früher die landesweite Brotversorgung, jetzt droht der Region der wirtschaftliche Kollaps. Ernteausfälle von 75 Prozent können auch wegen des Ukraine-Kriegs nicht so einfach durch Einfuhren ersetzt werden, die Nahrungsmittelpreise haben sich vervielfacht. Umso dringender sind Investitionen in Infrastruktur und Landwirtschaft. Die USA haben das erkannt und im April ihre Syrien-Sanktionen für den Nordosten aufgehoben – in der Hoffnung, private Firmen und andere Regierungen zu mehr Engagement zu ermutigen. Europa sollte diese Chance nutzen, um wenigstens in einem Drittel des syrischen Staatsgebietes eine nachhaltigere Entwicklung in Gang zu setzen, die die Bewohner langfristig unabhängig von humanitärer Hilfe macht.

Bleibt das Ringen um die Versorgung der vier Millionen Menschen in der Provinz Idlib. Die Mehrheit von ihnen sind Binnenvertriebene, die im Laufe des Krieges mehrfach vor dem Regime fliehen mussten und seit Jahren in Zeltstädten entlang der Grenze zur Türkei oder in Bauruinen leben. Noch dürfen die UN das Gebiet im Nordwesten über den Grenzposten Bab al-Hawa versorgen – ohne Zustimmung des Regimes. Doch diesem Übergang droht im Juli das Aus, wenn der Weltsicherheitsrat über eine Verlängerung abstimmen muss und Russland wie in früheren Fällen sein Veto einlegt, um die gesamte Hilfe über Damaskus zu lenken. Dann könnte die humanitäre Versorgung im Nordwesten zusammenbrechen.

Kernproblem in Idlib ist der lokale Machthaber HTS, dem auch der frühere Al-Qaida-Ableger Nusra-Front angehört und der deshalb international als Terrorgruppe gilt. Seit 2017 betreibt HTS mit der „Syrischen Erlösungsregierung“ eigene Verwaltungsstrukturen, unter denen inzwischen 2,7 Millionen Menschen leben. Internationale Geber haben sich daraufhin weitgehend zurückgezogen und fördern nur noch NGOs, die beweisen können, dass kein Geld bei HTS landet. Dadurch sind lokale Organisationen unter extremen Druck geraten – sie sollen die wachsende Not lindern, brauchen für ihre Arbeit vielerorts die Zustimmung der „Erlösungsregierung“, bekommen aus dem Ausland aber nur Geld, wenn sie von HTS unabhängig sind. Natasha Hall fordert in ihrer Studie deshalb, Geberländer und UN sollten sich zusammenschließen und mit HTS klare Rahmenbedingungen für die Unterstützung aushandeln. Dadurch würde auch der Einfluss der „Erlösungsregierung“ begrenzt. Da HTS sich seit längerem um internationale Anerkennung bemüht, indem seine Führung sich pragmatisch gibt, ausländische Kämpfer ausweist und radikalere Gruppen wie den IS bekämpft, sind die Geberländer in der Position, das Verhalten der Terrorgruppe zu beeinflussen. Dabei geht es nicht darum, HTS zu legitimieren, sondern die wertvolle Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen aufrechtzuerhalten – im Interesse der Menschen in Idlib.

Für diese Wende in der internationalen Syrien-Hilfe braucht es Kenntnis der lokalen Bedingungen und Entschlossenheit: In Regimegebieten dürfen sanktionierte Organisationen keine UN-Gelder mehr erhalten, für die Verteilung von Hilfe müssen die Regeln der UN und nicht die des Regimes gelten. Der Nordosten sollte nicht nur humanitär versorgt, sondern auch mit Infrastrukturmaßnahmen entwickelt und stabilisiert werden. Im Nordwesten braucht es ein koordiniertes Vorgehen aller Geber, um gegenüber HTS Bedingungen durchzusetzen, die eine langfristige Versorgung der Menschen ermöglichen, ohne die Terrorgruppe zu stärken.

Gelingt dies nicht, werden die Milliardenzahlungen des Westens weiterhin Assads Macht festigen und die bedürftigsten Menschen verelenden lassen. Ohne Aussicht auf Besserung werden sich vor allem junge Menschen auf den Weg nach Europa machen oder sich extremistischen Gruppen anschließen. Wer also weitere Flüchtende oder gar einen neuerstarkten IS verhindern will, muss endlich dafür sorgen, dass die Hilfe in Syrien dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

[1] Vgl. Asylgeschäftsstatistik Mai 2022, www.bamf.de, 8.6.2002.

[2] Syrien gilt als weltweit größter Produzent des Aufputschmittels Captagon. Vgl. Ulrich von Schwerin, Wie Syrien zum Narco-Staat wurde, www.nzz.ch, 11.1.2022.

[3] Malik al-Abdeh und Lars Hauch, A new conflict management strategy for Syria: Creating a Safe, Calm and Neutral Environment, Clingendaal Institute, Juni 2022.

[4] Natasha Hall, Rescuing Aid in Syria, www.csis.org, 14.2.2022.

[5] So gehen allein 60 bis 80 Prozent der Gelder an den Syrisch-Arabischen Roten Halbmond, der vom Regime gesteuert wird.

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