Ausgabe Juli 2022

Taumelnde Weltordnung

Die Zeitenwende und die globale Klimapolitik

Gruppenbild des G7-Gipfels in Elmau, 26.6.2022 (IMAGO/Frank Ossenbrink)

Bild: Gruppenbild des G7-Gipfels in Elmau, 26.6.2022 (IMAGO/Frank Ossenbrink)

Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt sich wie in einem Brennglas, dass die gesamte Weltordnung ins Taumeln geraten ist: Die Atommacht Russland agiert imperialistisch und will das Recht des Stärkeren kriegerisch durchsetzen – gegen die Idee einer regelbasierten Weltordnung. Sie schreckt dabei nicht einmal davor zurück, mit der nuklearen Eskalation zu drohen. Die Weltgemeinschaft steht jedoch keineswegs geschlossen gegen den Aggressor, sondern zeigt sich tief gespalten. Zugleich wird uns im „Westen“ – obwohl wir uns selbst für die größten Universalisten und Nachhaltigkeitspioniere halten – in weiten Teilen der Welt Scheinheiligkeit attestiert. Vor diesem Hintergrund kommen wir nicht umhin, uns einzugestehen, dass wir seit zwei Dekaden von einer globalen Interdependenzkrise in die nächste stolpern.

Diese globale Gemengelage dürfen wir uns nicht schönreden. Wenn Demokratie, Freiheit, Frieden und nachhaltige Entwicklung im Zeitalter globaler Vernetzung eine Zukunft haben sollen, muss Putins Eroberungskrieg zweifellos gestoppt werden. Doch die vielbeschworene „Zeitenwende“ geht weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus. Nicht nur die Handlungsfähigkeit der Bundeswehr und der europäischen Sicherheitspolitik ist massiv eingeschränkt, auch unsere klima-, entwicklungs- und wirtschaftsbezogenen Anstrengungen zugunsten einer Global Governance reichen beileibe nicht aus, um die immer dramatischeren Krisenkaskaden zu vermeiden.

Fest steht bei alledem eines: Die 2020er Jahre sind die entscheidende Dekade, insbesondere um den gefährlichen Klimawandel noch vermeiden zu können. Doch uns läuft die Zeit davon. Die Transformationen zur Klimaneutralität und zu nachhaltiger Entwicklung in den Grenzen des planetaren Systems, die mit dem Pariser Klimaabkommen und den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) umschrieben sind, können nur gelingen, wenn die weltweite Kooperation in diesen Feldern massiv vertieft wird. Die Ampel-Koalition hat sich vorgenommen, diese Agenden national, europäisch und international ambitioniert voranzubringen. Doch der Krieg in der Ukraine droht viele der Vorhaben massiv zurückzuwerfen.

Dabei ist klar, dass es ein einfaches Zurück zur alten Ordnung vor der „Zeitenwende“ nicht geben kann. Der Blick nach vorn muss daher zweierlei leisten – den Aggressor Russland in die Schranken weisen und sich zugleich auch in die Zukunft richten. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn der Krieg absorbiert viele politische und finanzielle Ressourcen. Dennoch ist eine umfassendere Kraftanstrengung nötig, damit die gegenwärtige internationale Krisenkonstellation zu einer Katharsis und einer echten Neubesinnung führt, die die Chancen für internationale Kooperationsallianzen im 21. Jahrhundert erweitert und einen Zerfall der globalen Ordnung abwendet.

Der von Bundeskanzler Olaf Scholz geprägte Begriff der „Zeitenwende“ unterstreicht bisher vor allem die Bedeutung der Sicherheitspolitik (das 100 Mrd.-Paket für die Bundeswehr, die Stärkung von Nato und europäischen Sicherheitsinfrastrukturen), damit eine durch imperiale Aggressoren geprägte Ordnung vermieden wird. Zugleich müssen in der „Zeitenwende“ jedoch Investitionen und Initiativen mobilisiert, beschleunigt und neu ausgerichtet werden, um die Räume für globale Kooperationsanstrengungen und die Grundlagen für eine weltweite Kooperationskultur massiv zu erweitern. Ansonsten wird die erforderliche Transformation zur Klimaneutralität und zu einer inklusiven Weltwirtschaft in den planetaren Grenzen scheitern, wie sie zahlreiche IPCC-Berichte und andere Studien detailliert beschreiben.

All das klingt nach der Quadratur des Kreises. Sicher ist jedoch: Die Transformationen zur Nachhaltigkeit und eine wirksame Klimaaußenpolitik können nicht von den Schockwellen in der Weltpolitik isoliert werden. Putin hat den „Westen“ zusammengeführt, doch seine Aggression ist ein Multiplikator tiefergehender Spannungen im internationalen System und ein Sprengsatz für den globalen Zusammenhalt. Drei Perspektiven sind dabei von entscheidender Bedeutung.

Wir erleben Kaskaden globaler Interdependenzkrisen

Erstens: Wir erleben in den vergangenen beiden Dekaden regelrechte Kaskaden von globalen Interdependenzkrisen. Zwar war das Jahr 2015, mit dem Pariser Abkommen und der Verabschiedung der SDGs, eine Sternstunde des Multilateralismus. Dagegen fällt das Gesamtpanorama der ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts weit weniger positiv aus: In den vergangenen 20 Jahren stolperte die Staatengemeinschaft in kurzen Abständen von einer globalen Krise in die nächste: Auf den Terrorangriff vom 11. September 2001 reagierten die USA und ihre Verbündeten mit dem „war on terror“ in Afghanistan und Irak. 2008 folgte die internationale Finanzmarktkrise, und ab 2015 kam es zu den großen Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa, die nur einen kleinen Teil der Flüchtlingsdynamiken in Ländern des globalen Südens ausmachten. Zeitgleich reüssierten keineswegs zufällig nationalistisch-autoritäre Bewegungen in den Ländern des Westens (Trump, Orbán, Le Pen), begleitet von massiven nationalistischen Trends etwa in China und Indien bei gleichzeitiger Schwächung und zuweilen gar Lähmung multilateraler Foren und Organisationen. Ende 2019 folgte schließlich die Corona-Pandemie, die Ungleichheiten weltweit verstärkt und Fortschritte in der Armutsbekämpfung zunichte gemacht hat, und im Februar dieses Jahres Russlands Angriff auf die Ukraine. Diese Liste der Krisen könnte, insbesondere aus der Perspektive anderer Weltregionen, noch ausdifferenziert werden. Sie veranschaulicht in jedem Fall: Wir haben die Globalisierungsdynamiken nicht im Griff. Das Zusammenspiel der bisher etablierten Global-Governance-Mechanismen hat nicht für Stabilität gesorgt. Im Gegenteil: Der Dauermodus der globalen Interdependenzkrisen wird von vielen Menschen als Kontrollverlust wahrgenommen und befeuert nationalistisch-autoritäre Bewegungen. Unsere bisherigen Strategien reichen offensichtlich nicht aus, um die global vernetzte Welt in stabiles Fahrwasser zu bringen. Zur „Zeitenwende“ gehört daher auch: Nicht nur die Bundeswehr ist in einem lamentablen Zustand, auch unsere Institutionen internationaler Kooperation erweisen sich in der Rückschau, trotz vielfältiger Anstrengungen, als allenfalls begrenzt wirksam und wenig resilient.

Jede dieser grenzüberschreitenden Krisen hat die Anstrengungen in der Klimapolitik zurückgeworfen und abgebremst. Die Klima- und Erdsystemkrise ist zudem ein dauerhafter Schwelbrand der Weltpolitik, der vielfach Dürre-, Hitze-, Ernährungs- und Fluchtkrisen auslöst – deren Wucht weiter zunehmen wird. Setzt sich dies unvermindert fort, werden wir die UN-Klima- und Entwicklungsziele nicht erreichen. Von der regelbasierten Weltordnung vor der „Zeitenwende“ zu sprechen, die es nun wieder herzustellen gelte, negiert diese strukturelle Fragilität und Instabilität einer internationalen Ordnung, die schon zuvor den Dynamiken der global hochgradig vernetzten Ökonomien, Gesellschaften und Ökosystemen nicht gerecht geworden ist. Wir werden daher viel mehr und auf veränderte Art und Weise für globalen Austausch sorgen müssen, um mehr oder weniger heil durch das 21. Jahrhundert zu kommen. Wie wir 100 Mrd. Euro zur Modernisierung der Bundeswehr klug einsetzen, ist zweifellos keine leichte Übung, aber immerhin gibt es dafür konkrete Defizitlisten zum Zustand der Armee. Wie wir dagegen globale Gestaltungs- und Kooperationsmacht aufbauen können, um nicht in den nächsten 20 Jahren erneut ein halbes Dutzend weiterer Globalkrisen zu durchlaufen, die uns daran hindern, die Klima- und Erdsystemkrisen bis Mitte des Jahrhunderts abzuwenden, ist eine weit größere Herausforderung, für die es keine Blaupausen gibt. Das galt bereits vor dem Krieg gegen die Ukraine, wird aber umso dringender angesichts einer Nuklearmacht Russland, die zentrale Bausteine jedweder regelbasierten internationalen Ordnung angreift.

Die neutralen Staaten sind entscheidend

Das führt zur zweiten wichtigen Perspektive: Wenn die angesichts des russischen Eroberungskrieges „neutralen Staaten“ nicht für eine neue Global Governance gewonnen werden, werden die Klimaziele zweifellos scheitern.

Am 2. März 2022 unterstützten 141 Regierungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution „Aggression against Ukraine“, vier Staaten (Belarus, Eritrea, Nordkorea, Syrien) stimmten dagegen, 35 Regierungen enthielten sich. Das ist einerseits eine klare Mehrheit gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Sie darf jedoch andererseits nicht davon ablenken, dass das Narrativ, Russland wäre weltweit isoliert, die schwierige Situation nur unzureichend beschreibt. Denn mit China und Indien gehören zwei große, bevölkerungsstarke, wirtschaftlich potente und für die Bekämpfung der Klimakrise zentrale Länder zu den „neutralen Staaten“. Beide sind Teil der G 20. Eine größere Gruppe afrikanischer Staaten, unter ihnen Südafrika (ebenfalls G 20-Mitglied), hat sich ebenfalls enthalten. Insgesamt ist unser Nachbarkontinent in der Frage der Haltung gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine gespalten.

Zusammen mit weiteren großen Staaten in Asien und Lateinamerika sowie jenen 12 Staaten, die sich nicht an der Abstimmung beteiligten, hat sich insgesamt eine Gruppe aus 51 Staaten nicht gegen die Aggression ausgesprochen. Angesichts des klaren Tatbestandes eines Angriffskrieges kann man das durchaus als Überraschung bezeichnen. Hinzu kommt, dass der Riss nicht zwischen demokratischen und autoritären Ländern verläuft: So haben sich unter anderem Indien, Südafrika und Senegal enthalten, diese Staaten sind aber demokratisch verfasst. Mit Blick auf die Klimaverhandlungen und -kooperationen müssen Deutschland und Europa mit den „neutralen Staaten“ unbedingt im Gespräch bleiben. Allein China und Indien könnten im Jahr 2030 für den Ausstoß von 20 Gigatonnen Treibhausgasen verantwortlich sein. Wenn das Ziel ist, die Emissionen global im Verlauf der 2020er Jahre zu halbieren (auf etwa 20-25 Gigatonnen!), um überhaupt noch eine Chance zu haben, unter zwei Grad Erwärmung zu bleiben, führt an einer vertieften, disruptiv beschleunigten Kooperation mit diesen beiden „Elefanten im Raum“ kein Weg vorbei.

Das weit verbreitete Misstrauen gegen Europa und den »Westen«

Wie aber kann eine solche Zusammenarbeit im Schatten der Aggression Russlands aufrechterhalten und vorangetrieben werden? Das ist eine sehr schwierige Frage. Fest steht nur, dass die notwendigen klimapolitischen Durchbrüche, die der Pariser Vertrag vorsieht, unmöglich sein werden, wenn sich die „neutralen Staaten“ in den Klimaverhandlungen als Gegenmacht zum „Westen“ formieren – oder auch nur deren Ambitionen im Klimaschutz nachlassen, weil wechselseitige Klimaaußenbeziehungen sich verflüchtigen. Wie Deutschland und Europa mit den „neutralen Ländern“ in der internationalen Diplomatie umgehen, mit Blick auf den Ukraine-Krieg, aber auch darüber hinaus, ist demnach eine zentrale Frage hinsichtlich der erforderlichen „Zeitenwende“.

Damit kommen wir zur dritten Perspektive: Schon was den Krieg Russlands gegen die Ukraine anbelangt, zeigt sich eine große Kluft in der globalen Perzeption. Unsere westliche Wahrnehmung ist: Hier geht es um die Grundpfeiler der globalen Ordnung und des Völkerrechtes, das Recht der schwächeren Staaten gegenüber gewaltbereiten Großmächten, gar die Verhinderung eines menschheitsbedrohenden Nuklearkrieges. Wenn wir in einer solchen Bedrohungslage weltweit nicht zusammenstehen, wann dann? Man hätte aus dieser Perspektive erwarten können, dass sich die großen Regionalorganisationen klar gegen den Krieg Russlands und den Anschlag auf die internationale Friedensordnung aussprechen, etwa der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), der Gemeinsame Südamerikanische Markt (Mercado Común del Sur, MERCOSUR) oder die Afrikanische Union (AU). Man hätte weltweite Demonstrationen vermuten können, gegen eskalierende, globale Kriegsgefahren. Doch die Gesamtlage ist eine völlig andere: Russland ist keineswegs umfassend isoliert. Auf der internationalen Bühne schließen sich nicht etwa die Reihen hinter Europa und dem transatlantischen Bündnis, dem „Westen“, der – als Folge des Krieges – so geeint wie lange nicht mehr auftritt. In relevanten Teilen der Welt wird der Ukraine-Krieg weniger als potentiell globale Krise wahrgenommen, sondern vielmehr als ein Konflikt zwischen „Russland und dem Westen“. Unglücklicherweise wird der Krieg auch in der Kommunikation manch westlicher Entscheidungsträger ebenfalls in diesem Sinne eingeordnet, um dann Solidarität mit dem Westen einzufordern.

Hinter dem Framing „Der Westen gegen Russland“ verbirgt sich dagegen in vielen Regionen der Erde die Wahrnehmung: Ganz unschuldig kann der Westen an dem Desaster nicht sein. Man traut uns also nicht recht über den Weg – im Gegenteil: Man misstraut uns. Wir aber reagieren darauf ratlos: Wie kann es ein solches Bild nach 70 Jahren Entwicklungszusammenarbeit geben? Ist Europa nicht eine Vorzeigeregion einer gezähmten, sozialen, ökologischen Marktwirtschaft? Ist Europa nicht das erfolgreichste Friedensprojekt weltweit? Und nach dem Scheitern von Trump und im Schulterschluss Europas mit der Biden-Regierung: Ist der „Westen“ nicht wieder ein Leuchtturm für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit? Wir müssen uns eingestehen: Im globalen Süden wird dies zum Teil ganz anders gesehen. Eurozentrismus statt Universalismus, Scheinheiligkeit und Doppelmoral sowie die Nichteinhaltung des Fairnessversprechens lauten die drei Kardinalvorwürfe.

Eurozentrismus statt Universalismus

Angesichts der russischen Aggression argumentieren „westliche“ Regierungen stets mit Verweis auf universalistische Prinzipien: Völkerrecht, Menschenrechte, Demokratie, Freiheit. Zurück kommt nicht selten der Vorwurf des Eurozentrismus.

Tatsächlich wird über die Auswirkungen nächster Embargo-Maßnahmen auf europäische Investitionen und Arbeitsmärkte in Europa intensiv gesprochen. Wer aber kümmert sich um die Auswirkungen der transatlantischen Sanktionen auf den Rest der Welt? „Wenn die Sanktionen so umgesetzt werden, wie es sich der Westen vorstellt, werden in Asien, Afrika und Lateinamerika mehr Menschen an Hunger sterben als im Krieg in der Ukraine“, lautet der Vorwurf des ehemaligen chilenischen Ministers Jorge Heine.[1] Immerhin ist es ein gutes Zeichen, dass sich die Landwirtschafts- und Entwicklungsminister*innen der G 7 jüngst mit den Ernährungssicherungsfragen beschäftigt haben und der Kanzler afrikanische Regierungschefs traf. Doch der eurozentrische Fokus zeigt sich auch auf anderen Feldern. So ist beispielsweise der European Green Deal (EGD) zweifellos ein anspruchsvolles Programm, doch hat die EU zunächst „vergessen“, dessen Auswirkungen mit dem Nachbarkontinent Afrika zu besprechen, um einen European-African Green Deal zu entwickeln. Der EGD impliziert in kurzer Frist: weniger Ressourcenimporte aus Afrika (zirkuläre Ökonomie), weniger fossile Energien aus afrikanischen Ländern (Klimaschutz). Was langfristig allen nützt, schafft dagegen kurzfristig signifikante Anpassungsprobleme in der Nachbarregion. Der Eurozentrismus der Europäer, so der Vorwurf, verstellt den Blick darauf, welche Auswirkungen die europäische Politik auf die Lebensgrundlagen der Afrikaner*innen hat.

Scheinheiligkeit und Doppelmoral

Insbesondere wir Europäer halten uns für die größten Universalisten auf dem Planeten, während uns Beobachter aus dem globalen Süden Scheinheiligkeit und Doppelmoral attestieren, oft hinter vorgehaltener Hand.

Das Beispiel des Ukraine-Kriegs macht das besonders deutlich. „Das ist Euer Krieg, nicht unserer“, lautet der Vorwurf. „Habt ihr euch für den aktuellen Krieg im Jemen interessiert, in dem 250 000 Menschen gestorben sind, durch saudi-arabische Waffen, geliefert auch aus Nato-Staaten?“ Dass Putin als Kriegsverbrecher vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden muss, wird durchaus unterstützt. Doch was ist mit dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg – wo waren jene lauten Stimmen aus dem Westen, die forderten, US-Präsident George W. Präsident Bush anzuklagen? Gleiches gilt für die Flüchtlingskrise: Die habt ihr in Europa, so lautet die Kritik, auch erst 2015 wahrgenommen, als Geflüchtete in euren Städten auftauchten. In der Tat gibt es bis heute keine abgestimmte humane Flüchtlingspolitik in der EU. Und die über 90 Prozent der Flüchtlinge, die in armen Ländern beherbergt werden müssen, wurden lange und werden noch immer ausgeblendet.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern und dann lange kontrovers diskutieren. Fest steht: Im globalen Süden wird perzipiert, dass sich der Westen, inklusive Europa, vor allem für die Krisen und Weltprobleme interessiert, die ihn unmittelbar selbst betreffen (unsere Kriege, eure Kriege), für Lösungen, die die Kosten möglichst externalisieren (Flüchtlinge von Europa fernhalten), und moralische Standfestigkeit dann zum Ausdruck bringt, wenn das machtpolitisch opportun erscheint. Man kann dagegen zu Recht einwenden, dass in der Entwicklungs- und Klimazusammenarbeit viele kluge Initiativen entwickelt wurden und werden, die dem Grundmuster der „Scheinheiligkeit und Doppelmoral“ entgegenstehen. Doch wenn in den Wahrnehmungen von AkteurInnen des globalen Südens das Grundmuster „Scheinheiligkeit und Doppelstandards“ dominiert, sobald es „ernst wird“ und auch die Interessen des Westens unmittelbar betroffen sind, können wir auf verbesserte Kooperation kaum hoffen. Aus dieser Sicht werden dann Entwicklungs- und Klimakooperationen als Randfelder der internationalen Politik interpretiert: Gut gemeinte, zuweilen gar gut gemachte Entwicklungs- und humanitäre Hilfe, gibt es zwar durchaus. Was aber den gemeinsamen Interessenausgleich auf Augenhöhe anbelangt, gelten aber im Zweifel die Standards und Interessen der starken Staaten.

Keine globale Fairness des Westens

Der Westen erwartet in der Ukraine-Frage Unterstützung von allen Seiten, doch bei zentralen Anliegen der ärmeren Länder, so ist oft zu hören, liefert er selbst nicht – und lässt damit die erforderliche globale Fairness vermissen. Dabei sind reziproke Kooperationsbeziehungen grundlegend für belastbare Zusammenarbeit. Diese Reziprozität nimmt man uns oft nicht ab.

Auch hier nur einige Beispiele: Während der Pandemie wurde die Bedeutung des globalen Gesundheitsschutzes vielfach betont – in den Sonntagsreden. Masken und Impfstoffe wurden zunächst im Westen verteilt – rich countries first. Die Hochemissionsländer des Westens haben in den vergangenen Dekaden den Klimaschutz vernachlässigt und verschleppt, dessen Folgen vor allem im Süden wirken. Umso irritierender, dass die 100 Mrd. Dollar für die Anpassungen an den Klimawandel in den Entwicklungsländern seit Jahren auf sich warten lassen. So entsteht der Eindruck: Die Entwicklungsländer kommen in vielen internationalen Organisationen aus ihrem Zweite-Klasse-Status nicht heraus.

Auch diese Liste könnte leicht sehr lang werden. Und Argumente dieser Art werden zudem häufig aus historischer Perspektive interpretiert. Die skizzierten Schieflagen werden dann als Verlängerung kolonialer Vergangenheiten gedeutet. Entwicklungsminister*innen kennen diese Klagen (und teilen deren Kern wohl oft). Abhilfe könnte nur geschaffen werden, wenn die Regierungen des Westens und Europas – als Bestandteil der „Zeitenwende“ – ihre Außenbeziehungen insgesamt über die Entwicklungspolitik hinaus entsprechend neu ausrichteten. Dabei haben wir kein Defizit an Konzepten und Vereinbarungen – die globalen Entwicklungsziele (SDGs) und das Pariser Klimaabkommen wurden schon erwähnt. Es mangelt daran, die Essenz der Vereinbarungen wie globale Gerechtigkeitskriterien und Reziprozität in allen Bereichen der Außenbeziehungen zum Maßstab zu erheben. Stattdessen steht zu befürchten: Angesichts der Krise europäischer Sicherheit könnten gerade die Entwicklungsetats unter Spardruck geraten.

Bei alledem zeigt sich: Die Berichterstattung in unseren Medien über die diversifizierten Stimmen der nicht-westlichen Welt zur Russland-Aggression ist dünn. Wir sind nicht gut darin, die Welt auch durch „die Augen der anderen“ zu betrachten. Man muss nicht alle Argumente, die für das Misstrauen gegenüber Europa und dem Westen angeführt werden, teilen. Wir sollten aber sehr ernst nehmen, dass sie in vielen Ländern der Erde auf überaus fruchtbaren Boden fallen – und zwar nicht nur in den autoritären Gesellschaften. Vielleicht gibt uns die aktuelle große Erschütterung der Weltordnung die Chance, den Scheinwerfer auf Faktoren des Nichtgelingens globaler Kooperation zu richten, die im Routinemodus internationaler Zusammenarbeit oft mit Geld zugedeckt und damit unsichtbar gemacht werden. Daraus könnten sich Möglichkeiten ergeben, im Zeitalter globaler Vernetzung globale Kooperation wirksamer zu organisieren. Wenn wir wirklich daran interessiert sind, unsere weltweite Kooperationsbereitschaft nachvollziehbar und einigermaßen konsistent zu begründen sowie die Kooperationsbereitschaft anderer uns gegenüber zu stärken, müssen wir uns ehrlich machen, was unsere bisherige Politik anbelangt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Vorbehalte gegenüber Europa bzw. dem Westen, die eine Belastung für internationale Kooperationsperspektiven bedeuten und damit auch eine wirkungsvolle Klimaaußenpolitik erschweren, schlägt Finnlands Ex-Ministerpräsident Alexander Stubb vor: „Anstatt den Rest der Welt aufzufordern, sich für eine Seite zu entscheiden, ist es vielleicht an der Zeit, sich zusammenzusetzen und darüber nachzudenken, wie eine neue Weltordnung, die auf gemeinsamen Regeln beruht, aussehen könnte? Schwierig? Ja. Unmöglich? Nein. Wahrscheinlich? Ich glaube nicht.“[2]

Was tun?

Wie könnte es also besser weitergehen? Dazu abschließend fünf Handlungsfelder oder auch orientierende Leitplanken, um produktive Zukunftspfade anzudeuten.

Schaut man auf die drei wesentlichen Vorbehalte gegenüber dem Westen, sollten wir erstens dringend dem Rat von Alexander Stubb folgen. Wir sollten die Vorbehalte der anderen gegenüber Europa und dem Westen nicht überhören, sondern diese ernst nehmen – also zuhören, nachfragen und uns ehrlich machen. Auch wir müssen uns ändern. Wir, Europa oder der Westen, sind noch nicht globalisierungs- und Global-Governance-tauglich. Wir müssen lernen, unseren eurozentrischen Blick auf die Welt nicht automatisch mit globalen Gemeinwohlinteressen zu verwechseln. Wir müssen unsere zentralen Werte (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, lokale und globale Gerechtigkeit) auch dann anwenden und „durchstehen“, wenn deren Umsetzung uns Europäer*innen substantiell etwas abverlangt, wie etwa in den Debatten um globale Flüchtlingsbewegungen, den Kontroversen über Klimapässe für Klimaflüchtlinge oder in den Auseinandersetzungen um „Loss and Damage“ in der Klimapolitik. Das wäre ein neuer Zungenschlag globaler Zusammenarbeit: Wir müssen, mitten in der Krise der Weltordnung, mehr globale Kooperation wagen. Diese umfassende globale Kooperations-, Gerechtigkeits- und Gemeinwohlagenda als „neuen Realismus“ internationaler Politik zu etablieren, müsste unsere Außenbeziehungen modifizieren, veränderte Investitionen in diesen nach sich ziehen und eine neue Kooperationsära einleiten.

Wir müssten zweitens erkennen, dass ambitionierte Weltzusammenarbeit zur Stabilisierung des Klimas und des Erdsystems, verbunden mit Investitionen in weltweite menschliche Entwicklung, unverzichtbare Bestandteile von Stabilitäts- und Sicherheitspolitik sind, nämlich Resilienzinvestitionen – und kein „solidarischer Luxus“. Schauen wir in die Glaskugel, zeigen sich zwei mögliche Wege: Der European Green Deal wird entweder in der Russland-Krise sukzessive an Bedeutung verlieren – oder er wird durch eine europäische Sonderanstrengung (vielleicht ein „europäisches Sondervermögen“) für Regional Green Deals der EU mit Afrika, Asien, Lateinamerika zu einem Multiplikator von Nachhaltigkeitstransformationen in der Weltwirtschaft.

Mehr globale Kooperation wagen und Verteidigungsfähigkeit ausbauen – das waren bisher zwei voneinander getrennte Diskurse. Die „Zeitenwende“ führt diese beiden Stränge zusammen. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine betonen wir nämlich drittens und aus guten Gründen, dass Aggressoren innerhalb des internationalen Systems in breiten Allianzen entgegengetreten werden muss. Putin hat uns gelehrt, dass Freiheit, Demokratie und internationale Sicherheit gegen Rechts- und Demokratieverächter verteidigt werden müssen.

»Der Westen gegen Russland« – ein untaugliches Narrativ

Das Narrativ „Der Westen gegen Russland“ taugt dafür allerdings nicht. Wir müssen vielmehr viertens mit möglichst vielen Akteuren zusammenarbeiten, die bereit sind, sich an vereinbarte Regeln zu halten, wo wir ansonsten nur scheitern könnten, insbesondere beim Klima- und Ökosystemschutz. Die G 20 bleibt daher immens wichtig. Die Zusammenarbeit mit Regionalverbünden wie AU, Mercosur oder ASEAN sollte verstärkt werden. Die Renaissance der Sicherheitspolitik darf also keinesfalls in einem Abgesang auf verstärkte Global Governance münden, sondern sollte das Zusammenspiel in den diversen internationalen Allianzen dringend verbessern und fortentwickeln.

Fünftens sollten wir die weltweite Zusammenarbeit mit Demokratien über den G 7-Kontext hinaus massiv stärken. Wir benötigen ein wachsendes, gemeinsames Wertefundament, damit globale Kooperationsstrukturen resilient werden. Auch hier gibt es „Elefanten im Raum“. Autoritäre, nicht-demokratische Regierungen und Bewegungen befinden sich in vielen Regionen der Welt auf dem Vormarsch, durchaus auch im Westen. Wie wir angesichts dieser Realität die Notwendigkeit globaler Kooperation mit wertebasierter Zusammenarbeit verbinden, ist nicht nur im Falle Chinas eine nicht leicht zu lösende Herausforderung, der wir uns aber unbedingt stellen müssen.

Springen wir bei diesen Neuorientierungen zu kurz, werden die 2020er Jahre nicht die Dekade der Implementierung für die entscheidenden Klimaschutz- und Nachhaltigkeitstransformationen, sondern sie könnten zum Ausgangspunkt für eine Phase der Erosion internationaler Kooperation werden, charakterisiert durch irreversible politische, ökologische und soziale Kipppunkte mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft der Zivilisation. Denkbar wären sich ausbreitende Klimakrisen und ein irreversibler Erdsystemwandel, nukleare Eskalationsbedrohungen, eine Weltordnung der Mächtigen und Gewaltbereiten, die Demokratie und Freiheit bedroht, eine Paralyse des internationalen Systems im Zeitalter globaler Verflechtungen.

Globale Umbrüche als Chance

Große Umbrüche und Erschütterungen waren in der Vergangenheit jedoch auch immer wieder Ausgangspunkte von positiven Entwicklungsschüben. Kaum zu glauben, aber die Vereinten Nationen und das europäische Integrationsprojekt wurden in der Endphase des Grauens des Zweiten Weltkrieges vorgedacht und vorbereitet. Jetzt muss es gelingen, wirkungsmächtige Diskurse und Veränderungsallianzen für nachhaltige Orientierungen, Ordnungen und Lösungspfade zu schaffen, die die Beendigung der russischen Aggression und des Krieges mit Zukunftsperspektiven für eine so eng wie noch nie vernetzte Weltgemeinschaft verbinden, der die eigentliche Menschheitsaufgabe des 21. Jahrhunderts noch bevorsteht – nämlich die weitere Destabilisierung des Planten zu verhindern.

Wie aber mobilisieren wir die großen Regionalorganisationen für einen solchen Aufbruch aus der Weltordnungskrise? Welche globalen Ansätze und Konferenzen bräuchten wir dafür? Und wie demonstriert die EU die erforderliche Veränderungs- und Gestaltungsbereitschaft, um den European Green Deal zu einem Ausgangspunkt globaler Nachhaltigkeitstransformationen zu machen? So lauten heute die drängenden Fragen. Viele Bausteine eines solchen Auf- und Umbruchs in einer fatalen Krisensituation müssen noch entwickelt werden. Und man ahnt bei alledem schon eines: Gewiss ist die Modernisierung der Bundeswehr ein wichtiges Unterfangen, das keinen Aufschub duldet – aber zweifellos ist dies nur der weit leichtere Teil der uns bevorstehenden „Zeitenwende“.

[1] „Wenn wir über Werte und Demokratie sprechen, sehen viele nicht-westliche Staaten vor allem dessen Scheinheiligkeit“, Jorge Heine in: „Süddeutsche Zeitung“, 7.5.2022.

[2] Vgl. www.twitter.com/alexstubb, 1.5.2022.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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