
Bild: Der anti-Brexit Aktivist Steven Bray bei einer Demonstration auf dem Parliament Square in London, 24.5.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Vuk Valcic)
In diesem Sommer ist es sieben Jahre her, seit die Briten für den Brexit gestimmt haben. Die Zeit davor erscheint im Rückblick wie eine Ära, in der man drohende Katastrophen noch für nichts anderes hielt als ferne Zukunftsszenarien, in deren Schatten man es sich mit wohligem Schaudern gemütlich machte. Damals gab es sie noch, die berühmte „Keep calm and carry on“-Attitüde, diesen besonderen britische Stoizismus, gepaart mit einer oft leichtsinnigen Abenteuerlust. Eine Mentalität, die dazu führte, dass 52 Prozent der Inselbewohner sich auf das Brexit-Wagnis einließen in der Hoffnung, es werde am Ende schon nicht so schlimm kommen.
Sieben Jahre später ist der berühmte ewige Gleichmut der Briten einer tiefgreifenden Depression über den Zustand ihres Landes gewichen. Eine deutliche Mehrheit der Briten hält den Austritt mittlerweile für einen Fehler.[1] Als die BBC kürzlich zu einer großen Diskussionsrunde zum Brexit-Jahrestag einlud, konnte trotz hartnäckigen Werbens seitens der Redaktion kein einziges Regierungsmitglied dafür gewonnen werden. Selbst die radikalsten Brexiteers müssen zugeben, dass ihre Versprechen noch nicht einmal ansatzweise eingetreten sind, auch wenn sie die Schuld dafür natürlich anderen zuschieben.[2] Stattdessen ist Großbritannien das einzige der G7-Länder, das sich von den Folgen der Pandemie nicht hat erholen können. Auch wenn der Brexit hierfür nicht die alleinige Ursache ist, er hat jedes einzelne der bereits bestehenden strukturellen Probleme so stark vergrößert, als habe man ein Brennglas darüber gehalten. Das regierungseigene Steuerschätzungsinstitut geht davon aus, dass der EU-Austritt als solcher die Insel in den nächsten Jahren rund vier Prozent ihrer Wirtschaftsleistung kosten dürfte, Tendenz steigend. Andere Ökonomen kommen auf weit dramatischere Zahlen.
All das ist kaum überraschend, sondern war von den allermeisten Wirtschaftsexperten seit Jahren vorhergesagt worden. Die eigentliche Überraschung ist die Tatsache, dass die mittlerweile offen zutage liegenden Schäden, die der Brexit dem Land zufügt, auch sieben Jahre später von keiner der großen Parteien offen diskutiert werden. Womit ein echter politischer Richtungswechsel, der wegführen würde von der Johnsonschen Post-Truth-Politik, auch sieben Jahre danach in weiter Ferne zu liegen scheint.
Stattdessen geht die Fahrt mit dem Geisterschiff munter weiter. Der einstmalige Kapitän Boris Johnson scheint nun zwar endgültig von der Brücke getreten zu sein, seit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ihn nach monatelangen Beratungen offiziell zum Lügner erklärte, was ihm ein politisches Comeback für absehbare Zeit unmöglich machen dürfte.[3] Die große Chance aber, mit diesem Bericht eine echte Zäsur zum Populismus der Johnson-Zeit zu setzen, hat sein Nachfolger Rishi Sunak gründlich verspielt. Als im Unterhaus die entscheidende Abstimmung über den Ausschussbericht anstand, war von Sunak nichts zu sehen. Für ein klares Statement wider den Verfall der politischen Sitten unter Johnson fehlte ihm ganz offensichtlich die Kraft.
Schlimmer noch: So sehr Sunak auf den ersten Blick im Vergleich zu seinen Vorgängern als pragmatischer Technokrat und rationaler Politiker alten Stils daherkommen mag, er führt die antidemokratischen und autoritären Tendenzen, die die Tory-Partei seit dem Brexit zunehmend verfolgt, auf fast allen Ebenen fort. Am deutlichsten wird das bei seinem Versuch, gleich zwei fundamentale Menschenrechte so gut wie ganz abzuschaffen, das Asyl- und das Demonstrationsrecht.
Migranten nach Ruanda
Mit der von Johnson übernommenen „Ruanda-Policy“ sollen sogenannte illegale Migranten, die derzeit vermehrt in kleinen Booten an der britischen Küste landen, ohne jede richterliche Überprüfung erst festgenommen und anschließend nach Ruanda ausgeflogen werden. In ein Land, mit dem Großbritannien ein entsprechendes Abkommen hat. De facto wird ihnen damit das Recht genommen, Asyl auf britischem Boden überhaupt erst zu beantragen. Dieser Ansatz ist weder mit der Genfer Flüchtlingskonvention noch mit den Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Nachdem das nationale Berufungsgericht den Gesetzentwurf jetzt als illegal ablehnte, attackierte Sunak die Richter indirekt und ließ seine Innenministerin Braverman die Klagen der Menschenrechtsorganisationen als „phoney humanitarianism“ beschimpfen, ganz in der Tradition Johnsons, der ihm nicht genehme Anwälte und Richter immer wieder als „linke Aktivisten” denunziert hatte.
Die Brexit-Versprechen basierten auf Lügen und konnten, nachdem der Austritt real stattgefunden hatte, naturgemäß nicht umgesetzt werden. Was in den Jahren danach folgte, war dementsprechend eine zunehmend performative Politik. Johnson blieb im Modus der permanenten Kampagne, schwungvolle Schlagzeilen und politisches Schattenboxen ersetzten die eigentliche Regierungsarbeit. Stattdessen wurden – wie beim Brexit selbst – Probleme geschaffen, die keine waren, die aber den Blick auf die realen Folgen des EU-Austritts verstellen sollten.
Sunaks Ruanda-Policy folgt exakt diesem Schema. Die rund 40 000 Menschen, die derzeit jährlich in kleinen Booten auf der Insel landen, sollten für ein Land mit mehr als 67 Millionen Einwohnern eigentlich leicht zu bewältigen sein, zumal die Insel seit dem EU-Austritt unter massivem Arbeitskräftemangel leidet und viele dieser Menschen sinnvoll integrieren könnte. Die Tories nutzen das Thema stattdessen mittels einer sich ständig verschärfenden xenophoben Rhetorik, um von ihren gescheiterten Brexit-Versprechen abzulenken. Hauptsache, die polarisierende Debatte darüber hält an, und wenn man dafür die Justiz als Gegner des Volkes angreifen muss, ist das ein Preis, den Sunak ganz offenbar – genau wie Johnson – gern zu zahlen bereit ist.[4]
Und auch ganz konkret bewegt sich der Preis für Sunaks Polittheater bereits jetzt in schwindelerregenden Höhen. Als die Regierung kürzlich einen Report zur „Ruanda-Policy“ vorlegen musste, ergab der, dass jeder einzelne Flüchtling, der so abgeschoben würde, den Steuerzahler umgerechnet 200 000 (!) Euro kosten würde. Der mehrheitlich konservativen britischen Presse war das kaum eine Schlagzeile wert, ebenso wenig wie die rund anderthalb Millionen Euro Steuergelder, die Sunak bereits jetzt für die juristischen Auseinandersetzungen mit den britischen Gerichten zahlen musste.
Mutlose Labour-Partei
Besonders gravierend ist dabei, dass die Opposition, also die Labour-Partei unter Keir Starmer, ein gutes Jahr vor den nächsten Wahlen trotz guter Umfragewerte offensichtlich nicht den Mut hat, dieser Dynamik ernsthaft entgegenzutreten.[5] Starmer kritisiert zwar die Tatsache, dass die Ruanda-Politik nicht praktikabel und zu teuer sei, scheut aber immer wieder davor zurück, eine klare moralische Gegenposition zu der xenophoben Haltung der Sunak-Regierung zu formulieren. Das macht sie nicht nur hoffähig, sondern führt auch dazu, dass das von den Tories zur Krise aufgebauschte Scheinproblem in der allgemeinen Wahrnehmung zu einem realen wird.
Kurz vor dem Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs im Herbst[6] mag das große Schweigen bei diesem Thema für Labour ein taktisch richtiges Manöver sein, so macht man sich an dieser Front erst einmal unangreifbar, das Land aber bezahlt einen hohen Preis dafür. Denn letztlich verstrickt sich damit auch die Labour-Partei in die Rhetorik des illiberalen Rechtspopulismus und wird damit zum Komplizen der Tories.
Deutlich zeigt sich das auch beim Umgang mit dem von der Regierung verabschiedeten sogenannten public order act. Mit diesem Gesetz ist die Polizei angewiesen, Demonstranten bereits dann zu verhaften, wenn auch nur der Verdacht besteht, sie könnten die öffentliche Ordnung stören. Praktisch ist damit das freie Demonstrationsrecht in England ausgehebelt. Die Premiere dazu fand ausgerechnet bei der Krönung Charles III. statt, als Monarchiekritiker von der Polizei festgenommen wurden, bevor sie überhaupt nur ihre Schilder ausgepackt hatten.
Demontiertes Demonstrationsrecht
Man sollte meinen, dass eine Partei, die sich im weitesten Sinne als linksliberal bezeichnet, das Recht auf öffentliches Demonstrieren eigentlich entschieden verteidigen müsste. Nicht so die Labour-Partei. Führende Mitglieder erklärten, man werde dieses Gesetz selbst dann nicht zurücknehmen, wenn man die nächste Wahl gewinnen sollte. Und als die grüne Baroness Jenny Jones im Oberhaus einen Antrag gegen eine nochmalige Verschärfung des „public order acts“ stellte, waren die Labour-Peers angewiesen, sich zu enthalten, woraufhin der Antrag scheiterte.[7]
Die Angst der Labour-Partei, in einem durch populistische Rhetorik radikalisierten Umfeld klar für demokratische Grundprinzipien einzutreten, wird erst wirklich nachvollziehbar, wenn man sich das britische Wahlsystem ansieht. Durch das weiterhin geltende Mehrheitswahlrecht ist Starmer auf einige wenige Wahlkreise angewiesen, die es zurückzuholen gilt, wenn er die nächste Wahl gewinnen will. Dabei geht es vor allem um Wähler in der sogenannten red wall, die 2019 an Johnson und seine Brexit-Rhetorik verloren gingen, die mehrheitlich weiter dem rechten antieuropäischen Lager anhängen und die Labour für einen Wahlsieg dringend braucht.
Aus dem gleichen Grund ist Starmer, wenn es um den Brexit selbst geht, mehr als defensiv. Einen Wiedereintritt in den Binnenmarkt schloss er kürzlich ohne Not prinzipiell aus. Seitdem verstrickt er sich zunehmend in Widersprüche. Schon sein zentrales Mantra, „We will make Brexit work“, ist irreführend, weil es unterstellt, dass die Idee des EU-Austritts eigentlich etwas Positives gewesen sei, was nur richtig umgesetzt werden müsse. Damit stützt Labour letztlich auch hier genau das, was die Brexiteers am rechten Rand der Tory-Partei weiter behaupten, und verwischt damit die bittere Realität, dass der Austritt als solcher ein selbstzerstörerisches Unternehmen war. Gelegentlich führt diese Taktik auch dazu, dass Starmer ganz direkt falsche Aussagen macht. Als er zum Beispiel vor einiger Zeit in einem Radiointerview gefragt wurde, ob es der britischen Wirtschaft denn nicht besser ginge, wenn man wieder dem Binnenmarkt beiträte, war seine Antwort ein klares Nein. Eine echte Lüge, denn Starmer weiß natürlich, dass das nicht stimmt.[8]
Schäden an der Demokratie
Das eigentliche Problem dieser Strategie aber liegt tiefer. Selbst wenn Starmer auf diese Weise die nächste Wahl gewinnen sollte, aus dem Sumpf der britischen Permakrise wird er das Land so kaum befreien können. Ein Labour-Chef, der sich selbst in populistischen Halbwahrheiten und Lügen verstrickt, kann den für das Land so nötigen politischen Neuanfang nicht anstoßen. Starmers gegenwärtiger Kurs birgt damit die große Gefahr in sich, dass die Parameter auf der politischen Bühne Großbritanniens stattdessen dauerhaft verschoben bleiben. Ohne eine Rückkehr zum liberaldemokratischen Status quo ante aber dürfte auch für Starmer selbst das Regieren im Falle eines Wahlsiegs unendlich viel mühsamer werden.
Das hat vor allem damit zu tun, dass die Tories sich nach einer Wahlniederlage noch weiter an den ganz rechten Rand des politischen Spektrums bewegen dürften.[9] Einer Partei, die daran gescheitert ist, die Versprechen ihres ideologischen Brexit-Traums in die Realität zu übersetzen, bleibt nur die radikale Flucht nach vorn. Die aktuellen Rufe aus der Tory-Partei nach einem zweiten Referendum über den Austritt aus der europäischen Menschenrechtskonvention, ein Schritt, den bislang nur Russland und Weißrussland gegangen sind, zeigen bereits jetzt, dass diese Partei durchaus bereit ist, sich den ideologischen Fanatikern in ihren Reihen zukünftig noch stärker auszuliefern, als das bislang der Fall war.[10] Hinzu kommt, dass die wirtschaftlich katastrophale Situation des Landes kurz- und mittelfristig nur mit einem Wiedereintritt in den Binnenmarkt verbessert werden kann. Dafür aber hätte Starmer durch seinen defensiven Brexit-Kurs im Falle eines Wahlsiegs auf absehbare Zeit gar kein Mandat.
Und so dürfte selbst im Falle eines Labour-Wahlsiegs das angeschlagene Geisterschiff Großbritannien noch lange weiter richtungslos vor sich hintreiben. Die Tatsache, dass selbst der Chef der Labour-Opposition nicht den Mut hat, auf die Brücke zu steigen, um laut und deutlich den so nötigen Kurswechsel vorzugeben, zeigt einmal mehr, wie dauerhaft geschwächt, ausgelaugt und zerrieben das Land durch die vielfältigen Folgen des Brexit auch nach sieben Jahren noch immer ist.
[1] Peter Raven, One in five who voted for Brexit now think it was the wrong decision, yougov.co.uk, 17.11.2022.
[2] Paul Speed, Brexit has failed says Nigel Farage, www.mirror.co.uk, 17.5.2023.
[3] Hannah White, The extraordinary significance of the Privileges Committee verdict on Boris Johnson, www.instituteforgovernment.org.uk, 9.6.2023.
[4] Der einflussreiche Tory Tim Montgomery erklärte gar, die Gerichte unterminierten systematisch den Willen der Bürger und ihrer Regierung, eine Haltung, die kaum ein demokratisches Verständnis von Gewaltenteilung verrät. https://twitter.com/montie/status/1674476131481796609.
[5] Michael Savage, Labour has clear lead over Tories in more than 100 battleground seats, poll finds, in: „The Guardian“, 10.6.2023.
[6] Die nächste Wahl muss verfassungsgemäß spätestens im Januar 2025 stattfinden, die meisten Beobachter in GB gehen aber davon aus, dass sie im Frühjahr oder Herbst 2024 kommen wird.
[7] Josiah Mortimer, Anger as Labour Refuses to Back Bid to Stop Government Quietly Changing Definition of Disruptive Protest, www.bylinetimes.com, 8.6.2023.
[8] Amy Gibbons, Starmer claims rejoining single
market would not boost economic growth, www.standard.co.uk, 5.12.2022.
[9] Siehe z.B. David Gauke, The National Conservatives are a glimpse of the Tories’ grim future, www.newstatesman.com, 18.5.2023.
[10] Arj Singh und Katy Balls, Tories call for new UK referendum on migrants after Rwanda plan thwarted by Appeal Court, www.inews.co.uk, 30.6.2023.