Ausgabe Dezember 2023

Hauptsache gegen Migration

Symbolbild: Abschiebeflug am Flughafen Frankfurt, 4.9.2023 (IMAGO / Daniel Kubirski)

Bild: Symbolbild: Abschiebeflug am Flughafen Frankfurt, 4.9.2023 (IMAGO / Daniel Kubirski)

Unübersichtlich, hektisch, fast fiebrig ging es zu: Die „Begrenzung der irregulären Migration“ steht zwar seit den Nullerjahren bei praktisch jeder Innenministerkonferenz auf dem Plan, doch so viel Betriebsamkeit wie in diesem Herbst war noch nie. Vor den EU-Wahlen 2024 sind die Rechtsextremen in vielen Ländern, darunter Deutschland, stark wie lange nicht. Gleichzeitig sind die Ankunftszahlen Asylsuchender anhaltend hoch. Und obwohl die Empirie dies nicht stützt, glauben viele: Nur Abschottung könne die weitere Rechtsdrift verhindern. „Flatten the curve“ bei den Asylzahlen lautet die Devise.

In Brüssel laufen dieser Tage die Verhandlungen für das seit 2012 beratene, neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Das Reformpaket soll noch vor Ende der Legislaturperiode im Februar verabschiedet werden, um die Flüchtlingszahlen zu drücken. Dass Ankommende künftig erst einmal öfter und länger interniert werden, soll abschreckende Wirkung entfalten, schnellere Abschiebungen ein Übriges tun. Doch allein auf die EU mögen sich hierzulande viele bei der Migrationsabwehr nicht verlassen. Und so brach in Deutschland ein regelrechter Wettbewerb unter den Parteien aus, wie Flüchtlinge und Migrant:innen am besten fernzuhalten sein mögen. Die jüngsten Highlights, allein aus den Wochen seit dem 10. Oktober:

Die FDP will per „financial blocking“[1] verhindern, dass Flüchtlinge mit Teilen ihrer Sozialbezüge per Überweisung die Familie im Herkunftsland unterstützen. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn fordert, irreguläre Migration sei gegebenenfalls mit „physischer Gewalt“ aufzuhalten.

Verbale Eskalation gegen Flüchtlinge

Nun geschieht dies längst – unzählige Berichte von den EU-Außengrenzen zeugen davon. Bisher aber findet die Gewalt, etwa Pushbacks, meist im Wissen statt, dass sie eigentlich unzulässig ist. Eine Formulierung wie die Spahns, von einem Politiker in seiner Position, hat fraglos weiter enthemmende Wirkung auf staatliche Knüppeltrupps am Evros, an den Zäunen von Melilla, im Osten Polens oder im Süden Kroatiens.

Bundeskanzler Olaf Scholz ließ sich auf dem Cover des „Spiegel“ mit dem Satz zitieren: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Zu Recht wiesen viele darauf hin, dass ähnliche Äußerungen in den 1990er Jahren die damalige Pogromstimmung mit angefacht hatten. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel befand CDU-Chef Friedrich Merz, dass Deutschland keine Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen könne. „Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“[2]

Mit solchen Worten wird der islamistische Terror des 7. Oktober benutzt, um Antisemitismus als Migrationsproblem zu zeichnen – und so die ohnehin verfolgte härtere Gangart gegen die Einwanderung als angeblichen Beitrag zum Schutz jüdischen Lebens zu adeln.

Der schleswig-holsteinische FDP-Abgeordnete Maximilian Mordhorst hat ein besonders antiliberales Programm parat: Er forderte ein „politisches Betätigungsverbot für Nicht-EU-Ausländer“ – also „kein Wahlrecht (auch nicht in Kommunen), keine Mitbestimmung in Parteien oder anderen Gremien, keine Versammlungsfreiheit“.[3] Autoritärer geht es kaum.

Außer vielleicht mit dem Vorschlag für einen „Passentzug bei Antisemitismus“, den verschiedene SPD- und Unionspolitiker:innen aufbrachten. Unter ihnen war auch der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder, was manche zu der naheliegenden Frage bewog, wohin er seinen Stellvertreter, den einstigen „Schornstein“-Flugblattverteiler Hubert Aiwanger abzuschieben gedenke.

Grundrechte spielen keine Rolle

Doch solche Einwände stören nicht. Es geht nicht um moralische Konsistenz, um Respekt vor Grundrechten, nicht einmal um praktische Plausibilität oder Durchführbarkeit. Es geht darum, zu signalisieren, irgendetwas gegen die Migration zu tun. In diese vermeintliche Notwendigkeit haben sich – mit Ausnahme der Linken – praktisch alle Parteien dadurch gebracht, dass sie einander permanent darin bestätigten, die irreguläre Migration sei das größte Problem im Lande.

In so einer Großwetterlage kann es dann Politikern wie dem FDP-Vize Wolfgang Kubicki auch sinnvoll erscheinen, völlig undurchführbare Vorschläge wie den für eine Obergrenze für den Migrantenanteil pro Stadtteil von 25 Prozent zu machen.[4] Wie das möglich sein soll – Zwangsumsiedlung? Vermietverbot? Wohnungsenteignung? –, sagte er natürlich nicht. Doch darauf kommt es nicht an. Es ist das populistische Signal, das für Kubicki und andere derzeit zählt: Wir machen auch was gegen die Ausländer, dafür braucht es keine AfD.

Das gilt auch für die meisten der zahlreichen Maßnahmen, auf die sich die Ampel mit den Ministerpräsidenten der Länder geeinigt hat: Verlängerung der Binnengrenzkontrollen, eine Ausweitung des eingeschränkten Bezugs von Sozialleistungen und der Gesundheitsversorgung von 18 auf 36 Monate, statt Geld eine „Bezahlkarte“ für Asylsuchende.

Künftig soll es möglich sein, eine Person abzuschieben, die im Verdacht steht, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein. Bisher war eine Verurteilung nötig. Abgelehnte Asylsuchende sollen schneller in Abschiebehaft genommen werden können. Der Ausreisegewahrsam soll auf 28 Tage verlängert werden können. Die einwöchige Ankündigung der Abschiebung, die in bestimmten Fällen vorgesehen ist, soll entfallen. Asylverfahren in Drittstaaten sollen geprüft werden.

Außerdem kassiert die Regierung ihr Vorhaben zum Familiennachzug. Die Ampel hatte sogenannten subsidiär schutzberechtigten Bürgerkriegsflüchtlingen im Koalitionsvertrag versprochen, den Nachzug direkter Angehöriger zu erleichtern. Das will sie nun nicht umsetzen – eine für viele Familien kaum erträgliche Härte.

Eine fatale Dynamik ist im Gang: Außer der Linken will keine Partei bei der Abschottungsdiskussion außen vor bleiben. Alle sehen sich gezwungen, dauernd noch eins draufzulegen. Selbst die Grünen, die nach der bleiernen Seehofer-Ära mit der Ampel in der Migrationspolitik so vieles ganz anders machen wollten, riefen nach mehr und schnelleren Abschiebungen, für die der Migrationsbeauftragte des Bundes, Joachim Stamp (FDP), nun bitte endlich schneller mit Staaten wie Tunesien verhandeln möge. Und sie tragen auch sonst praktisch alle Verschärfungen mit.

So verhallt es dann einfach, wenn in einer Umfrage[5] der Uni Heidelberg 60 Prozent der befragten Kommunen die Lage als „herausfordernd, aber (noch) machbar“ beschreiben. Oder Untersuchungen darauf hinweisen, dass es keinen Beleg dafür gibt, dass Sozialleistungen ein „Pullfaktor“ für Flüchtende seien.[6]

Kein Asyl in Afrika

Weil allen klar ist, dass die Zahlen absehbar hoch bleiben, und Union, FDP und AfD dies weiter ausschlachten werden, verweisen Grüne und SPD gebetsmühlenartig auf erhoffte Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten. Bei den Staatsbesuchen der jüngeren Vergangenheit war dies stets Thema, vor allem in Afrika. Doch dort kann Deutschland damit kaum punkten.

Mehr Abschiebungen sind kein attraktives Angebot an die afrikanischen Staaten, die man in einer äußerst schwierigen Lage weiterhin als Partner gewinnen will. Russland und China sind auf dem Kontinent präsenter denn je, machen teils sehr lukrative Angebote – ohne das Migrationsthema.

Unvergessen ist in Afrika die harte Haltung der Europäer zu den Covid-Impfstoffen. Die Toten im Mittelmeer, dass führende Politiker nun „physische Gewalt“ gegen Flüchtende fordern – all das wird registriert und befeuert die antiwestliche Stimmung. Der Gazakrieg kommt hinzu. Das Ansehen des Westens ist durch sein zögerliches Eintreten für den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung im Rest der Welt schwer beschädigt.

Statt zu hoffen, ihr Migrationsproblem von den Afrikanern lösen zu lassen, wäre es Aufgabe von SPD und Grünen, die Behauptung zurückzuweisen, dass die Migration das größte Problem sei. Sie müssten wieder Themen auf die Agenda setzen, die allen zugutekommen und nebenbei auch noch bessere Bedingungen für die Integration schaffen: Wohnen, Schulen, Rente, Pflege, Gesundheit, Arbeitsmarkt.

Stattdessen machen sie die obsessive Fixierung und Verengung der politischen Debatte auf die Migrationsfrage mit. Und damit schneiden sie die Handlungsmöglichkeiten dafür ab, die nötige Zuwanderung für den Arbeitsmarkt zu gestalten. Denn schon lange ist klar, dass der Wohlstand im Land erodieren wird, wenn nicht bald viele neue Arbeitskräfte kommen.

Westbalkan-Regelung als Vorbild

Eine Chance dazu wäre ein tatsächlicher sogenannter Spurwechsel – die Möglichkeit für Asylsuchende, leichter ein Arbeitsvisum zu bekommen. Helfen kann dabei, dass Deutschland nach 2015 eine einzigartige Infrastruktur aufgebaut hat, um Ankommende mit Nachqualifizierung auf dem Weg in die Arbeit zu unterstützen. Die FDP allerdings hat den Spurwechsel in den Koalitionsverhandlungen stark erschwert. Ein anderer Weg wäre etwa die umfassende Ausweitung der überaus erfolgreichen Westbalkan-Regelung auf afrikanische Staaten.

Sie erlaubt es Staatsangehörigen aus sechs Staaten des westlichen Balkans, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, ohne vorher ihre berufliche Qualifikation oder ihre Sprachkenntnisse prüfen zu lassen. Seit 2020 galt dabei eine Obergrenze von 25 000 Visa, die 2024 auf 50 000 erhöht wird. Zugleich wurden diese sechs Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt, um den Zuzug von Asylsuchenden aus der Region zu verringern. Seitdem kommen mehr Arbeitsmigrant:innen nach Deutschland, zugleich ist die Zahl der Asylanträge aus der Region deutlich zurückgegangen.

Das wäre ein Angebot, das auch in afrikanischen Staaten tatsächlich als partnerschaftlich aufgefasst würde. Doch in solche Richtungen wird kaum gedacht.

Die Krisenverordnung: Eine Krise für die Menschenrechte

Die EU-Innenminister winkten derweil Anfang Oktober die sogenannte Krisenverordnung durch – mit der Stimme Deutschlands. So konnten die Verhandlungen mit dem Parlament für das lange erwartete Gemeinsame Europäische Asylsystem in die finale Runde gehen. Die Verordnung sieht vor, dass in bestimmten Fällen die Rechte von Asylsuchenden leichter eingeschränkt werden können – bei „Massenankünften“, höherer Gewalt wie Krieg oder Naturkatastrophen.

Aber auch dann, wenn die Flüchtlinge als Waffe gegen Europa eingesetzt werden, sollen ihnen Rechte entzogen werden. Drei Fälle von „Instrumentalisierung“ hat es in der jüngeren Vergangenheit gegeben, auf die die EU zur Begründung der Verordnung verweist:

2020 stellte die Türkei die Bewachung der Grenze zu Griechenland ein und ermunterte einige Zehntausend Menschen, sie zu überqueren. Erdoğan wollte mehr Geld für die Verlängerung des EU-Flüchtlingsdeals. 2021 tat Marokko dasselbe mit der Grenze zu Melilla – und zwang so Spanien, Marokkos Anspruch auf die besetzte Westsahara anzuerkennen. Belarus, und wohl auch Russland, schickten im Herbst 2021 Zehntausende Menschen über die zuvor gemeinsam bewachte Grenze nach Polen – offenkundig, um ein Ende der EU-Sanktionen gegen Minsk wegen des Wahlbetrugs zu erzwingen.

Deutschland hatte sich lange gegen die Pläne gesperrt – vor allem wegen menschenrechtlicher Bedenken der Grünen. Dann aber gab Innenministerin Nancy Faeser ihr Plazet, sie sprach von einem „hervorragenden Kompromiss“. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Hasselmann freute sich darüber, dass die „klare deutsche Haltung“ endlich „Bewegung in die Gespräche“ gebracht habe.[7] Es war eine weitere Kehrtwende der Grünen in Sachen Asyl. Erst kurz zuvor hatte es in der Partei noch geheißen, die Verordnung sei „nicht zustimmungsfähig“.

Die EU bleibt erpressbar

Dass die EU sich nicht mit Flüchtlingen erpressen lassen will, ist naheliegend. Dass genau das aber überhaupt möglich ist, daran trägt sie selbst die Schuld. Seit Jahren ist für die ganze Welt zu sehen, wie panisch in Europa auf Ankommende reagiert wird und welche destabilisierenden Effekte ihr Unvermögen hat, die Realität der Migration konstruktiv zu gestalten – wie es etwa mit den Ukrainer:innen 2022 gelang.

Es war die EU selbst, die Flüchtlinge unter dem Eindruck der Ankünfte aus Belarus zu einer „hybriden Bedrohung“ erklärte, einer Art softer Kriegswaffe. Wer das tut, lädt seine Gegner geradezu ein, sie entsprechend zu nutzen. Darauf zu reagieren, indem man den Menschen Rechte entzieht – genau das sieht die neue Verordnung vor –, ändert nichts daran.

Die EU bleibt erpressbar, solange sie selbst die Flüchtlinge ständig zur „größten Gefahr“ erklärt. Das Gleiche gilt für die demokratischen Parteien im Inland. Auch sie sind von der AfD umso angreifbarer, je stärker sie dieser recht darin geben, dass nicht genug für die Abschottung getan wird.

[1] Sebastian Geisler, Carl-Victor Wachs, Arbeitspflicht für Flüchtlinge, bild.de, 26.7.2023.

[2] Interview mit Friedrich Merz, „Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen“, nzz.ch, 21.10.2023.

[3] Debatte um Migration: Was bringt eine Arbeitspflicht für Asylbewerber, tagesspiegel.de, 5.10.2023.

[4] Kubicki: „Ein Viertel einer Stadt darf nicht mehr als 25 Prozent Migrantenanteil haben“, welt.de, 9.11.23.

[5] Narges Bartetzko et al., Aufnahme von Geflüchteten: Für 60 Prozent der Kommunen Aufnahme »noch machbar«, mediendienst-integration.de, 02.11.2023.

[6] Interview mit Tim Müller, Migration und Sozialleistungen: „Demokratie ist ein Pull-Faktor“, mediendienst-integration.de, 31.10.2023.

[7] Silke Kersting et al., Wie die Grünen in der Asyl-Frage ihr Ansehen verspielen, handelsblatt.com, 28.9.2023.

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Klasse statt Identität

von Lea Ypi

Die Aufklärung wird heutzutage oft geschmäht, sowohl von rechts als auch von links. Von der Rechten, weil kritisches Reflektieren, der Mut, sich seines Verstandes zu bedienen (Kant), schon immer eine Bedrohung für die passive Unterwerfung gegenüber Autorität bedeutet hat, die für die Normalisierung von Ausgrenzungen erforderlich ist.

Wir brauchen Fachkräfte – und schieben sie ab

von Lena Marbacher

Vor zehn Jahren, im Sommer 2015, sprach die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das!“. Trotz der damit suggerierten Offenheit gegenüber den vielen damals in Deutschland ankommenden Geflüchteten schob ihr Kabinett im darauffolgenden Jahr 25 375 Menschen ab.