Ausgabe Juli 2023

Iran: Zwischen Repression und Hoffnung

Eine junge Frau in Teheran ohne das vorgeschriebene Kopftuch, 8.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Rouzbeh Fouladi)

Bild: Eine junge Frau in Teheran ohne das vorgeschriebene Kopftuch, 8.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Rouzbeh Fouladi)

Inzwischen sind mehr als neun Monate vergangen, seit mit dem Tod von Mahsa Jina Amini in „Polizeigewahrsam“ am 16. September 2022 die jüngste Protestbewegung im Iran begann. Doch wo steht die Revolte jetzt? Was passiert im Land, was passiert mit den Frauen?

Ja, die größeren Proteste haben sich beruhigt – aufgrund massiver Repression. Ja, die meisten Menschen befinden sich in einer Depression – wegen der psychischen Folgen der Repression, aber auch wegen der atemberaubenden Wirtschaftskrise, für die sie – zu Recht – das Regime verantwortlich machen. Und doch ist die Revolte keineswegs beendet, im Gegenteil: Wir befinden uns mitten in einer Art sanftem Krieg, einer andauernden Revolution der Werte und Mentalitäten, bei der keineswegs ausgemacht ist, dass das Regime am Ende obsiegen wird.

Für diese offene Situation spricht auch, so brutal es ist, dass das Regime selbst die gegenwärtige Situation als „Kriegszustand“ bezeichnet. Es sieht jeden Angriff auf seine Schleier-Schal-Manteaux-Tschador-Uniform als einen Angriff auf seine „Fahne“ und die Angreiferinnen und Angreifer als „Feinde, die diese Fahne herunterreißen wollen“.

Daran zeigt sich: Das Regime kann nur noch mit Zwang und Repression um sein Überleben kämpfen. Es überlebt, indem es gezielt das Augenlicht von Demonstranten angreift (und auf öffentlichen Bannern ihre Augenzeugenberichte als „Lügen“ darstellt). Es exekutiert politische Gefangene, es zwingt sie, bewusstseinsschädigende Tabletten zu nehmen oder vergewaltigt sie. Es rächt sich, indem es Tausende von protestierenden Schulmädchen vergiftet, und flößt damit massive Angst ein. Der Anblick eines schwer atmenden Mädchens unter einer Sauerstoffmaske, das in einem Krankenhausbett liegt, ist in den vergangenen Monaten zu etwas Normalem geworden. Als ob ihnen jemand sagen wollte: Das passiert, wenn du dein Kopftuch abnimmst und den Mittelfinger in Richtung des Obersten Führers in den Klassenzimmern hebst, wo sein Bild hängt – ein inzwischen ikonisches Foto und kraftvolles Symbol der Proteste. Daher ist für das Regime jeder gefallene Schleier, jede Nicht-Hidschab-Frau gleichbedeutend mit einer ausländischen Verschwörung. Mit einem Angriff des sogenannten Feindes. Der Präsident hat klar gesagt, dass das Hidschab-Problem ein Sicherheitsproblem ist. Deshalb setzt das Regime noch massiver auf Repression und Indoktrination, deshalb werden die fünf ohne Kopftuch und Schleier tanzenden Mädchen, deren Video viral und um die Welt ging, brutal vorgeführt und zur öffentlichen Abbitte für ihre Untat gezwungen.

Politik nach der Devise »Teile und herrsche«

Was das Regime jetzt macht, folgt der alten Devise „Teile und herrsche“. Die zusätzlichen neuen Gesetze, die dem alten Strafgesetzbuch hinzugefügt wurden, führen effektiv zur sozialen und wirtschaftlichen Lähmung von Frauen, die sich nicht daran halten. Einige meiner Bekannten haben sofort offizielle Verwarnungen auf Instagram erhalten, nachdem sie ihre Bilder ohne Schleier gepostet hatten. Sie wissen, dass ihnen ein Strafgericht droht, und machen trotzdem weiter. Hunderttausende wurden in den vergangenen Monaten per SMS aufgefordert, die sogenannten islamischen Regeln des Staates zu beachten. Wiederholungstätern drohen saftige Geldstrafen und der Verlust des Zugangs zu Mobiltelefonen und Internetdiensten. Die berüchtigten Gesichtserkennungskameras sollen nun überall installiert werden, aber es scheint, als hätten die meisten dieser neuen Kameras vorerst zwei Beine: Unzählige Polizeispitzel sind seit Beginn der Demonstrationen auf den Straßen unterwegs und notieren sich die Nummernschilder von Autos, in denen sie unverschleierte Frauen entdecken. Oder sie machen Fotos oder Filme von unverschleierten Frauen. Frauen, die sich „Betreuerinnen“ nennen, stehen vor dem Metro-Eingang und ermahnen Frauen, dass sie ohne Kopftuch die Metro nicht benutzen können. Kleriker fordern die Bürger auf, Spione zu werden und unverschleierte Frauen zu melden. Sittenwächter stehen vor den Universitäten und lassen unverschleierte Frauen nicht hinein. Unverschleierte Studentinnen werden mehrere Semester ausgeschlossen. Schauspielerinnen verlieren ihre Anstellungen. Sängerinnen dürfen ihren Lebensunterhalt nicht mehr mit Gesang verdienen, weil sie sich für die „Freiheit des Frauenlebens“ einsetzen. Unzählige Geschäfte erhalten SMS, in denen sie aufgefordert werden, unverschleierte Frauen nicht hereinzulassen, sonst drohe die Schließung.

Kürzlich schrieb eine Frau, dass es ihr nicht gefalle, dass ihr Protest das wirtschaftliche Elend anderer Menschen hervorriefe. Dass sie daher versuche, „das verdammte Ding“ auf ihrem Kopf zu behalten. Sofort erhoben andere Frauen Einspruch und sagten ihr: „Was ist mit den zahllosen Frauen, die ihre Einkommensquelle verloren haben, weil sie einen vermeintlich losen Hidschab trugen? Fühlst du dich auch ihretwegen schuldig?“

Hier zeigt sich, dass es eine Menge an Solidarität gibt. Eine Frau schreibt: „Ich war in einem Café, als ich sah, wie ein Geistlicher eine Frau wegen des fehlenden Kopftuchs kritisierte – da habe ich mich vor seinen Augen auch meines Kopftuchs entledigt.“ Taxifahrer, Ladenbesitzer, Ärzte beteiligen sich an dem weiblichen Ungehorsam. Immer mehr Schauspielerinnen treten ohne Kopftuch auf – und stecken damit auch die Männer an: Ein Kinobetreiber verliert seinen Job, weil er eine prominente Schauspielerin ohne Kopftuch zu einer Veranstaltung gehen ließ. Männliche Motorradfahrer halten vor Frauen, die von der Polizei ermahnt werden, und verteidigen diese vor Belästigungen. Studenten, die nicht ins Gebäude gelassen werden, holen sich Hilfe von anderen, sie bilden eine Gruppe und drängen sich durch. Gäste in einem Restaurant bitten den Besitzer, einen Kunden, der Unverschleierte fotografiert, aus dem Lokal zu werfen, er kommt der Bitte nach. Wenn in Maschhad, das als klerikale Hauptstadt des Regimes angesehen werden kann, ein Krankenwagen ohne Nummernschild auftaucht (das sind die Autos, mit denen die Demonstranten zu den Polizeistationen gebracht werden), bilden die Fahrer keinen Durchgang mehr, um sie durchzulassen, und Passanten starren demonstrativ auf den Krankenwagen.

Andere haben noch weit mehr Mut. „Ein Video aus meiner Nachbarschaft“, schreibt A., aufgenommen bei Nacht, aus einem Fenster im Herzen Teherans: Ein unsichtbarer junger Mann ist darauf zu hören. „Tod der Hinrichtungsrepublik!“. ruft er, sichtlich bemüht, die Worte richtig auszusprechen. „Er hat eine Behinderung, doch das hält ihn nicht davon ab, seit Beginn der Proteste auf das Dach zu steigen und ‚Tod dem Mörder, dem Obersten Führer!‘ zu rufen“, erklärt mir A. „Manchmal hallt es wütend zurück: ‚Führer Khamenei hat keine Wurzeln in unserer Erde. Der Aufstand wird nicht aufhören!‘“

Das sind Stimmen der Verzweiflung, aber mehr noch des Zorns, auf die Straße gebrüllt, im Schutz der Dunkelheit. Stimmen, die von einem zermürbenden Krieg erzählen. Der Iran ist heute eine Gesellschaft, die sich „unter Besatzung“ oder „in Geiselhaft“ sieht, in der dunkelsten Phase ihrer Geschichte. Aber der Iran ist zugleich eine Gesellschaft, deren grundlegende Werte und Lebensvorstellungen sich seit einigen Jahren – und umso mehr nach der Erschütterung der vergangenen Proteste – fundamental und unumkehrbar verschieben. Eine Gesellschaft, in der vielfältige Protestformen zur neuen Normalität geworden sind – die jede für sich lange Gefängnisstrafen oder Peitschenhiebe zur Folge haben können.

Die Stimmen des Widerstands

Um die Dimension der Umwälzung zu verstehen – einige sprechen gar von einem zivilisatorischen Wandel –, habe ich erneut viele Gespräche mit jenen Frauen geführt, deren Widerstand ich seit einigen Jahren verfolge und in meinem Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“ dokumentiert habe.[1]

 „Ich bin hoffnungsvoller geworden. Wir, die Familien der Regimeopfer, haben lange geduldig auf diesen Moment gewartet. Auf den Moment der Bewusstwerdung in der Gesellschaft, auf dieses Miteinander, diese beispiellose Vereinigung“, erzählt mir Schahnaz Akmali. Hoffnung – ausgerechnet aus dem Munde einer Mutter, deren Sohn 2009 bei einer Anti-Regime-Demonstration getötet wurde. Eine zentrale Figur in der Bewegung der Mütter, deren Kinder vom Regime erschossen wurden, und die nicht aufhören, an die Straflosigkeit der Verantwortlichen zu erinnern. Für diese öffentliche Erinnerung wurde Schahnaz Akmali unter anderem mit einer Haftstrafe für ihr einziges verbliebenes Kind, ihre Tochter, bestraft. „Als 2009 mein Sohn erschossen wurde, machten mich die Gleichgültigkeit und die Einwände meiner Umgebung bitter. Nach dem Motto: Euer Mustafa ist doch selbst schuld, wenn er demonstrieren ging. Jetzt aber verstehen mich die meisten. Jetzt besuchen richtig viele die Trauerfeiern der getöteten Demonstranten – ein politischer Akt“, erklärt Schahnaz Akmali.

In allen meinen Gesprächen höre ich von dieser Hoffnung und Bewusstwerdung: „Wir sind nach wie vor in diesem schwarzen Loch. Aber wir haben uns von diesem dunkelsten Punkt entfernt. Jetzt können wir zumindest das Licht sehen.“ Bei allen höre ich von Momenten der Solidarisierung, wenn Frauen wegen ihres Protests gegen den Zwangsschleier auf der Straße von der Staatsgewalt bedroht – und dann von einer Menschenmenge, darunter etlichen Männern, lautstark unterstützt werden. Von einer Gesellschaft, die von ihren Forderungen nach einem angstfreien Leben in einem neuen, säkularen Staat unmöglich wieder ablassen und, wie Schahnaz Akmali sagt, auf die Augenwischerei von Reformpolitikern des Regimes nie mehr hereinfallen wird.

„Ich habe Stress, Wut, Unruhe und Depression erfahren in den vergangenen Monaten. Aber nie Hoffnungslosigkeit. Im Gegenteil, ich spüre, dass wir eine lichte Zukunft verdienen“, sagt die Grafikerin Rahele Mahouti, deren Zeichnungen und Motive in den ersten Wochen der Protestbewegung im Netz und auf der Straße zu sehen waren. „Vor Mahsa Jina Amini war das Kämpfen um mein Lebensrecht als Frau etwas Furchteinflößendes. Aber jetzt kämpfe ich für alle. Nicht nur für mich. Ich bin Teil eines größeren Ganzen geworden. Es ist, als ob wir Frauen uns ineinander erkennen – in diesen Momenten, in denen ich unverschleiert aus dem Haus trete, eine Verschleierte mich sieht – und den Schleier fallen lässt, wir uns auf der Straße anlächeln, und unser Mut sich vervielfacht.“ Vor September sei die Hoffnung tot gewesen – nun halte „die Hoffnung auf unseren Sieg“ die Menschen aufrecht, sagt Mahouti.

Eine Zeit der Hoffnung

„Insgesamt habe ich jetzt Hoffnung – in diese Gesellschaft, diese Menschen, dieses Land“, ist auch Ensieh Daemi überzeugt. Ihre Schwester Atena Daemi kämpfte gegen die Todesstrafe im Iran und erduldete dafür mehr als sechseinhalb Jahre Haft. Ensieh bezeichnet sich als die stets ängstliche und konservative der Geschwister. Doch seit den Protesten stellt sie Veränderungen an sich fest: Sie scheut Auseinandersetzungen nicht mehr. Sie stellt erstmals ihre Grenzen klar. Als Einzelne habe sie genau wie die Gesellschaft einen über Jahre dauernden Wandel durchgemacht, dessen Ergebnis im Ausbruch der Protestbewegung sichtbar wurde. Während der Streik- und Boykottaufrufe in den ersten Monaten der Proteste erschien die Friseurmeisterin nicht zur Arbeit, während die Chefin den Salon weiter geöffnet ließ. Ensieh hörte auf, für ihre Arbeit auf Instagram zu werben – sie brachte es nicht über sich, nachdem eine junge Frau wegen ihrer Haare getötet worden war.

Eine der vielen nicht auszulöschenden Erfahrungen, erzählt sie, sei das Mitgefühl in der Menge der Demonstranten gewesen, die gegenseitige Hilfe, wenn es zu Zusammenstößen kam. Die kleinen Steine, die Jugendliche mit sich trugen, um sich zu verteidigen. Die Art, wie die Menschen im Wohnviertel ihrer Eltern, ein äußerst konservativ-religiöser Bezirk im Süden der Hauptstadt, sich zu nächtlichen Protestrufen verabreden – oder wie sie das WM-Spiel Iran gegen USA zelebrierten. „Ich konnte es nicht glauben, wie sehr die Einwohner ausgerechnet dort auf eine Niederlage unserer Mannschaft hin fieberten und wie sehr sie sich über jedes amerikanische Tor freuten!“, sagt Ensieh Daemi. Und der Schleier? „Wenn ich allein unterwegs bin, bin ich oft etwas ängstlich, ganz unverschleiert aus dem Haus zu gehen. Niemand würde dann im Fall einer Festnahme wissen, was mit mir passiert ist. Aber in Gesellschaft lasse ich das Tuch definitiv zuhause.“

Ensieh Daemi ist eine von Abertausenden, die eine neue Realität zementieren. Frauen nehmen – in kurzer, enger Sportkleidung nur – an einem Stadt-Marathon teil. Eine Schauspielerin geht unverschleiert zu einer Filmpremiere. Eine junge Frau, die in der Metro wegen ihrer Schleierlosigkeit ermahnt wurde, postet demonstrativ ein Video über ihre Absicht, dies zu wiederholen. Das Regime sieht in den Haaren den imperialistischen „Feind“ am Werk. Ein Kommandeur der Revolutionsgarden in Buschehr warnt, „auch an dieser Front“ werde man dem Feind eine Niederlage bereiten. Und ein Vizepräsident erinnert, der Hidschab sei das Symbol der Islamischen Republik, ohne den sie ja keinen rechten Sinn mehr habe.

Nie wieder Bürger zweiter Klasse

Das Regime verschärft die Strafgesetze, die – in einem Land, in dem die Frauenarbeitslosigkeitsrate doppelt so hoch ist wie bei den Männern –, zur zusätzlichen wirtschaftlichen und sozialen Lähmung der Frau führen. Es suspendiert Studentinnen von der Uni, es droht mit dem Entzug von Mobiltelefon und Internet. Mehr noch, es zieht alle in Mitleidenschaft, die eine solche Selbstbestimmung tolerieren. Wenn selbst in einer Polizeistation ständig Unverschleierte auftauchen, dann kann sie, wie sie in einem Banner am Eingang schreibt, „den anderen guten Bürgern ihre Dienste nicht mehr anbieten“. Auch Männer zahlen hohe Geldstrafen für die Unterstützung von Frauen ohne die Uniform des Regimes. Taxifahrer verlieren ihren Führerschein, wenn sie Unverschleierte mitnehmen; Ladenbesitzer müssen ihr Geschäft versiegeln; Arztpraxen, Restaurants, Apotheken und touristische Zentren werden vorübergehend geschlossen.

„Wir waren unser ganzes Leben lang Bürger zweiter Klasse“, schreibt eine Teheranerin auf Twitter. „Jetzt versuchen sie, uns zu einer Plage zu machen, uns als einen unersättlichen Unruhestifter darzustellen. Uns in eine öffentliche Bedrohung zu verwandeln, auf die beschlagnahmte Autos und versiegelte Geschäfte zurückzuführen sind. Aber wir wollen einfach wir selbst sein. Ein echter Mensch, der das Recht hat, zu wählen!“

Doch das staatliche Werben für den Zwangshidschab bewirkt das Gegenteil: Wenn Banner mit falschen Zitaten von Victor Hugo und Leonid Tolstoi über die angebliche Sinnhaftigkeit des Hidschabs aufgestellt werden, löst das Fassungslosigkeit und Kopfschütteln aus. Auf die allgegenwärtigen Poster mit dem Ausspruch „Der Hidschab ist das Erbe der Mütter“ – darauf eine Mutter, die ihrer Tochter den Schleier zurechtzieht – reagieren viele mit ätzendem Spott: Der Zwang, die Gewalt, der Schmerz und die Chancenlosigkeit – das sei das Erbe der Mütter, antworten sie dem Staat. Und der „Feind“, vor dem sie Staatsfernsehen und Schulbücher 44 Jahre lang warnten? „Sie lügen, wenn sie sagen, unser Feind sei Amerika. Unser Feind ist hier“, lautet ein seit Jahren geläufiger Protestruf.

Ein Protest, der die ganze Nation erfasst

Ist die Protestbewegung eine „feministische Revolution“, wie es in Deutschland oft heißt? Alle Frauen verneinen meine Frage. Dies sei keine vollständige Beschreibung. „Hier ist der Begriff Feminismus den meisten nahezu unbekannt“, erklärt Atena Daemi. Sicher, Frauen seien ganz vorne dabei. Aber ausgehend von der Tötung Mahsa Jina Aminis erfasse der Protest längst etwas Größeres – eine ganze Nation, all das Unrecht, das ihr seit 44 Jahren angetan werde. So, wie die Lehrervereinigung, die Rentnerunion, die Arbeiter der Petrochemie und die Geschäftsbesitzer in ihren Streikaufrufen hinter den Frauen standen, unterstützten sie genauso auch die Minderheiten im Land.

„Der neue Kaveh ist eine Frau“, schrieb der Fußballer Ali Karimi, einer der prominenten Protestunterstützer. In der altiranischen Mythologie des Königsbuchs von Firdausi ist Kaveh, der Schmied, ein einfacher Mann aus dem Volk, der gegen den fremden Eindringling und Tyrann Zahak kämpft. Die Heldensage über den Widerstand gegen nichtiranische Invasoren ist ein zentrales Motiv der Demonstranten. Es geht ihnen um ihre iranische Identität, die das Regime auslöschen will. So erklärt sich das Tattoo auf dem Arm des hingerichteten Demonstranten Majid Reza Rahnavard: ein Löwe im Zeichen der Sonne. Das im Land sehr beliebte astrologische Symbol war seit Jahrhunderten, bis 1979, Emblem der Nationalflagge, stellvertretend unter anderem für schiitische, babylonische, zoroastrische Elemente der Geschichte. So erklären sich auch die vielen jungen Frauen, die sich mit wehenden Haaren vor dem Grab des Achämenidenkönigs Kyros dem Großen fotografieren lassen und ihr Bild in soziale Medien stellen: ein Protestakt vor einem imperialen Herrscher, der für Menschenrechte und Toleranz bekannt war – eine Art persischer Urvater.

Ein grundlegender Wandel hat stattgefunden. Nicht nur, dass eine Provinz wie Sistan-Balutschistan, die niemals bei den Protesten des übrigen Landes mitmarschierte, nun ein Epizentrum des wöchentlichen Widerstands ist. Kommen Iraner aus anderen Landesteilen dorthin, loben sie unentwegt den Mut der Demonstranten, erzählt mir die Journalistin Sahra Rousta, die in Zahedan lebt.

„Die ganze Gesellschaft – alle Schichten, Gruppen, politischen Richtungen, Religiöse wie Nichtreligiöse, wollen die Islamische Republik beendet sehen. Und: Es zeichnet sich eine kulturelle Revolution ab. Gegen Misogynie, gegen patriarchalische Vorstellungen. Wir beginnen, tief eingepflanzte Glaubensmuster aufzuarbeiten. Eine schwierige Arbeit“, fasst Atena Daemi die Entwicklung zusammen. Ihren Aktivismus bezahlt sie teuer: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, ist sie untergetaucht, um weiter zu publizieren. Ihre chronische Krankheit, die sich im Gefängnis entwickelte, kann sie in ihrem Versteck nicht behandeln.

Wie alle befragten Frauen ist sie überzeugt: Die Proteste werden weiter gehen, in der einen oder anderen Form. Wie alle sieht sie den Staat als stark und zugleich als im Verfall befindlich an: einerseits der ideologische Ruin des politischen Islam, die Unfähigkeit, Tausende von unverschleierten Frauen zu verhaften, zunehmend säkulare Einstellungen, die neue Angstfreiheit vieler Menschen und ihre neue Radikalität – und auf der anderen Seite das einzig verbliebene Mittel des Staates, die Keule der Repression und Hinrichtung. Und über allem ein Land in Trauer, das seine Getöteten nach und nach in unzähligen Handyvideos kennenlernt.

Die Diversität der Opposition und ihrer Motive

Aus welchen politischen Milieus stammen die Opfer der Repression? Welche politischen Ideale zeichnen sie aus? Unser Blick darauf bleibt oft vage. Doch die Diversität der Demonstrierenden und der Opfer verdient unsere Aufmerksamkeit. Die Familie der getöteten Nika Shakarami, eine Sechzehnjährige, die ihr Kopftuch auf der Straße verbrannte, personifiziert diese Unterschiede. Mutter und Tante – offenbar die beiden wichtigsten Bezugspersonen der Schülerin – sind so divers wie die gesamte Gesellschaft in ihrer Opposition zum Regime. Während die Mutter den Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi, als politischen Anführer der Opposition sieht, fühlt sich die Tante in keiner Weise der Monarchie verbunden.

Während der Hingerichtete Mohammad Seyed Hosseini, Arbeiter in einer Hühnerfabrik und Kampfsportler, die Ära vor 1979 offenbar als Ideal ansah, wie sein Instagram-Kanal preisgibt, warnt Reza Khandan, der Ehemann der Anwältin und Frauenrechtlerin Nasrin Sotoudeh, vor einer Rückkehr der Monarchie als „säkularer Diktatur“. Oppositionell sein im Iran bedeutet: als linker Verteidiger von Arbeiterrechten in Haft zu sitzen oder aber auch als religiöse Familie die Vermischung von Politik und Religion abzulehnen und mit der Idee der Monarchie zu sympathisieren. Die Ablehnung der Revolution 1979 als „Schritt ins Mittelalter“, die Entwertung der Revolutionäre als „primitive, ungebildete, verrohte und gewaltbereite Schicht“ oder als „dumme Intellektuelle“ ist in weiten Bevölkerungskreisen, vor allem in den jüngeren Generationen, geläufig. Die meisten Iraner sind sich einig, dass sich das Land aufgrund der Revolution zurückentwickelt hat. Die Hinrichtungsorgie und Generalabrechnung klerikaler Faschisten, die zivile Fundamente zerstörten und die Geschichte der Nation eliminieren wollten, ist für viele im Rückblick ein Moment der Schande und Scham. Sämtliche „Nostalgiker“ als rückwärtsgewandte Antidemokraten zu kennzeichnen, zeugt daher eher von Desinteresse an den Menschen als von einem Begreifen der Proteste.

Die Motive für die Wertschätzung der Monarchie – oder genauer: des Iran vor 1979 – sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Mal wird diese Ära herbeigewünscht als eine „ideale Startrampe“ für Reformen, die sie hätte sein können – ein kulturell erhaltenswerter Zustand, der in eine politische Reform hätte überführt werden müssen und an den nun angeknüpft werden müsse. Ein Zustand, in dem gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheiten gewährt wurden, der Status der Frau sich erheblich verbesserte und das Land nicht auf ausländischen Schlachtfeldern (Syrien, Libanon, Irak oder Jemen) ideologische Glaubenskriege führte, sondern in dem die eigenen Bürgerinnen und Bürger ohne ein Visum in viele westliche Länder einreisen konnten. Ein Zustand der Entwicklungssprünge, der immer weiteren Schichten einen sozialen Aufstieg und ein planbares Leben ermöglichte.

Vor und nach 1979: Von der Monarchie in den klerikalen Faschismus

Die ehemalige Weltbankökonomin Nadereh Chamlou weist zum Beispiel darauf hin, wie die Revolution Irans aufstrebende Unternehmer- und Industrieklasse vernichtete: „Entgegen mancher Annahme, dass sie vom Vetternwirtschaftskapitalismus des Schahs profitierten, stammten die meisten frühen Industriellen aus einfachen Verhältnissen und waren self-made businessmen – etwa die Khajjami-Brüder aus Mashhad, die aus der Mittelschicht aufstiegen und die Automobilindustrie gründeten, heute Irans drittgrößter Arbeitgeber, nach Öl und Gas.“ Der Iran vor 1979 war ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt weit über dem der Türkei, Südkoreas und Vietnams lag – und der diesen Vorsprung jäh verlor. Dessen Pro-Kopf-Einkommen seit der Revolution nie wieder so sprunghaft wachsen konnte. Und dessen menschliches Potenzial – die Masse an ausgebildeten Jugendlichen – nie wirklich genutzt wurde und stattdessen – qua erzwungener Auswanderung – westlichen Ländern zugute kam. „Wenn ganz normale Menschen sich erinnern, dann wünschen sie sich dieses Lebensminimum zurück. Es ist klar, dass sie an einem politischen System interessiert sind, das dieses Minimum erfüllte, ohne dass sie sich dafür in Angst und Panik in einem quälenden Kampf aufreiben mussten“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Farangiss Bayat, die in Teheran als Journalistin für verschiedene Zeitungen schrieb und soziale Bewegungen analysiert. Wer beide Systeme auf den Nenner „Beides gleich schlecht“ herunterbreche, begehe einen Denkfehler. Dieser „alte, fruchtlose Streit zwischen dem Schah und seinen Gegnern“ sei obsolet und unangemessen angesichts der überwältigenden heutigen Probleme: die Umweltkrise, der Generationenkonflikt, Unterernährung, zunehmend aufgelöste Familienstrukturen, eine Bildungskrise und wachsendes Analphabetentum, die Krise der öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie ein Regime, das fanatische Kräfte in der Region fördert, aufgrund seines Atomprogramms die Nachbarn dazu antreibt, selbst nuklear aufzurüsten – und so die Sicherheit der kommenden Generationen in der Region bedroht. „In einem Land, in dem Eltern Angst haben müssen, dass ihre Kinder jederzeit wie Mahsa Jina Amini gejagt und getötet werden oder in der Schule einem Giftgasangriff ausgesetzt sein können, ein Land, in dem ganze Familien keine andere Wahl haben, als Müll zu sammeln für ihren Lebensunterhalt – in so einem Land ist der bis heute endlose Streit über die Politik des Schahs zwischen dessen Befürwortern und Gegnern für die Bevölkerung unwichtig. Welche Notwendigkeit besteht, jetzt die Schah-Diktatur zu verurteilen – und dieser Kritik Priorität einzuräumen –, statt sich genauestens mit dem heutigen, komplizierten, blutigen Iran zu beschäftigen?“, fragt sich Bayat. Sie führt diese Tendenz einiger westlicher Beobachter auf eine versteckte Neigung zurück, die Verbrechen des heutigen Regimes zu leugnen oder zu bagatellisieren – darunter, erinnert sie, mögliche „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und Massaker, deren Verantwortliche bis dato nur in einem singulären Fall in Schweden zur Rechenschaft gezogen wurden. Zwischen den beiden Systemen bestünden galaktische Unterschiede: hier eine konstitutionelle Monarchie, in der die Schwächung des Rule of Law zur politischen Repression und schließlich zum Umsturz führte; dort ein Regime, das eine islamistische Utopie zum Ziel hat, dessen Doktrin einen schiitischen Endzeitherrscher erwartet, einen Ort, wo der Krieg „ein Segen“ ist und „der Baum des Islam nach Blut verlangt“. Hier der klassische Militarismus unter dem Schah – dort die Warlords der Revolutionsgarden. Hier eine Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg und Umschichtung meritokratisch, nach den Gepflogenheiten, erfolgte – dort ein islamo-militärischer Klientelismus mit einer Mafia-Wirtschaft, die mit den religiösen Oberhäuptern verflochten ist. Ein System, das mit seiner Bevölkerungspolitik einen Krieg gegen die Menschen führt – zum Beispiel, indem es Millionen alteingesessene Städter der Mittelschichten aus den urbanen Zentren in Satellitenstädte vertreibt oder sie gar an den Rändern in Containern hausen lässt, während die Stadtzentren nunmehr den „Eigenen“ gehören. Oder indem es Innenstädte so umbaut und absichert, dass dort keine Versammlungen mehr stattfinden können. Das heutige Regime sei ein weicher Faschismus, ist Bayat überzeugt – im Äußeren angedockt an kriminelle Vereinigungen, organisierte Kriminalität und Drogenbanden (Narco-Staat Syrien) sowie militärstrategisch verbunden mit Russland.

Die Loyalität in den Sicherheitsstrukturen und eine Revolte ohne Vision

Wo also steht der Iran heute, bald ein Jahr nach der Tötung von Mahsa Jina Amini? Nach wie vor inmitten eines allmählichen Falls, eines revolutionären Funkens – aber nicht in einer umfassenden Revolution. Das liegt an verschiedenen Faktoren. Die im Iran lebende Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Nuschin Ahmadi-Khorasani fragt, warum die sogenannten grauen Schichten der Bevölkerung bei den Protesten nicht dauerhaft mobilisiert werden konnten. Jene mittleren Generationen der Mittelschicht, deren Beruf, Lebensunterhalt, Verpflichtungen und Verantwortungen sie offenbar vom dauerhaften zivilen Ungehorsam abhielten. Sie stellt fest: Diese Schichten finden einen Protest, der unter dem Banner „Gegen den Zwangshidschab“ einen Umsturz verlangt, eher widersprüchlich und vage und sprechen ihm das Potenzial für einen Umsturz eher ab. Sie vermissten eine politische Alternative mit einer breiten Struktur und Organisation, so Ahmadi-Khorasani. Während die ersten Versammlungen – als Ausdruck der Trauer und Wut über den Tod von Mahsa Jina Amini und etlichen jungen Demonstrantinnen – noch eine größere Menge anzogen, dünnte der Straßenprotest allmählich aus. Die eher patriarchalische Gesellschaft, resümiert die Schriftstellerin, – sowohl säkular- als auch religiös-patriarchalisch – geriet in Zweifel über einen Umsturz im Namen der Selbstbestimmung über den Körper. Als Zeugnis dieses Zweifels führt sie die Einführung der Triade „Mann – Vaterland – blühende Landschaften“ an, die alsbald neben die ursprüngliche „Frau – Leben – Freiheit“ gestellt wurde, selbst in der mit einem Emmy gekrönten Protesthymne der Bewegung.

Noch hält die Loyalität der Sicherheitskräfte zum System

Prominente staatliche Überläufer gibt es nach wie vor keine. Immer noch ist das Regime offenbar fähig, Loyalität in den Sicherheitsstrukturen zu erzeugen. Auch wenn in mehreren Leaks aus vertraulichen Unterredungen beim Obersten Führer bekannt wurde, dass unter den Sicherheitskräften Unzufriedenheit und Inkompetenz nicht selten seien – und es während des Höhepunkts der Proteste vereinzelt eine Solidarisierung von Milizen und Demonstrierenden gegeben haben soll.

Wie also weiter? Einfach nur auf die Straße zu kommen ohne einen klaren Zweck bringe nichts, stellt der ehemalige Studentensprecher und Häftling Majid Tavakoli klar. Er ist einer der prominentesten Dissidenten und politischen Theoretiker im Iran. „Niemand hat irgendeine Art von Vision, von Konzept“, beklagt er. „Ohne ein Bild, ohne eine Vision ist die Zukunft unklar und läuft die Gesellschaft nicht mit Euch mit.“ Tavakoli wendet sich damit an die In- und Auslandsopposition, deren Planlosigkeit er kritisiert. „Soll jeder in Richtung Teheran laufen? Oder in anderen Städten zusammenkommen? Ein paar Türen und Fenster einschlagen? Wir haben nie darüber gesprochen. Was ist mit dem Militär? Eine solche Bewegung braucht eine Organisation. Eine Art Führung. Und vor allem: das Vertrauen des Volkes.“

Tavakoli unterteilt die Opposition in vier Gruppen: zum einen ehemalige Reformer, von der Revolution 1979 nach wie vor überzeugt. Diese sähen heute in einem Referendum ein Allheilmittel – würden aber nicht anerkennen,  dass es keine reformfähige Regierung gibt für ein echtes Referendum. Die zweite Gruppe, die „Hauptströmung der Opposition“, repräsentiert den zivilen Nationalismus („civic nationalism“), der mittels einer „nationalen Revolution“ eine liberaldemokratische Ordnung anstrebt und alles dem Wohle Irans unterstellt – im Gegensatz zu den islamischen Revolutionären, die 1979 alles National-Iranische bekämpften. Für die Gruppen drei und vier sieht Tavakoli in der iranischen Gesellschaft dagegen keine Basis: prominente Medien- und NGO-Aktivisten sowie die (separatistische) Linke. Die oppositionelle Hauptströmung habe letztlich einen Hang zur Simplifizierung und Naivität – und keine durchdachten Überlegungen zum Wandel.

Die vertane Chance der Auslandsopposition

Nach vier Monaten der Proteste waren immense Erwartungen an die iranische Auslandsopposition entstanden. Und tatsächlich: Erstmals in ihrer Geschichte schuf sie eine Art Bündnis, eine „Allianz für Freiheit und Demokratie im Iran“ und eine Charta für den Übergang. Zu den ersten Treffen kamen die Frauenrechtsaktivistin Masih Alinejad, der Sprecher für die Familien der Opfer des von den Revolutionsgarden abgeschossenen ukrainischen Passagierflugzeugs Hamed Esmaeilion, Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin 2003, Abdullah Mohtadi, ehemaliger Gründer der Kommunistischen Partei Irans und heute Vorsitzender der linken Komala-Partei Iranisch-Kurdistans; die Frauenrechtsaktivistin Nazanin Boniadi, die Schauspielerin Golshifteh Farahani, der nach Deutschland geflüchtete Fußballer Ali Karimi – und schließlich der ehemalige Kronprinz Reza Pahlavi, der nach Meinungsumfragen der Gamaan-Forschungsgruppe auch im Iran eine größere Anzahl von Anhängern hat, wohl besonders in den ländlicheren Gebieten. Die Allianz hätte – dank der im Iran immens populären Exil-TV-Sender – eigentlich eine ideale Plattform für ihre Botschaften gehabt. Doch bereits im April war sie Geschichte. Anstatt taugliche Strukturen zu schaffen und eine Einheit, die regimekritische Bürgerinnen und Bürger im Innern hätte stärken können, wird seit Monaten das Fell eines noch gar nicht erlegten Regimes zerteilt – und wetzen die Anhänger der jeweiligen politischen Vertreter die Messer, um Gegner auszuschließen und mit ihnen abzurechnen.

Die Stimmung ist antipluralistisch. Keine Partei und Richtung zeigt Interesse an einer historischen Aufarbeitung der begangenen Fehler. Radikal-rechte Monarchisten erinnern in Sprache und Gestus an chauvinistischen Putin-Nationalismus, der nichts gemein hat mit den liberaldemokratischen Aussagen Pahlavis. Dessen Distanzierung von seinen ultrarechten Anhängern wirkt wiederum bislang zu unentschlossen. Radikale Linke bedrohen Pahlavi dagegen mit dem Tod. Sie wollen, so scheint es, stärker eine Rückkehr der Monarchie verhindern denn das gegenwärtige Regime überwinden. Eine Distanzierung von der terroristischen Vergangenheit und ihrer Rolle während der Revolution 1979 bleibt aus.

In sozialen Medien wird der Diskreditierung der jeweiligen Gegner mittlerweile mehr Platz eingeräumt als der Tyrannei des Regimes. Zum Vorteil der Islamischen Republik: Sie reitet auf dieser Welle mit und verstärkt sie noch. Sie setzt ihre Cyber-Agenten gezielt dazu ein, Zweifel an der Opposition zu säen und die wichtigsten politischen Kontrahenten zu entwerten, sodass am Ende niemand und nichts mehr vertrauenswürdig erscheint – und das Regime gestärkt daraus hervorgeht. Eine Strategie, die ich aus Russland kenne, wo Meinungsagenten des Kreml über Jahre Oppositionelle als vom Westen erschaffene Figuren darstellten und mittels bestimmter Codewörter als unpatriotisch delegitimierten. Eines dieser Codewörter im iranischen Diskurs ist der Begriff „Separatist“, der nun inflationär als Vorwurf gegenüber diversen Oppositionellen verwendet wird.

Wie aber wirken diese Zerwürfnisse der Auslandsopposition im Iran selbst? Sie seien zu weit weg und ihre Dimension zu unklar, als dass sie den Widerstandsgeist und die öffentliche Wut schwächen würden, höre ich oft. „Sicher, je einiger die Diaspora, umso beruhigender ist das für uns im Iran. Jetzt gerade haben wir das Gefühl, wir sind allein, wir haben nur uns und müssen es ganz allein schaffen. Als Friseurmeisterin höre ich oft von meinen Kunden, dass ‚die da drüben‘ an nichts sonst als an ihren zukünftigen Anteil an der Macht denken – während wir hier, im Angesicht des Todes, uns einig und nahe sind“, sagt Ensieh Daemi.

Dennoch wirkt umgekehrt der Protest im Innern weiter auf die iranische Diaspora ein. Anders als in der Auslandsopposition sind in der mindestens fünf Millionen Menschen starken Diaspora Mobilisierung und neue Strukturen zu beobachten – vom einfachen Kioskbesitzer in der Kölner Innenstadt, der Protestaktionen organisiert, bis hin zu den potenziellen „Leadern“ von morgen, die an der US-Universität Stanford oder in anderen Zirkeln über die Herausforderungen eines möglichen Machtübergangs nachdenken. Die Islamische Republik hat die Diaspora stets als unfähig dargestellt und herabgesetzt, ihre Führungspersönlichkeiten aber über Jahrzehnte angegriffen und teilweise ermordet. Die Diaspora pauschal zu delegitimieren bedeutet daher nichts anderes, als ein zentrales Narrativ des Regimes zu wiederholen und sich in ihren Dienst zu stellen.

Holen wir die Opfer aus ihrer Namenlosigkeit

Der konkrete Kampf im Inneren Irans bedarf dagegen anderer Unterstützung. Die Opfer aus der Namenlosigkeit herauszuholen – das sei eine der wichtigsten Aufgaben westlicher Beobachter, betonen alle Frauen im Interview. „Zeigt die Bilder unserer Getöteten und Gefangenen. Lernt sie kennen. Und übt Druck auf Eure Regierungen aus, jede Zusammenarbeit mit unseren Henkern zu beenden.“ Wahre Solidarisierung fange an, wenn die unmenschliche Natur des Regimes endlich verstanden werde.

Doch keine der Befragten kann bisher einen tiefgreifenden Stimmungswandel der Weltgemeinschaft gegenüber dem Regime erkennen. Nur Neugier, in den dunklen Schacht zu schauen, in dem sich Irans Menschen befinden –, deren Proteste ja angeblich „so überraschend“ kamen. Die inzwischen acht EU-Sanktionsbeschlüsse, die Einreise-, Vermögens- und Geschäftsverbote aussprechen, seien bloße Symbolik. „Die Welt ist – vor allem nach dem Irakkrieg 2003 – an einem Punkt angekommen, an dem selbst Chemieangriffe, ob auf iranische Schülerinnen oder syrische Zivilisten, keine ernsthaften Reaktionen hervorbringen. Oft regieren dort Politiker, die mehr oder weniger in Friedenszeiten aufwuchsen, also faschistische Systeme nur als historische Erinnerung kennen und keine Erfahrung mit dem Kampf gegen diese haben – obwohl der Kampf gegen den klerikalen Faschismus der größte Kampf unserer Zeit wäre“, fasst die Politologin Farangiss Bayat die Gleichgültigkeit vor allem westlicher Länder zusammen.

Das Versagen des Westens

Weiterhin dominiert der Drang, den Iran lediglich aus der Perspektive des Atomkonflikts zu sehen. Ganz offenbar verfügt die westliche Politik nicht über die Vorstellungskraft – oder über den Willen, den Riss zwischen Bevölkerung und Staat anzuerkennen und die Protestierenden aktiv zu unterstützen. Weder Europa noch die USA haben die Revolutionsgarden zu einer terroristischen Einheit erklärt. Weder werden Diplomaten ausgewiesen noch ziehen die USA einen Schlussstrich und kündigen die Rückkehr zum alten Atomdeal auf. Obwohl die Gegebenheiten ganz andere sind als noch vor zehn Jahren, bleiben sie bei ihrer strategischen Ambiguität. Sie benutzen nicht einmal ihre Social-Media-Kanäle, um mit den Protestierenden zu kommunizieren. Im Gegenteil: Hartnäckig halten sich unbestätigte Meldungen, wonach Washington und Teheran miteinander im Gespräch seien, um blockierte iranische Staatsvermögen im Ausland zu entsperren – im Gegenzug für Geiselfreilassungen von US-Bürgern. Belgien hat jüngst einen verurteilten Diplomaten und Terroristen in den Iran zurückgeschickt, um einen belgischen NGO-Mitarbeiter in Teheran aus der Haft zu bekommen.

Ein solches Einknicken vor der Geiseldiplomatie macht weitere Tauschgeschäfte möglich. Schon zählen Iranerinnen und Iraner die Tage, bevor der vor einem Jahr von einem Stockholmer Gericht wegen Beteiligung an den Massenhinrichtungen politischer Gefangener im Sommer 1988 zu lebenslanger Haft verurteilte Hamid Nouri durch einen ähnlichen Deal freikommt – und damit der erste Erfolg der universalen Rechtsprechung über einen Menschenrechtsverbrecher nichtig wird. Wie zum Hohn wurde dem Mullah-Regime jüngst der Vorsitz im Sozialforum des UN-Menschenrechtsrats gewährt – wo untersucht werden soll, wie Wissenschaft und Technologie Menschenrechte fördern. Ob das Regime dort seine Gesichtserkennungskameras vorstellen wird, mit deren Hilfe es zukünftig unverschleierte Frauen identifizieren und bestrafen will?

Ja, die Verbitterung über die Gleichgültigkeit der Welt ist groß. Allen westlichen Solidaritätsbekundungen zum Trotz bleiben viele Iranerinnen und Iraner von einer Sache überzeugt: „Ohne internationale Unterstützung hätte dieses System niemals so lange überlebt. Die da drüben wollen letztlich gar nicht, dass wir unser Regime stürzen.“

[1] Siehe dazu auch Golineh Atai, „Frau, Leben, Freiheit“. Die Kraft der Iranerinnen und ihr Kampf gegen die Theokratie, in: „Blätter, 11/2022, S. 39-49.

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