Ausgabe Mai 2023

Im Osten nichts Neues: Ein Buch der Wut

Dirk Oschmann, 7.2.2023 (IMAGO / Emmanuele Contini)

Bild: Dirk Oschmann, 7.2.2023 (IMAGO / Emmanuele Contini)

Es ist ein Buch der Wut, das der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann geschrieben hat und damit eine Ostdeutschlanddiskussion auslöste, die quer zu den ritualisierten Debatten verläuft, die sich sonst alljährlich um den Tag der Einheit ranken. Die Veröffentlichung der internen Äußerungen Matthias Döpfners durch die „Zeit“ – „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tu sie es nicht. Eklig.“– tragen das Ihre dazu bei, die Debatte zu befeuern.[1] Der elitäre Hass des einen auf die Ostdeutschen ist der Verkaufserfolg des anderen – so funktioniert der Markt der Ressentiments zwischen Ost und West. Wir alle drehen uns dabei im Kreis – wieder einmal.

Oschmanns Streitschrift – oder treffender: seine Suada – widerspricht jenen in Politik und Medien, die meinen, die Herkunft und Sozialisation in Ost und West spielten für das heutige vereinte Deutschland keine Rolle mehr. Nichts von dem, was Oschmann schreibt, ist, wie er selbst sagt, neu. Erklärtermaßen will er aber zuspitzen, anschärfen. Seine agonale Argumentation vereinfacht grob und ergeht sich in blanker Polemik. Damit findet er sein Publikum im Osten des Landes, das uneingeschränkt und begeistert seiner Aussage folgt, die Ostdeutschen seien seit 30 Jahren Objekte westdeutscher Dominanz – nach dem altbekannten Motto: Endlich sagts mal einer. Das Buch führt die, welch Ironie, in Westdeutschland erstellte „Spiegel“-Bestsellerliste an, und hat seit Februar bereits mehrere Auflagen erreicht.

Oschmann sagt, er stelle die Situation Ostdeutschlands bewusst nicht differenziert dar, da alle Differenzierung an der Situation der Ostdeutschen als vom Westen dominiert nichts ändere. Den seit langem bekannten Befund, dass Ostdeutsche in allen Spitzenpositionen in Staat, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft unterrepräsentiert sind, führt er als Klage und Anlage fort: Ostdeutsche hätten in Führungspositionen, wo es um Macht und Einfluss geht, keine Chance. Oschmann referiert zudem die soziologische Binsenweisheit, dass Eliten ihre Nachrücker zumeist aus dem Milieu rekrutieren, dem sie selbst entstammen. Dass mit Ostdeutschen in Spitzenpositionen nicht automatisch etwas für die demokratische Kultur im Osten getan ist, zeigt jedoch die Einführung der Landeskinderregel in der sächsischen Polizei. Denn auch – oder insbesondere – mit sächsischen Führungskräften im Polizeiapparat hat sich an der allzu nachsichtigen Haltung gegenüber Neonazis und Reichsbürgern nichts geändert, und manch ein gebürtiger Sachse im Amte eines Landrates scheint einem Pakt mit den Wutbürgern nicht abgeneigt.

Oschmann blendet alles aus, was nicht in sein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema passt. Etwa, dass nicht wenige jener Ostdeutschen, die über Qualifikation für Führungspositionen verfügen, nicht bereit sind, sich dort zu engagieren, wo diese vergeben werden: in der zugegebenermaßen zähen Arbeit in Gremien von Parlamenten und Institutionen. Es ist kein Geheimnis, dass dort jene Netzwerke geknüpft werden, die berufliche Aufstiege konstituieren. So ließe sich fragen, aus welchem Grund der Autor, seines Zeichens ordentlicher Professor an der Universität Leipzig, nicht kandidierte, als vor zwei Jahren der Posten des Rektors der Universität neu zu vergeben war. Dies mag persönliche Gründe haben. Doch Dirk Oschmanns eigene Biografie, sein Weg zum Professor spricht gegen die von ihm behauptete Hermetik der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland, die er als eine Art westdeutsche Fremdherrschaft beschreibt. Der Plot des Buches ist simpel, aber im Kern durchaus nicht unwahr: Den Ostdeutschen fehlt es in der Tat im vereinigten Deutschland an historisch-kultureller Repräsentation; was „normal“ ist, ist westdeutsch, vom Bausparvertrag bis zum Schlager-Kanon im Radio. Alles andere ist dem historisch abgeschlossenen Sondersammelgebiet Ost zugeordnet – relevant nur für die Bewohner zwischen Elbe und Oder. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass in den frühen 1990er Jahren viele Ostdeutsche ihre kulturellen Prägungen durch die DDR nicht schnell genug abstreifen konnten, ostdeutsche Produkte links liegen ließen und der schnellen Währungsunion wie dem „Anschluss“ an die Bundesrepublik und nicht einer eigenen Verfassung bei den letzten Volkskammerwahlen im März 1990 eine Mehrheit beschafften.

Dass es keine publizistischen Orte ostdeutscher Selbstverständigung gäbe, thematisiert Oschmann wiederkehrend. Nicht zu Unrecht, aber doch arg verkürzt. Dass die vorhandenen publizistischen Arenen in Ostdeutschland, allen voran Teile des MDR, statt politischer Kontroversität lieber heimatverbundene Bilder eines „So schön ist unser Land“ und „So fleißig sind unsere Menschen“ in Szene setzen, weil die Zuschauerschaft genau dies goutiert, fehlt bei Oschmann ebenso wie die Tatsache, dass sich journalistische Versuche, neben ostdeutscher Binnenidentitätsschau selbstkritische Debatten um Vergangenheit und Gegenwart zu führen, in der Leser- bzw. Zuschauerschaft auf dem schmalen Grat zum Vorwurf der Nestbeschmutzung bewegen.

Der Autor beklagt, westdeutsch dominierte Medien und politische Akteure zeichneten fortwährend ein klischeehaftes Bild von dem Ostdeutschen als tumbem, tendenziell rechtsradikalem und rassistisch auftretendem Mann, dem es schlicht an Bildung und Zivilisation fehle. Dass diese Bilder in den 1990er und 2010er Jahren besonders oft gezeigt und zum beliebig reproduzierten Medienklischee über Ostdeutsche wurden, ist wiederum nicht falsch, jedoch erneut nur die halbe Wahrheit. Zu dieser gehört, auch die reale zeitgeschichtliche Ursache all dessen zu benennen, nämlich die rechtsextrem und rassistisch motivierte soziale Bewegung in Ostdeutschland und ihre Gewaltexzesse in den Jahren der Transformation.

Oschmann hingegen erklärt den ostdeutschen Mann der mittleren Generation zum eigentlichen Opfer gesellschaftlicher Diskriminierung und medialer Stigmatisierung. Das kommt bei einer Leserschaft, die nach der Wiedervereinigung Statusverluste zu beklagen hatte, natürlich gut an, blendet aber die Erfahrungen etwa von Menschen aus migrantischen Kontexten in Ostdeutschland komplett aus. Zugleich bestärkt Oschmann die ihm geneigte Leserschaft in ihren Ressentiments und ihrer Wahrnehmung, alle negativen Entwicklungen hätten ihre Ursache in der westdeutschen Dominanz.

Wie zahlreiche Autoren vor ihm konstatiert Oschmann, die Ostdeutschen seien im Zuge der Wiedervereinigung allerorten von Westdeutschen arglistig über den Tisch gezogen worden. Wie Konquistadoren hätten sich Westdeutsche aufgeführt. Solche Fälle gab es zweifellos. Dass es frühe Warnungen vor den ökonomischen, politischen, aber gerade auch sozialpsychologischen Folgen einer sehr schnellen Währungsunion mit anschließendem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gab, was aber die meisten Ostdeutschen nicht hören wollten, hat im Buch hingegen keinen Platz.

Ostdeutsche erscheinen bei Oschmann fast ausschließlich als Objekt westdeutscher Fremdbestimmung, nicht als handelnde politische Akteure, die den 1989/90 eingeschlagenen Weg der Vereinigung beider deutscher Staaten mehr als nur einmal in Wahlen bestätigten. Anders gesagt: Zu glauben, man könne die Vorteile des Westens in Anspruch nehmen, die Nachteile einer kapitalistisch organisierten Konkurrenzgesellschaft sich jedoch vom Leib halten, ist bestenfalls naiv.

Wenn in den Stadien von Dresden, Aue und Leipzig der Ruf: „Ost, Ost, Ostdeutschland“ erschallt, lohnt es sich, ganz genau hinzusehen, welcher Geist dort aus der Flasche gelassen werden soll. Im Lichte der Sichtweise Oschmanns erscheinen Björn Höcke und jene aus dem Westen im Osten wirkende AfD-Politiker als bloße Verführer der Ostdeutschen. Dass diese in den Osten in dem Wissen kamen, dort einen weiteren politischen Resonanzraum als im Westen zu finden, bleibt außen vor. Das Buch entlastet so die in Ostdeutschland bis in die Mitte der Gesellschaft wirkenden regressiv-reaktionären Einstellungen und Mentalitäten unter Verweis auf die westdeutsche Deutungshoheit davon, Verantwortung für deren politische Folgen und die politische Kultur des Landes zu übernehmen.

Obwohl Oschmann inhaltlich nichts Neues sagt, trifft sein Buch offenbar den Nerv der öffentlichen Debatte. Überregionale Zeitungen loben, er bringe frischen Wind in die festgefahrene Ost-West-Debatte. Besonders bitter muss dies jenen aufstoßen, die sich, wie beispielsweise Michael Lühmann, seit Jahren um einen Transfer sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in den öffentlichen Diskurs bemühen, um die alten Klischees aufzubrechen. Die Binnenpluralität Ostdeutschlands ist weit vielgestaltiger und komplexer, aber auch widersprüchlicher, als es Oschmanns Vereinfachungen nahelegen. Von ostdeutschem Eigensinn und emanzipatorischen Aufbrüchen im Osten ist im Buch nicht eine Silbe zu lesen.

Doch daran hat der Autor offensichtlich auch gar kein Interesse, schließlich verkauft sich sein Buch ja gerade deshalb so gut, weil es alle gängigen Klischees und Vorurteile so aufbereitet, dass sich all jene bestätigt sehen, die eines schon immer wussten – dass die bösen Wessis im Osten an allem schuld sind.

Wer stattdessen die alten Sackgassen der Ost-West-Debatten verlassen will, sollte Oschmanns Buch aus der Hand legen, die Aufregung über Döpfners Äußerungen schlichtweg ignorieren und sich der parallel verlaufenden Widersprüchlichkeit ostdeutscher Entwicklungen zuwenden.

Denn: „Den Osten“ gibt es schon lange nicht mehr. Zwischen der Situation in Metropolen wie Leipzig und Jena und jener in den sie umgebenden Klein- und Mittelstädten liegen Welten. Ja, sogar innerhalb dieser Städte verlaufen soziale und kulturelle Konfliktlinien schon lange nicht mehr nur entlang einer Ost-West-Sozialisation: Zuzug und Prosperität, aber auch steigende Mieten und hohe Lebenshaltungskosten fast auf Westniveau hier, nach wie vor Abwanderung und Phänomene soziokultureller Entleerung ländlicher Räume dort – manchmal nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

Diese Widersprüche prägen Ostdeutschland heute mindestens ebenso stark wie die unbestreitbar fortbestehende abwesende Augenhöhe gegenüber dem Westen. Statt einer erneuten diskursiven Wiederaufführung von Stücken wie Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ braucht es etwas Neues in diesem Theater: eine des Zuhörens bereite und dialogorientierte Aufarbeitung aller Aspekte der ostdeutschen Transformationsphase der Jahre 1990 bis 2010 etwa, die auch die schmerzhaften Fragen nicht ausklammert. Diese Debatten aber haben gerade erst begonnen.

[1] Das Zitat stammt aus Cathrin Gilbert und Holger Stark, Mathias Döpfner: „Aber das ist dennoch die einzige Chance, um den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden“, www.zeit.de, 13.4.2023.

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