Ausgabe April 2024

Lasst Julian Assange frei!

"Free Assange"-Schild auf einer Demo in Berlin, 25.11.2023 (IMAGO / Stefan Trappe)

Bild: "Free Assange"-Schild auf einer Demo in Berlin, 25.11.2023 (IMAGO / Stefan Trappe)

Der Prozess um die Auslieferung von Julian Assange steht vor einem entscheidenden Urteil. Die US-Ankläger und einige Kommentatoren behaupten, der Wikileaks-Gründer sei kein Journalist. Der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck sieht dagegen in der Anklage einen Angriff auf die Pressefreiheit und einen Akt westlicher Doppelmoral.

Schon zwölf lange Jahre wehrt sich Julian Assange gegen seine drohende Auslieferung und ihm steht der zermürbende Prozess ins Gesicht geschrieben. Bis zu 175 Jahre Haft drohen dem Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks in den USA. Die Justiz vieler verschiedener Länder hat bereits über Teilaspekte in dieser komplexen Sache entschieden. Zuletzt hat sich das Verfahren durch alle Instanzen der britischen Justiz hochgearbeitet.

Jetzt steht der High Court – nach der öffentlichen Verhandlung im Februar – kurz vor einem Urteil. Entscheidet das Gericht gegen Assange, kann ihn nur noch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof vor einer Auslieferung in die Vereinigten Staaten bewahren. Alle Wendungen und Details des Verfahrens sind selbst für Fachleute schwer zu durchschauen. Trotzdem: Im Kern geht es um einen Angriff auf die Pressefreiheit, auch wenn die Anklage und Gegner Assanges behaupten, der Australier sei gar kein Journalist.

Tatsächlich hat Wikileaks mit herkömmlichen journalistischen Gepflogenheiten gebrochen: Als die Plattform 2010 fast 100 000 streng vertrauliche Dokumente des US-Militärs veröffentlichte, traf sie weder eine thematische Vorauswahl noch schwärzte sie sensible Passagen. Assange und seine Kolleg:innen haben die Inhalte nicht kontextualisiert, sondern einfach einen großen Datensatz gegen ein Passwort frei zugänglich online gestellt. Deshalb aber Wikileaks und Assange den Schutz der Pressefreiheit und die Solidarität unter Journalist:innen zu entziehen, wäre fatal. Journalismus kennt keine Mindestanforderungen nach Güte oder Kontextualisierungsgrad: Journalismus ist Journalismus!

Man kann die Arbeitsweise von Wikileaks kritisieren, vielleicht sogar so weit gehen wie Stefan Kornelius von der „Süddeutschen Zeitung“, der ein differenzierteres „moralisches Urteil“ über den „Aktivisten“ Assange fordert, denn „die Publikation von einer Viertelmillion Datensätzen“ widerspreche „allen journalistischen Grundsätzen“.[1] Juristisch aber bleibt Wikileaks ein journalistisches Medium, hat Assange im Kern nichts anderes gemacht als viele andere investigative Journalist:innen: geheimes Material veröffentlicht, das ihm zugespielt wurde, und dabei mit vielen wichtigen Medien der Welt zusammengearbeitet.

Die USA werfen ihm deshalb Anstiftung zum Geheimnisverrat vor, obwohl er selbst gar kein Geheimnisträger war. Nicht er war der Whistleblower: Die Daten stammten von der bereits verurteilten und durch Ex-Präsident Obama wieder begnadigten, ehemaligen Angehörigen der US-Streitkräfte Chelsea Manning. Manning war – wie der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden – selbst Teil eines staatlichen Apparats, welcher besondere Geheimhaltungsvorschriften kennt. In solchen Fällen muss nach rechtlich vorhersehbaren Kriterien geprüft werden, ob jemand einen besonderen Whistleblower-Schutzstatus genießt, also ob der Geheimnisbruch gerechtfertigt war – denn nicht jeder, der ein Geheimnis verrät, ist ein Whistleblower aus Gewissensgründen. Doch all dies trifft auf Assange gar nicht zu. Er unterliegt als Journalist keinem besonderen Geheimhaltungsregime.

»Der ›espionage act‹ ist ein Meisterstück der politischen Strafjustiz.«

Auch die Behauptung, die Daten seien besonders sensibel gewesen und sie zu veröffentlichen, hätte großen Schaden angerichtet, ist nicht haltbar. Mit etwas Abstand vom stark polarisierten medialen Meinungskampf können wir heute nüchtern feststellen: Weder der Nutzen noch der Schaden der Daten war besonders hoch. Das Video „Collateral Damage“, welches – bisher ungeahndete – Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte im Irak zeigt und berechtigterweise für viel Aufsehen gesorgt hatte, stellt die Ausnahme dar. Viele andere Dokumente sind unvollständig und bedürften einer Bestätigung, um ihren Wahrheitsgehalt festzustellen. Zwar behauptete die Anklage immer wieder, Assange habe das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht, blieb aber bislang den Beweis schuldig, dass ein konkreter Schaden an Leib und Leben Dritter entstanden ist. Bei ihrem Vorwurf der Anstiftung zum Geheimnisverrat berufen sich die USA auf den espionage act, ein Anti-Spionagegesetz von 1917. Dieses ist nicht nur antiquiert, sondern stellt ein perfides Meisterstück der politischen Strafjustiz dar.

In Deutschland sind ähnlich drastische Staatsschutzgesetze in den 1960ern und 1970ern abgeschafft worden, da sie rechtsstaatlich höchst fragwürdig sind: Die Möglichkeiten der Verteidigung sind bei diesen Verfahren stark beschnitten. Bei wesentlichen Teilen der Verhandlung kann, wie im Verfahren gegen Chelsea Manning, die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Noch schwerer wiegt ein anderer Punkt: Normalerweise geht es in einem Strafprozess nicht nur um die Feststellung, ob jemand einen bestimmten Gesetzesverstoß begangen hat, sondern es muss auch festgestellt werden, aus welchen Gründen die Person gehandelt hat und ob möglicherweise Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe vorliegen. Genau diese Verteidigungsmöglichkeiten, die spätestens bei der Strafzumessung eine große Rolle spielen sollten, sind den Angeklagten durch dieses Gesetz genommen.

Aber nicht nur die Grundlage des gesamten Strafverfahrens gegen Julian Assange ist höchst problematisch. Auch bei den Ermittlungen kam es bereits zu zahlreichen Rechtsverletzungen: Gespräche von Assange mit Anwälten und Journalisten sollen in der Botschaft Ecuadors in London von der CIA abgehört worden sein[2], ein privater spanischer Sicherheitsdienst wurde auf ihn angesetzt und US-Politiker und Geheimdienstler bedrohten ihn unter anderem mit Mord. Auf der anderen Seite drohen bei einer Verurteilung mit bis zu 175 Jahren Gefängnis eine unverhältnismäßig hohe Strafe und unmenschliche Haftbedingungen: Gegen Assange sollen trotz seines labilen psychischen Zustands besonders harte Sicherheitsmaßnahmen, sogenannte „Sams“ (special administrative measures), angewendet werden, wie dies bereits bei vergleichbaren Fällen von Whistleblowern und mutmaßlichen Geheimnisträgern geschehen ist.

All das ist mit europäischen Rechtsprinzipien unvereinbar und wäre bereits Grund genug, die Auslieferung von Assange zu unterbinden. Hinzu kommt: Schon das Auslieferungsabkommen von Großbritannien und den USA sowie das britische Auslieferungsrecht verbieten – wie im Übrigen auch das deutsche Recht – eine Auslieferung bei politischen Straftaten. Und genau darum handelt es sich hier: um ein politisches Verfahren. Ein Verfahren, dem die beteiligten Regierungen längst ein Ende hätten setzen sollen – und können. Denn ein Auslieferungsverfahren besteht immer aus einem gerichtlichen und einem exekutiven Element. Großbritannien könnte ohne Angabe von Gründen eine Auslieferung an die USA verweigern. Dies ist in solchen Fällen gang und gäbe. Der häufig vorgebrachte Einwurf, Regierungen sollten sich nicht in gerichtliche Verfahren einmischen, ist hier völlig unangebracht. Auch die US-Regierung hätte bereits nach dem erstinstanzlichen Urteil 2021 das Verfahren ohne Gesichtsverlust stoppen können. Das britische Gericht hatte eine Auslieferung wegen der zu erwartenden Haftbedingungen und Suizidgefahr verboten. Doch man entschied sich dagegen.

Das Verfahren gegen Assange ist politisch skandalös und rechtsstaatlich mehr als fragwürdig. Es deshalb mit der Verfolgung Alexej Nawalnys auf eine Stufe zu stellen, führt jedoch in die Irre. Beim Tod des russischen Oppositionspolitikers handelt es sich um einen über Jahre orchestrierten Justizmord mit grausamen Haftbedingungen in einem Arbeitslager am Polarkreis. Dies muss und wird hoffentlich eines Tages geahndet werden. Die Haftbedingungen von Assange sind rechtswidrig, aber nicht mit denen Nawalnys in Russland gleichzusetzen.

»Ein Rechtsstaat hat sich im Konkreten zu beweisen und muss immer wieder neu verteidigt werden.«

Die Verfahren gegen Assange sind dagegen gerade deshalb so brandgefährlich, weil die USA und Großbritannien beanspruchen, demokratische Rechtsstaaten zu sein. Dass in diesem Fall ihre Prinzipien ausgehöhlt und Grundrechte verletzt werden, ist nicht nur für Assange persönlich unerträglich. Es droht auch die Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien. Deshalb muss hier die kritische Öffentlichkeit den Regierungen und der Justiz genau auf die Finger schauen. Und das geschieht nach einer gewissen Verzögerung nunmehr auch: Viele Medien in den USA, in Großbritannien oder in Deutschland berichten kritisch über das Verfahren. Diese Ausgangssituation gibt es in Russland gar nicht, die Pressefreiheit steht dort nicht mehr auf dem Spiel, sie ist nicht mehr vorhanden. Aber niemand sollte sich auf diesem Unterschied ausruhen. Der im Westen existierende Freiraum muss genutzt werden, denn die Behauptung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist keine Garantie für einen fairen Prozess. Ein Rechtsstaat muss sich immer wieder im Konkreten beweisen und muss immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden.

Ich habe argumentiert, dass es sich bei Assange um einen Journalisten handelt, der durch die Pressefreiheit besonders geschützt ist. Wird er ausgeliefert und womöglich verurteilt, ist diese ernsthaft erschüttert. Das sollte keine Journalistin und keinen Journalisten kaltlassen, egal wie sympathisch ihm oder ihr Julian Assange und sein journalistisches Werk ist. Die „New York Times“ und „Der Spiegel“ wissen, dass das Prinzip infrage steht, als Journalist:in Informationen zu empfangen und weiterzuverarbeiten – wenn auch in diesem Fall in unkonventionellen neuen Medien –, und haben sich genau deswegen gegen eine Auslieferung ausgesprochen.

In einem weiteren Punkt könnte das Verfahren zu einem gefährlichen Präzedenzfall werden: Assange ist Australier und hat nie in den USA gelebt. Auch wenn Beschuldigte grundsätzlich an Drittstaaten ausgeliefert werden können, stellt sich nicht nur in seinem Fall die Frage, wo genau die Taten begangen wurden und wer dadurch zu Schaden gekommen sein soll – und vor allem, wer weswegen ein Strafverfahren gegen ihn führen darf. Einen ähnlichen Fall gibt es nämlich zurzeit in Indien, wo eine schwedische Journalistin vom Iran angeklagt wird. Der Iran fordert Indien auf, die Journalistin auszuliefern. Großbritannien sollte dem Iran und anderen autoritären Regimen kein Argument liefern, indem es Assange an die USA ausliefert.

Bisher demonstrieren Großbritannien und die USA aber, dass sie mit zweierlei Maß messen: Während Whistleblower und kritische Journalist:innen aus autoritären Staaten für ihren Mut gefeiert werden, verfolgen sie einen Journalisten, der Beweise für Kriegsverbrechen aufgedeckt hat. Diese Art Doppelstandards untergraben die Glaubwürdigkeit der westlichen Staaten insgesamt, die ja sonst demokratische und völkerrechtliche Standards hochhalten.

Das Verfahren gegen Assange ist dabei nur ein Mosaikstein. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg und die anhaltend unmenschlichen Zustände in Guantánamo waren Dammbrüche und haben dem Völkerrecht großen Schaden zugefügt. Auch die Staaten der Europäischen Union verkennen beharrlich, dass eben nicht nur Russland und China verantwortlich für die Erosion des Völkerrechts sind. Stattdessen müssten Staaten, denen das Völkerrecht am Herzen liegt, auch in für sie schwierigen Situationen deutlich machen, wie wichtig Menschenrechte und Verfassungsprinzipien sind.

Deutschland hat sich in diesem Fall ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Zwar ist es nicht unmittelbar am Prozess beteiligt, aber die heutige Außenministerin Annalena Baerbock hatte noch im Wahlkampf die sofortige Freilassung von Assange gefordert, und die Ampelkoalition hat 2023 den Schutz von Whistleblowern verstärkt. Jetzt erklärte das grün geführte Außenministerium lediglich, es gäbe „keinen Zweifel daran, dass die britische Justiz rechtsstaatliche Prinzipien anwendet und die Menschenrechte achtet“.

Assange muss nun das Urteil des britischen High Courts abwarten. Wenn das Gericht keine weitere Berufung erlaubt, gibt es nur noch eine Instanz, die eine Auslieferung verhindern kann: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Assanges Anwaltsteam arbeitet bereits lange daran, hier ein Verfahren anzustrengen. Nach Artikel 39 der Verfahrensordnung zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die Großbritannien ratifiziert hat, kann ein Antragsteller vorläufige Maßnahmen fordern, um eine Auslieferung auszusetzen, wenn ihm anderenfalls ein ernsthafter und irreversibler Schaden drohen würde. Daran müsste sich die britische Regierung allerdings auch halten. Es bleibt zu hoffen, dass sie zumindest in diesem Fall dem katastrophalen bisherigen Prozess nicht noch eine weitere desaströse Note hinzufügt und die Autorität des höchsten europäischen Gerichts torpediert.

Julian Assange muss nach zwölf Jahren Freiheitsentzug und Haft endlich freigelassen werden. Und da die Regierungen offensichtlich nicht handeln, hat es der High Court jetzt in der Hand, das Ende des kafkaesken Prozesses für den 52-Jährigen einzuleiten und gleichzeitig ein Zeichen zur Verteidigung der Pressefreiheit zu setzen.

[1] Stefan Kornelius, Dieser Mann ist ein Gefährder, in: „Süddeutsche Zeitung“, 21.2.2024.

[2] Assanges Anwältinnen verklagen CIA, tagesschau.de, 16.8.2022.

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