Ausgabe August 2024

Kein Plan, kein Vertrauen: Europas Afrikapolitik

Emmanuel Macron und der senegalesische Präsident Bassirou Diomaye Faye bei einem Treffen im Elysee-Palast am 20.6.2024 (IMAGO / Le Pictorium)

Bild: Emmanuel Macron und der senegalesische Präsident Bassirou Diomaye Faye bei einem Treffen im Elysee-Palast am 20.6.2024 (IMAGO / Le Pictorium)

Der Krieg in Gaza hat das Bild Deutschlands in Nordafrika verändert. Vor deutschen Botschaften wird demonstriert, deutschen politischen Stiftungen von lokalen Nichtregierungsorganisationen die Zusammenarbeit aufgekündigt, und das Goethe-Institut in Tunesiens Hauptstadt Tunis wurde mit Hakenkreuz und Davidstern beschmiert. Die Wut auf Deutschland ist für deutsche Politiker:innen und Diplomat:innen neu, galt Berlin in Afrika doch bislang weithin als ehrlicher Makler.

Frankreich, Deutschlands wichtigster Partner in Afrika, dagegen erlebt solche Anfeindungen schon seit Jahren: In vielen afrikanischen Ländern greift seit längerem eine antifranzösische Stimmung um sich. Das hat damit zu tun, dass Frankreich auch nach der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonien tief in deren Politik und Wirtschaft verstrickt blieb – diese Länder wurden oft von Eliten regiert, die über engste Kontakte zur ehemaligen Kolonialmacht verfügten. Dieses enge Verhältnis, das beide Seiten über die Köpfe der meisten Menschen in den ehemaligen Kolonien hinweg und nicht selten zu deren Schaden pflegten, umreißt der Begriff Francafrique.[1]

Dennoch glauben noch immer viele Menschen in Frankreich, dass man in Afrika viel Gutes – etwa Krankenhäuser und Schulen – hinterlassen und es sich beim Kolonialismus um ein „Zivilisierungsprojekt“ gehandelt habe. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron glaubte noch im November 2020 an eine besondere Rolle seines Landes, als er in einem Interview mit der Zeitschrift „Jeune Afrique“ von einer Art „Liebesbeziehung“ zwischen Frankreich und Afrika sprach.[2] Politiker:innen, Diplomat:innen, Entwicklungshelfer:innen oder die immer noch große Zahl von Französ:innen, die Afrika zu ihrer Heimat gemacht haben, sind daher irritiert und beleidigt angesichts der in vielen afrikanischen Ländern erhobenen Forderung, Frankreich solle abhauen („France degage“).

Vor allem seit dem Antiterroreinsatz im westafrikanischen Mali gilt Frankreich vielen Menschen dort als teuflische Hypermacht.[3] Zwar wollte Frankreich, als französische Soldaten Anfang 2013 auf Wunsch der damaligen malischen Regierung und der Afrikanischen Union in Mali intervenierten, um die Stadt Timbuktu von den Kämpfern des sogenannten Islamischen Staats und den mit ihnen verbündeten Tuaregrebellen zu befreien, alles anders machen und frühere Fehler vermeiden. Doch schon bald begann sich die allgemeine Sicherheitslage in Mali und auch in den benachbarten Ländern Burkina Faso und Niger zu verschlechtern, denn die nationalen Armeen, oft schlecht ausgebildet und korrupt, begingen selbst Menschenrechtsverletzungen. Mehr und mehr Menschen stellten den Sinn des Einsatzes der ehemaligen Kolonialmacht zunehmend infrage und verdächtigten Frankreich, gekommen zu sein, um wieder einmal nur die eigenen Interessen zu verfolgen. Die Menschen waren sich sicher, dass französische Soldat:innen hinter der sich ausbreitenden Unsicherheit und Gewalt steckten und im Schatten des Chaos Bodenschätze wie Gold und Uran ausbeuteten. Diese Verschwörungserzählungen waren so mächtig geworden, dass es nicht mehr lange dauerte, bis Frankreichs Militär und Diplomat:innen von den neuen Militärregierungen im Sahel vom Hof gejagt wurden. Ein Militärregime nach dem anderen, erst in Mali, dann in Burkina Faso und zuletzt im Niger, verkündete den Rauswurf Frankreichs im Namen der Wiederherstellung der nationalen Souveränität – unter großem Jubel der Menschen auf den Straßen.

Auch im Senegal regiert seit April 2024 mit Ousmane Sonko ein Premierminister, der wenig Sympathien für Paris hegt und sich als traditionsbewusster Panafrikanist versteht.[4] In der senegalesischen Bevölkerung dominiert eine antifranzösische Stimmung, weil Frankreich den autokratisch regierenden Ex-Präsidenten Macky Sall lange Zeit unterstützte und der französische Konzern TotalEnergies im korrupten Gasgeschäft aktiv ist. Und doch ist die Lage hier anders als in den Nachbarstaaten: Denn im Senegal regiert keine Militärjunta, sondern eine frei gewählte Regierung. Zudem pflegen viele Menschen seit mehreren Generationen engste Beziehungen zu Frankreich, auch weil im Land eine große französische Minderheit lebt. Und schließlich muss jede Regierung in Dakar mit den einflussreichen Sufi-Bruderschaften kooperieren, die nicht für eine antifranzösische Haltung bekannt sind.

Die Kritiker:innen in Afrika, die den Europäer:innen vorwerfen, nur an Ausbeutung und Dominanz des Nachbarkontinents interessiert zu sein, irren sich, wenn sie annehmen, dass deren Afrikapolitik einen langfristigen Plan verfolge. Vielmehr lassen sich die Regierungen hierzulande wie auch in Frankreich von der Stimmungsmache ihrer jeweiligen Nationalist:innen vor sich hertreiben, die auf den heimischen Marktplätzen gegen Zuwanderer und Billigimporte hetzen und die Wiederherstellung von Kontrolle und Souveränität versprechen. Das wiegt in den Augen der Regierenden schwerer als jede vernunftgetriebene Afrikapolitik, die Nichtregierungsorganisationen in Deutschland und Frankreich seit Jahren anmahnen – etwa wenn sie beklagen, dass die wachsende Zahl an Geflüchteten mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen in Afrika durch Klimaerwärmung, Agrarexporte und Fischereipolitik zusammenhängt.

Doch dieses Einknicken zu Hause wird zunehmend zu einem Problem. Im Kontext der aktuellen Kriege und der Konfrontation mit Russland hat der Verlust an Vertrauen und Glaubwürdigkeit in Afrika für die Stellung und das Ansehen europäischer Regierungen in der Welt schwerwiegende Folgen. Schon heute verfängt die russische Propaganda auf dem afrikanischen Kontinent, wonach westliche Regierungen am Krieg in der Ukraine schuld seien und lediglich Frankreich für die Misere Afrikas die Verantwortung trage.

Und so hat der Rauswurf der Franzosen aus Mali, Burkina Faso und Niger einen lachenden Dritten hinterlassen: Russland. Das gilt vor allem für Mali, dessen Militärregime sich im Namen der nationalen Souveränität dem Kreml andient. Es ist nicht so, dass man hier jüngst besonders russlandfreundlich geworden wäre, auch wenn bei den antifranzösischen Demonstrationen viele Russlandflaggen und Porträts des russischen Präsidenten Putin zu sehen waren. Vielmehr ist die Militärjunta im Krieg mit Dschihadisten und Tuaregrebellen auf die Hilfe der Söldner der mittlerweile in Afrikakorps umbenannten Wagner-Gruppe angewiesen.

Etwas anders sieht die Lage in Nordafrika aus. Die Beziehungen zwischen den dortigen Regierungen und Paris sind – trotz aller wirtschaftlichen und politischen Probleme – weitgehend stabil geblieben. Daran haben auch der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen und die Unterstützung Israels durch Paris und Berlin nichts geändert. Auf der Ebene der Bevölkerung und vor allem der organisierten Zivilgesellschaft sieht das allerdings ganz anders aus. Die westliche Unterstützung der rechtsradikalen Regierung von Benjamin Netanjahu macht viele Menschen wütend, westliche Diskurse über Demokratie und Menschenrechte klingen in den Ohren besonders vieler junger Menschen wie hohle Phrasen.

Vielfach belastete Beziehungen

Gestört sind die Beziehungen der EU zu den Menschen in Nordafrika aber auch wegen der europäischen Migrationspolitik. Diese stößt immer mehr Menschen vor den Kopf, denn die Visaverfahren werden immer öfter zu einem demütigenden Prozess. Oft gelingt es Bewerber:innen nur mittels persönlicher Beziehungen, das begehrte Dokument zu erhalten. Für die nordafrikanischen Regierungen, wie jene in Tunis oder Kairo, ist die Abschottungspolitik der EU dagegen eine willkommene Gelegenheit, um Extraeinnahmen zu generieren. Zwar finden sich auch viele ihrer eigenen Staatsbürger:innen unter jenen, die in die Boote nach Europa steigen, aber ihre Politik der Migrationsabwehr konzentriert sich vor allem auf die Geflüchteten aus den Ländern südlich der Sahara. Algerien etwa greift viele dieser Menschen auf und bringt sie an die Grenze zum Niger, wo UN-Organisationen und Hilfswerke sie versorgen.

Doch auch wenn sich Bundeskanzler Olaf Scholz im „Spiegel“ für „Abschiebungen im großen Stil“ ausspricht: Anders als die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die in Tunesien aufgrund der anhaltenden Migration aus diesem Land zu einem Dauergast geworden ist und auf internationaler Ebene im Rahmen der G7 die Migrationsabwehr forciert, sind Berlin und Paris nicht die Haupttreiber dieser Abschottungspolitik. Hinter den Kulissen versucht die Bundesregierung, eine pragmatischere Politik zu verfolgen, die vor allem auch den Bedarf der eigenen Industrie nach Fachkräften berücksichtigt. So sollen mittels Migrationszentren der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) nicht länger nur die Rückkehrer:innen in Afrika integriert, sondern auch Arbeitskräfte für Deutschland angeworben werden, etwa in Ghana, Ägypten, Marokko und Tunesien. Und auch Paris schlägt in Afrika ganz neue Töne an. Voller Stolz berichtet man den Menschen dort von steigenden Visazahlen. Zu Hause hingegen beteuert man, getrieben von den erstarkenden nationalistischen Kräften, man tue alles, um Zuwanderer abzuschrecken.

Auch die EU-Agrar- und Fischereipolitik belastet die Beziehungen zwischen Afrika und Europa. Afrikanische und europäische NGOs beklagen seit Jahren die Überfischung afrikanischer Gewässer, die mit dazu beiträgt, dass viele Familien an den Küsten Afrikas keine Zukunft mehr haben. Die EU-Agrarexporte nach Afrika treiben viele Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut. Und dort, wo die europäische Politik endlich zu Handelserfolgen nordafrikanischer Bauern geführt hat, droht der Druck der Proteste europäischer Bauern die Errichtung neuer Handelsschranken zu befeuern.

Schließlich dürften die Unterlassungen der EU, die Klimakrise effektiv einzudämmen, die Beziehungen zwischen beiden Kontinenten bald noch stärker belasten. Noch sterben viele Menschen infolge von Hitze und Dürren auf unserem Nachbarkontinent leise, weil die Klimatoten kaum erfasst werden. Mit der zu erwartenden Zunahme von Extremwetterereignissen dürfte künftig aber die Frage nach der Verantwortung für die Erderhitzung öfter gestellt werden. Schon jetzt sind die Schäden immens: In Libyen etwa starben im September 2023 mindestens 11 000 Menschen durch sintflutartige Regenfälle, die eine ganze Stadt zerstörten.

Für einen afrikapolitischen Neustart

Wie aber müsste ein Neustart in der Afrikapolitik aussehen, der verloren gegangenes Vertrauen wiederherstellt und den Menschen auf beiden Kontinenten dienen kann? In Paris muss ein solcher Neustart mit der Einsicht beginnen, dass die alte Politik der Einflussnahme vorbei ist. Als erster Schritt sollte sich Paris aus der umstrittenen Gemeinschaftswährung Franc CFA in West- und Zentralafrika zurückziehen und damit die Bindung an den Euro beenden. Überkommen sind, zweitens, auch die gemeinsamen Gipfeltreffen des französischen Präsidenten mit den afrikanischen Staats- und Regierungschefs. Stattdessen sollten sich vielmehr die Zivilgesellschaften und die Jugend begegnen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war der Gipfel 2021 in Montpellier und die Gründung der Fondation de l’innovation pour la démocratie mit dem Historiker Achille Mbembe an der Spitze. Diese panafrikanische Non-Profit-Organisation will dazu beitragen, neue, in den Kulturen Afrikas verankerte Demokratiemodelle hervorzubringen.

Verabschieden muss sich Frankreich, drittens, von einer eigenständigen Sicherheitspolitik in Afrika. Die verbliebenen Militärbasen, Grund anhaltender Vorwürfe, sich so Einfluss auf dem Kontinent zu sichern, müssen geschlossen werden. Das gilt selbstverständlich auch für Deutschland, das nach dem Rauswurf Frankreichs aus dem Niger versucht, sein eigenes Militärlager im Land beizubehalten. Die Sorgen vor einer sich ausbreitenden Zone der Gewalt in Westafrika und daraus resultierenden Migrationsströmen in Richtung Europa sind sicher nicht unbegründet. Aber der Einsatz des französischen Militärs im Sahel hat gezeigt, dass es Frankreich und selbstverständlich auch Deutschland am Willen fehlt, in Afrika wirklich für Sicherheit zu sorgen. Angesichts des Ukrainekrieges fehlen dafür nun auch die militärischen Mittel. Die Zeit für eine gemeinsame deutsch-französische Sicherheitspolitik in Afrika ist angesichts dessen erst einmal vorbei.

Mehr tun müssen Paris und Berlin, viertens, bei der Aufarbeitung des Kolonialismus und der Rückgabe von afrikanischen Kulturgütern. Ein gemeinsames historisches Museum zum Kolonialismus mit Häusern in Paris und Berlin, Wechselausstellungen in diesen Museen sowie in afrikanischen Städten und eine gemeinsame Historikerkommission mit Kolleg:innen aus Afrika wären ein wichtiges Signal an die afrikanische Zivilgesellschaft und Diaspora, dass Paris und Berlin es mit dem Dialog ernst meinen. Fünftens muss es darum gehen, ein Jugendwerk mit Austauschprogrammen und einer deutsch-französischen Klimaschutz-Universität für Studierende aus Afrika in Strasbourg und seiner deutschen Nachbarstadt Kehl aufzubauen. Und schließlich sollte, sechstens, die institutionelle Zusammenarbeit beider diplomatischer Dienste, der Entwicklungsagenturen AFD und GIZ sowie der Kulturinstitute Institut Français und Goethe-Institut in Afrika vertieft werden. All diese Initiativen müssten in einem erweiterten deutsch-französischen Staatsvertrag verankert werden – Artikel 7 des Aachener Vertrages sieht eine Zusammenarbeit beider Länder mit Afrika bereits vor. Hinter all dem steht ein Ziel: verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Denn andernfalls droht sich der Kontinent noch weiter von Europa abzuwenden – in Richtung autokratischer Regime wie Russland oder China.

[1] Vgl. Claus Leggewie, Frankreich, verzieh Dich!, in: „Blätter“, 3/2024, S. 75-80.

[2] Exclusif – Emmanuel Macron: „Entre la France et l’Afrique, ce doit être une histoire d’amour“, jeuneafrique.com, 20.11.2020.

[3] Idrissa Rahmane, Du sentiment antifrançais au Sahel, in: „La Gazette Perpendiculaire“, rahmane.substack.com, 22.11.2021.

[4] Vgl. Claudia Ehing, Panafrikanisch und souverän: Ein neues Kapitel für den Senegal, in: „Blätter“, 6/2024, S. 29-32.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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