
Bild: Fußgänger:innen passieren ein großes Z-Symbol in Moskau, 21.12.2023 (IMAGO / ITAR-TASS / Mikhail Tereshchenko))
Je länger ein Krieg dauert, desto mehr wird über sein Ende gesprochen. Die Frage nach dem „Warum“ hingegen verblasst in der täglichen Nachrichtenflut aus Opferzahlen und Frontverläufen. Umso wichtiger ist es, dass zwei Jahre nachdem am 24. Februar 2022 die ersten Raketen auf Kiew niederregneten die Suche nach den Ursachen der russischen Invasion in der deutschen Öffentlichkeit in vollem Gange ist. Schließlich tobt nur zwei Flugstunden von Berlin einer der folgenreichsten Kriege nach 1945, der nach konservativen Schätzungen bereits jetzt deutlich mehr als 100 000 Tote gefordert haben dürfte.[1] Neben Journalist:innen mit ihrer standesgemäß schnellen Feder haben nun auch Sozialwissenchaftler:innen erste Monografien vorgelegt.
Der Blick auf diese Erklärungsangebote zeigt, dass es alles andere als schlecht um die deutsche Osteuropaexpertise steht. In Anbetracht der Abgesänge auf die Szene und jahrzehntelanger Kürzungen in der Forschung ist das ein erfreulicher Befund.[2] Die beiden Bücher der langjährigen Russlandkorrespondent:innen Michael Thumann („Zeit“) sowie Gesine Dornblüth und Thomas Franke (beide Deutschlandfunk) zeigen das tiefe Russlandwissen des deutschen Journalismus, der trotz Rückschlägen – man denke an die Fälle Gabriele Krone-Schmalz und Hubert Seipel – mit der internationalen Konkurrenz mithalten kann. Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik, eine der profiliertesten deutschen Thinktankerinnen, erinnert die Leser:innen an die unzähligen und letztendlich gescheiterten Versuche, politische Brücken zwischen Europa und Russland zu bauen. Katharina Bluhm von der Freien Universität Berlin hingegen rekonstruiert das konservative Projekt hinter dem Spätputinismus, das sich seit dem Zerfall der Sowjetunion gesellschaftlich formierte und sich spätestens seit 2012 immer mehr als offizieller Staatskonservatismus im Kreml eingenistet hat. Und der Sozialwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien geht es schließlich um eine nüchterne Bündelung aller Bedingungsfaktoren des Krieges.
Konsens herrscht bei ihnen allen in der Klassifizierung von Russlands Invasion als unilateralem Angriffskrieg. Was die Interventionen darüber hinaus teilen, ist ein drei Jahrzehnte umfassender Zeithorizont. Der militaristische Spätputinimus wird vor allem gegen die Schablone der 1990er Jahre gehalten – entweder als Fortsetzung der Probleme der Jelzin-Zeit oder als Gegenentwurf zum kapitalistisch-demokratischen Experiment nach dem Untergang der Sowjetunion, der, in Wladimir Putins Worten, „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Doch zeigen sich auch Dissonanzen zwischen den jeweiligen Perspektiven. Stellt man sie nebeneinander, ergibt sich ein nuanciertes Gesamtbild. Ist der Krieg das Werk Putins oder breiter gesellschaftlicher Trägergruppen? Geht es um eine neoimperiale Agenda oder diktatorischen Machterhalt? Und welche Rolle spielt das Ausland bei all dem? Soviel vorweg: Insbesondere zwei Kriegsursachen halten Lehren bereit, die über die mediale Fixierung auf das imperiale Gedankengut der Kremlelite und die Systemkonkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien hinausgehen: Gesellschaftliche Regression und die extreme Personalisierung von Herrschaft verweisen auf globale Trends, die im 21. Jahrhundert auch jenseits von Russland für eine Rückkehr des Militarismus sorgen.
Politische Verfallsgeschichten
Die Art der russischen Invasion vom Februar des Jahres 2022 lässt keinen Zweifel daran, dass der Schlüssel für den Kriegshergang weder im Pentagon noch im Brüsseler Nato-Hauptquartier und auch nicht im Hannoveraner Büro des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu finden ist, auch wenn diese Orte symbolisch für wichtige Faktoren stehen.[3] Wer die Kriegsentscheidung verstehen will, muss vor allem die politische Landschaft Russlands seit den 2000er Jahren unter die Lupe nehmen. Michael Thumanns „Revanche“[4] und Sabine Fischers „Die chauvinistische Bedrohung“[5] stehen stellvertretend für einen solchen politischen Internalismus. In den Mittelpunkt seiner Kriegsursachensuche rückt Thumann das Ressentiment einer Generation, für die der Wegfall des Großmachtstatus in Form der untergegangenen Sowjetunion das prägende Ereignis ihres Lebens ist. Zu ihr würden jene Teile der alten KGB-Kader gehören, die unter Boris Jelzin noch in der Verwaltung tätig waren, später aber im Schatten Putins einen Aufstieg zur Staatsspitze hinlegten. Zwar habe sich das Gefühl der Revanche erst seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre in Form konkreter aggressiver Außenpolitik niedergeschlagen, aber im Prinzip sei der post-imperiale Habitus dieser Generation seit den Jahren 1989 bis 1991 angelegt gewesen.[6] Thumann bilanziert treffend, dass das heutige Russland unter Putin paradoxerweise das Russland der Putschisten von 1991 ist, deren Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen, seinerzeit noch am Dagegenhalten von Jelzin scheiterte. Thumanns Analyse ist vor allem eine Warnung: Die Ukraine mag für Putins Großmachtfantasien wichtig sein, im Kern geht es ihm jedoch um Rache am Westen. Die Forschung zu den russischen Eliten beschreibt seit Mitte der 1990er Jahre den Aufstieg von Geheimdienstkadern von mittleren Verwaltungsrängen in staatliche Entscheidungspositionen nach dem Zerfall der Sowjetunion. Es handelte sich um eine Art ex negativo-Aufstieg, denn die Angehörigen der Sicherheitsdienste waren eine der wenigen sozialen Gruppen, die im Zuge des Systemumbruchs keine umfängliche Desintegration erfuhren.[7] Somit können zwar weder der Ruin der sowjetischen Wirtschaft und Verwaltung noch die Schocktherapie der 1990er Jahre Russlands Weg in den Krieg erklären. Beide Faktoren bereiteten jedoch ein soziales Feld, in dem sich vor allem die Netzwerke und Fähigkeiten von Geheimdienstlern bewährten.
Chauvinismus und Gewalt
Anders als Thumann mit seinem Psychogramm der Tätergeneration führt Sabine Fischer strukturelle Faktoren ins Feld. Sie bündelt die Kriegsursachen im Begriff des Chauvinismus, den sie in drei Makrofaktoren aufspaltet: Autoritarismus, Nationalismus und Sexismus. Im Lichte einer boomenden Autoritarismusforschung ist es wenig verwunderlich, dass der Wandel des russischen Regimes von einem elektoralen zu einem konsolidierten Autoritarismus auch in Fischers Buch großen Raum einnimmt.[8] Ähnlich verhält es sich mit dem Nationalismus, der in der Forschung spätestens seit dem „Krim-Konsens“ der Jahre 2014 bis 2018 als wichtige neue Legitimationsquelle des Regimes beschrieben wird.[9] Fischers eigentliche Leistung besteht darin, den Sexismus in die Kriegsursachendebatte einzubringen. Dieser sei ein Gewaltphänomen und durchziehe die russische Politik und Gesellschaft. Wie sie zeigt, wurde die Ukraine im offiziellen russischen Diskurs spätestens seit der Krim-Annexion feminisiert und abgewertet. Elizaveta Gaufman, auf deren Arbeit Fischer verweist, formuliert es so: Die Ukraine gleiche in der russischen Propaganda einer „leichten Frau, die von ihrem älteren Bruder gerettet werden muss“.[10] Im Zusammenspiel mit einem immer autokratischeren politischen System und gesteigertem Nationalismus habe dies zur hypermaskulinen Selbstüberschätzung in Form der Kriegsentscheidung geführt. Zusätzlich habe die durch extrem ungleiche Geschlechterverhältnisse omnipräsente Gewalt in der russischen Gesellschaft den Boden für die passive Akzeptanz des Soldatensterbens in der Ukraine bereitet.
Die dunkle Seite der Zivilgesellschaft
Wie ernst man die von Thumann und Fischer angedeuteten gesellschaftlichen Bedingungen des Krieges nehmen sollte, zeigen Gesine Dornblüth und Thomas Franke in „Jenseits von Putin“.[11] Ihr Buch wendet sich gegen das Aus-der-Glaskugel-Lesen dessen, was wohl in Putins Kopf vor sich geht, und zeigt ähnlich der revisionistischen Schule in der Geschichtswissenschaft,[12] dass die Stabilität des Putin-Regimes nicht nur auf Repression und der Verteilung von Rohstoffrenten gründet. Stattdessen genieße der Putinismus genuine Legitimität in breiten Bevölkerungsschichten.[13]
Am eindringlichsten sind Dornblüths und Frankes Schilderungen, wenn sie die zahlreichen Graswurzelinitiativen beschreiben, die das Regime seit den 2000ern regelrecht aufgefordert haben, nationalistischer und chauvinistischer zu werden und seinen einstmaligen Großmachtstatus auch militärisch gegen den Westen einzufordern. Das Erschreckende: Zu diesen Bottom-up-Initiativen zählen zahlreiche Jugendgruppen, deren Mitglieder zum Teil aus materiellen Gründen, oft aber auch aus ideologischer Überzeugung heraus handeln. Die Idee eines „russischen Volkes“, das seinen postsowjetischen Nachbarn überlegen und daher verfügungsberechtigt ist, offenbart sich somit nicht allein als Propagandamaterial von Spin-Doktoren des Kreml, sondern als tiefsitzende Überzeugung sozialer Trägergruppen des Putinismus. Auf einen Generationenwechsel, der das politische Pendel in Russland erneut in Richtung Demokratie ausschlagen lässt, sollte man im Westen also nicht hoffen.
Dass große Teile der russischen Bevölkerung eine für westliche Empfindungen erschreckende Passivität gegenüber dem Töten in der Ukraine zeigen, führen sowohl Dornblüth und Franke als auch Fischer auf eine jahrhundertelange Geschichte der Gewalterfahrung zurück. Nahezu jede russische Familie hat in ihrem Stammbaum Opfer der Stalinschen Säuberungen der 1930er Jahre. Gleiches gilt für die Millionen sowjetischen Toten des Zweiten Weltkriegs. Auch der sowjetische Krieg in Afghanistan (1979 bis 1989) sowie die beiden Tschetschenienkriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) haben sich auf die Gewaltverhältnisse der russischen Gesellschaft ausgewirkt.[14] Hinzu kommt die Brutalisierung des Alltags in den 1990er Jahren, die den biographischen Ausgangspunkt der „Generation Putin“ markiert. Dornblüths und Frankes dichte Beschreibungen, oft im Stile teilnehmender Beobachtungen, öffnen den Blick auf etwas, das die Forschung als „dunkle Seite der Zivilgesellschaft“ bezeichnet: Gewaltunternehmer, die sich pro-aktiv in den Dienst des Staates stellen, Mütter, die ihre Söhne einer patriotischen Erziehung unterzogen sehen wollen, und Jugendgruppen, die den von Fischer betonten Chauvinismus unter ihresgleichen kultivieren und salonfähig machen.[15] Eine Erklärung liefern die Politikwissenschaftler Sam Green und Graeme Robertson: Der russische Autoritarismus werde nicht ausschließlich „von oben“, also durch Repression und Verordnung hergestellt. Vielmehr „ko-konstruiere“ er sich durch das Zusammenspiel von politischen Eliten und einer Form der Zivilgesellschaft „von unten“, die westliche Beobachter:innen jahrzehntelang meinten ignorieren zu können. Viele in Politik und in der Osteuropaforschung waren von der Vorstellung einer dynamischen liberalen Zivilgesellschaft in Russland sowie einer unumkehrbaren Modernisierung der russischen Gesellschaft überzeugt. Schließlich erhoffte man sich von der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure die Demokratisierung und Befriedung Russlands. Doch das moderne russische Bürgertum, das bereit für Demokratie und Kapitalismus ist und lediglich vom Kreml-Autoritarismus an seiner Entfaltung gehindert wird, hat sich als marginaler Teil der russischen Gesellschaft herausgestellt. Tatsächlich ist die real existierende Zivilgesellschaft zumindest teilweise selbst Träger des Putinismus.
Putinismus als Projekt
Die Entstehung gesellschaftlicher Trägergruppen des Putinismus gehört sicherlich zu den folgenschwersten und gleichzeitig am stärksten unterschätzten Dynamiken im postsowjetischen Russland. Kriegsursachensuche muss jedoch über strukturelle gesellschaftliche und politische Faktoren hinausgehen. Denn Nationalismus, Sexismus und Autokratie, so ließe sich einwenden, gab es schließlich bereits in den 1990er und 2000er Jahren. Wie lässt sich also der Wandel von Putins Völkerfreundschaftsrede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 zum Vernichtungskrieg gegen die Ukraine erklären?
Die 500 Seiten starke Studie „Russland und der Westen“[16] der Berliner Soziologin Katharina Bluhm verspricht eine Antwort. Denn sie beleuchtet das politische Projekt hinter Putin und liefert damit wichtige Einblicke in die menschlichen Treiber der russischen Politik. Bluhm sieht Russland seit 2012 geprägt von einem Staatskonservatismus, der sich selbst als politisches Gegenprojekt zum neoliberalen, demokratischen und angeblich dekadenten Westen versteht. Das konservative Projekt richte sich sowohl gegen die Negativfolie der 1990er Jahre, die als vom Westen oktroyierte Chaosdekade im öffentlichen Bewusstsein verankert ist, als auch gegen die als Hybris empfundene Weltordnungspolitik der USA und ihrer europäischen Partner. Auch der russische Konservatismus, so Bluhm, habe tiefe gesellschaftliche Wurzeln. Er formierte sich in den 1990er Jahren, habe es unter Putin allerdings lange Zeit nur punktuell geschafft, die staatliche Politik zu beeinflussen. Von Putin wurde er neben den sogenannten Systemliberalen lange Zeit lediglich als eine von zwei Elitengruppen angesehen, die es auszubalancieren galt. Bluhm zufolge haben sich die Zeiten jedoch geändert: Der heutige Staatskonservatismus muss als umfassender Versuch der Bildung einer Gegenordnung begriffen werden: Staatskapitalismus gegen liberale Marktwirtschaft, traditionelle Familie gegen sexuelle Befreiung, Multi- statt Unipolarität. Somit erscheint Russlands Krieg gegen die Ukraine lediglich als Teil eines Feldzugs gegen die westliche Vorstellung von Moderne.
Bluhm zufolge stellt das Interregnum von Dmitri Medwedjew (2008 bis 2012), als Putin die russische Politik als Ministerpräsident „aus dem Hintergrund“ koordinierte, eine critical juncture dar. Denn in diese Phase falle nicht nur die globale Finanzkrise 2008/2009, die westliche Anerkennung des Kosovo sowie der in seinen Signalen widersprüchliche Bukarester Nato-Gipfel (beide 2008), sondern auch die Überdehnung des UN-Mandats 1973 im Falle Libyens durch den Westen im Jahr 2011. Der Tod Muammar al-Gaddafis habe bei Putin endgültig zur Überzeugung geführt, dass weder dem Westen noch seinen eigenen Leuten zu trauen sei. Denn Medwedjew enthielt sich bei der Libyen-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat – in den Augen Putins ein Versagen mit weitreichenden Konsequenzen. Somit macht Bluhms Studie deutlich, dass dem Marschbefehl von 2022 ein Wandel des Putinismus vorausging, der gesellschaftlich und politisch getrieben war, aber durch einen internationalen Kontext begünstigt und ermöglicht wurde.
Putins Radikalisierung
Den Versuch, die innerstaatlichen, regionalen und internationalen Ursachen des bereits seit 2014 tobenden Krieges zu ordnen, unternimmt der schmale Band „Der Krieg gegen die Ukraine“[17] von Gwendolyn Sasse. Politische und gesellschaftliche Dynamiken bilden hier allerdings nur zwei Teilfaktoren. Der Schlüssel für das Verständnis der russischen Politik liegt Sasse zufolge vor allem in der Entwicklung der Ukraine selbst, die sich im Zuge mehrerer, nicht immer linear verlaufender Revolutionszyklen sukzessive demokratisiert, geöffnet und verwestlicht habe.[18] Der sich schließlich mit der Wahl Wolodymyr Selenskyjs konsolidierende zivile, staatszentrierte und demokratische Nationalismus in der Ukraine sei von der Putin-Elite als existenzielle Bedrohung wahrgenommen worden. Die Außenpolitik des Westens, die die Sprengkraft dieser zwei divergierenden postsowjetischen Entwicklungspfade lange unterschätzt habe, ist für Sasse ein weiteres Puzzlestück im Kriegsursachenbündel. Denn die widersprüchliche, nicht notwendigerweise antirussische Politik von EU und USA – Offenheit der Nato bei gleichzeitiger Zurückhaltung – habe zu beidseitigen Fehlwahrnehmungen, aber vor allem zu einer steigenden Bedrohungsperzeption in Moskau und damit insgesamt zu einer immer prekärer werdenden Sicherheitslage im Osten Europas geführt.
Der entscheidende konzeptionelle Beitrag Sasses zur deutschen Kriegsursachendebatte dürfte jedoch eine wichtige Unterscheidung sein, die anderen Veröffentlichungen abgeht – und zwar zwischen langfristigen und ermöglichenden Ursachen auf der einen und kurzfristigen und „produktiven“ Dynamiken auf der anderen Seite.[19] So dürfe nicht unterschätzt werden, dass der bereits seit 2014 schwelende Krieg trotz der beiden Minsker Vereinbarungen nie zum Stillstand gekommen sei (und bis 2022 14 000 Tote forderte), sondern sich stattdessen selbst gespeist habe. Auch die Mikroprozesse im Kreml selbst, auf die die Forschung trotz eines medialen Revivals der Kremlinologie nur hochgradig begrenzten empirischen Zugriff hat, müsse man in die Genese der Invasion von Februar 2022 einbeziehen. Putin selbst habe einen Radikalisierungsprozess vollzogen, zu der seine extreme Covid-Selbstisolation und das Studium völkisch-nationalistischer Philosophen ebenso beigetragen haben mögen wie seine Wahrnehmung der Massenproteste in Belarus im Jahr 2020 und seine diplomatischen Interaktionen der vergangenen Jahre mit westlichen Regierungschefs.[20]
Die Bedingung dafür, dass die Radikalisierung eines Mannes in einen verheerenden Krieg münden konnte, findet trotz ihrer Offensichtlichkeit immer noch zu wenig Beachtung: Die extreme Personalisierung des Regimes, die spätestens seit 2012 ungekannte Ausmaße annahm, ist die conditio sine qua non der Kriegsentscheidung von 2022.[21] Allzu oft verschwimmt sie hinter der Chiffre von der Verhärtung des russischen Autoritarismus und der damit einhergehenden Repressionen. Doch erst die Herauslösung Putins aus einem auch in Autokratien üblichen breiten Netz von Interessen und Veto-Playern ermöglichte den für Außenstehende spektakulären Umstand, dass 120 000 Soldaten ohne vorherige Kenntnis großer Teile der Elite, der Gesellschaft und auch der Armee selbst in den Krieg geschickt werden konnten.
Globale Regression und neue Kriegsanfälligkeit
Es sind vor allem die extreme Zentralisierung, Informalisierung und Personalisierung von Herrschaft sowie die Entstehung genuiner Trägergruppen des Putinismus, die den Krieg und dessen Fortsetzung ermöglichen und die große Fassungslosigkeit westlicher Beobachter:innen über die Kriegsentscheidung erklären. Beide Faktoren sind dabei nichts spezifisch Russisches. Aus dem russischen Fall sollte vielmehr die Lehre gezogen werden, dass es sich beim Zusammenspiel von Regime-Personalisierung und gesellschaftlicher Regression um eine der Tiefendynamiken handelt, die die neue Kriegsanfälligkeit des 21. Jahrhunderts erklärt. Erdog˘ans Türkei und Xis China sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie wenig wir über den tatsächlichen Grad der Vertikalisierung politischer Macht in zwei geopolitischen und militärischen Schlüsselstaaten wissen. Gleichzeitig unterschätzen die demokratischen Öffentlichkeiten des Westens, wie viel Legitimität die – in den Worten Fischers – chauvinistische Innen- und Außenpolitik dieser Staaten in den Gesellschaften tatsächlich genießt. Im Falle einer Wiederwahl Donald Trumps droht der Nexus aus Personenkult und tiefen sozialen Verwerfungen auch die westliche Politik zu erschüttern.[22] Während in der Forschung in Anbetracht galoppierender Ungleichheit und populistischer Endzeitpolitik bereits seit den 1990er Jahren auf die zerstörerische Welle patrimonialer, also hochgradig personalisierter Herrschaftsverhältnisse hingewiesen wird,[23] scheint Politiker:innen in liberalen Demokratien das nötige Gegengift zu fehlen.
Die Vernachlässigung einer vergleichenden und globalen Perspektive markiert dann auch eine Schwäche der Kriegsursachensuche in der deutschen Öffentlichkeit. Dort, wo der internationale Kontext in die Schilderung der Kriegsursachen einbezogen wird, liegt der Fokus – für die deutschsprachige Öffentlichkeit wenig überraschend – auf Fragen der wahlweise zu schnellen oder zu langsamen Nato-Osterweiterung oder der korrupten Machenschaften Gerhard Schröders. Wenig Raum wird hingegen den internationalen, transnationalen und globalen Strukturen und Entwicklungen eingeräumt, die Russlands Regression in den Krieg ermöglichten. Hierzu gehören etwa die Stabilisierung der russischen Rentenökonomie durch den anhaltenden Import fossiler Energieträger oder die jahrzehntelange Offenheit westlicher Jurisdiktionen für russisches Geld. Aber auch die spätkapitalistischen Verwerfungen westlicher Gesellschaften, verbunden mit einem neuen, medial befeuerten Personenkult, sind hier zu nennen. Die Wilders, Le Pens und Weidels Europas stehen schon bereit, ihren Wähler:innen einen Kernwunsch zu erfüllen – doch bitte diesen lästigen Krieg zu beenden und die Pipelines wieder für billiges Gas aus Russland zu öffnen.
[1] Helene Cooper et al., Troop Deaths and Injuries in Ukraine War Near 500,000, U.S. Officials Say, in: „The New York Times“, 18.8.2023.
[2] Gerhard Simon, Das Versagen der Osteuropaforschung, ukraineverstehen.de, 18.4.2022.
[3] Reinhard Bingener und Markus Wehner, Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, München 2023.
[4] Michael Thumann, Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, München 2023.
[5] Sabine Fischer, Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten, Berlin 2023.
[6] Es ist nichts Ungewöhnliches, dass imperiale Denk- und Handlungsmuster auch in den Nachfolgestaaten Wirkung entfalten. Vgl. Klaus Schlichte und Stephan Stetter (Hg.), The Historicity of International Politics. Imperialism and the Presence of the Past, Cambridge 2023.
[7] Dieser beschleunigte Aufstieg innerhalb des Systems unterscheidet sich von zwei anderen Typen des Elitenwandels, der Reproduktion und der Zirkulation. Siehe Venelin I. Ganev, The Rise Of Vladimir Putin. Elite Politics in Early Postcommunism, in: „Demokratizatsiya“, 4/2016, S. 491-512.
[8] Eine Übersicht bietet Stanislav Klimovich, From failed democratization to the war against Ukraine. What happened to Russian institutions under Putin?, in: „Zeitschrift für Politikwissenschaft“, 1/2023, S. 103-120.
[9] Pål Kolstø und Helge Blakkisrud (Hg.), Russia Before and After Crimea. Nationalism and Identity. Edinburgh 2018.
[10] Elizaveta Gaufman, Damsels in distress. Fragile masculinity in digital war, in: „Media, War & Conflict“, 4/2023, S. 516-533.
[11] Gesine Dornblüth und Thomas Franke, Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2023.
[12] Sheila Fitzpatrick, Revisionism in Soviet History, in: „History and Theory“, 4/2007, S. 77-91.
[13] Johannes Gerschewski, The three pillars of stability. Legitimation, repression, and co-optation in autocratic regimes, in: „Democratization”, 1/2013, S. 13-38.
[14] Die Rückwirkungen des Afghanistankriegs auf Russland beschreibt Swetlana Alexijewitsch, Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen, Berlin 2016.
[15] Petr Kopecky (Hg.), Uncivil Society? Contentious Politics in Post-Communist Europe, Hoboken 2005.
[16] Katharina Bluhm, Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, Berlin 2023.
[17] Gwendolyn Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen, München 2022.
[18] Henry E. Hale, Regime Cycles. Democracy, Autocracy, and Revolution in Post-Soviet Eurasia, in: „World Politics“, 1/2005, S. 133-165. Die Auswirkungen des Krieges auf Regime-Zyklen in der Ukraine und Russland beschreiben Bálint Madlovics und Bálint Magyar, Ukrainian Regime Cycles and the Russian Invasion, CEU Democracy Institute Working Papers 13/2023.
[19] Vgl. Klaus Schlichte, 3 x Ukraine. Zur Politischen Soziologie eines Angriffskriegs, in: „Leviathan“, 3/2022, S. 413-438.
[20] Mikhail Zygar, How Vladimir Putin Lost Interest in the Present, in: „The New York Times“, 10.3.2022.
[21] Fabian Burkhardt, Das System Putin. Regimepersonalisierung in Russland und der Krieg gegen die Ukraine, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 28-29/2022, S. 35-41.
[22] Vgl. Robert Kagan, Amerika vor der Trump-Diktatur, in: „Blätter“, 1/2024, S. 43-56.
[23] Robin Theobald, Globalization and the Resurgence of the Patrimonial State, in: „International Review of Administrative Sciences“, 3/1995, S. 423-432; Stephen E. Hanson und Jeffrey S. Kopstein, Understanding the Global Patrimonial Wave, in: „Perspectives on Politics“, 1/2022, S. 237-249.