Ausgabe Juni 2024

»Go west«, trotz alledem

Das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas

Der Philosoph und »Blätter«-Mitherausgeber Jürgen Habermas, 23.10.2016 (IMAGO / epd)

Bild: Der Philosoph und »Blätter«-Mitherausgeber Jürgen Habermas, 23.10.2016 (IMAGO / epd)

Über Jahrzehnte gab es in Europa – bei allen Krisen und Konflikten – ein West und Ost verbindendes singuläres Jubiläum: den Sieg über Nazi-Deutschland, den Tag der Befreiung des Kontinents vom Faschismus.[1] Unterschieden hat sich bloß das konkrete Datum: Da in Moskau schon der neue Tag angebrochen war, als Vertreter der Wehrmacht am 8. Mai 1945 spätabends in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde unterschrieben, begeht Russland bis heute den 9. Mai als Feiertag, genau wie vorher die Sowjetunion.

Doch seit diesem Jahr gehört auch die Gemeinsamkeit des Erinnerns in Europa endgültig der Vergangenheit an. Während Russland den 9. Mai als „Tag des Sieges“ mit martialischer Parade und Ausstellung der jüngsten Beutepanzer beging, verlegte die überfallene Ukraine ihren Feiertag auf den 8. Mai. Bereits 2016 war dieses Datum dort zum „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“ erklärt worden, zur Erinnerung an die Verbrechen des Nazi-Regimes, aber auch die der Kommunisten, während der 9. Mai weiter als „Tag des Sieges über den Nationalsozialismus“ galt. Seit diesem Jahr steht nun der 8. Mai für beide Gedenkanlässe, in ganz bewusster Absetzung von Russland. Der 9. Mai dagegen firmiert in der Ukraine nun als „Europatag“, in bewusster Angleichung mit der Europäische Union.[2]

Deutlicher könnte die neue, nun auch erinnerungspolitische Spaltung zwischen Ost und West kaum zum Ausdruck kommen. Gleichzeitig rückt damit ein anderes Datum weit stärker in den Fokus. Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, spätestens seit der historischen Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai als den „Tag der Befreiung“ zu denken, war – vom Beginn her gedacht – ein anderer Tag nicht weniger wichtig, nämlich der sogenannte „D-Day“, auch als der längste Tag bekannt. Als vor 80 Jahren, im Morgengrauen des 6. Juni 1944, über 5000 Schiffe an der Küste der Normandie anlandeten, war dies nicht nur die größte militärische Aktion der Geschichte, sondern zugleich der eigentliche Schicksalstag vor allem West-Europas und der zukünftigen Bundesrepublik. Denn dieser Tag besiegelte die Entscheidung der Vereinigten Staaten für ein Engagement in der alten Welt, also auf ebenjenem Kontinent, den Jahrzehnte zuvor die späteren US-Bürger wegen ihres Elends, auch infolge der vielen Kriege, verlassen hatten. 4400 alliierte Soldaten ließen allein an diesem einen Tag ihr Leben. Ohne diese, von der Roosevelt-Regierung politisch hart erkämpfte Bereitschaft zum „Go east“, zum „Zurück nach Europa“, hätte es die Verwestlichung der Bundesrepublik nie gegeben – und damit auch nicht den Philosophen Jürgen Habermas, wie die Welt ihn heute kennt, als ebenjenes „Produkt der Reeducation“, als das er seine eigene politische Grundprägung selbst bezeichnet hat.[3] Am Anfang war Amerika: Für Habermas, der den Einzug der US-amerikanischen Soldaten in seiner Heimatstadt Gummersbach als „eine Befreiung, historisch und persönlich,“ erlebte, war es die demokratische Urerfahrung, lebensweltlich wie politisch, weshalb der Vorwurf des Antiamerikanismus[4] gegen ihn stets absurd war. „Go west“ bedeutete für Habermas: Erst kam das Erlebnis Amerikas, zu Beginn in der Heimat, später auch an zahlreichen US-Universitäten, und erst dann, auch als Korrektiv irregeleiteter Vereinigter Staaten, das Engagement für Europa, aber beides stets auf Basis seiner Grundprämisse: Kommunikation und Verständigung als universalistisches, demokratisches Antidot gegen das nationalistische Freund-Feind-Denken.

Der gespaltene Westen und ...

Wie außerordentlich der damalige US-Einsatz mit Leib und Leben für Europa war, erleben wir dieser Tage. Über Monate verweigerten sich die MAGA-Republikaner jeder weiteren Unterstützung der Ukraine. Am Ende gelang es dem Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, dem Republikaner Mike Johnson, nur mit einem entscheidenden Argument, die Mehrheit zu erlangen: „Um es unverblümt zu sagen“, so Johnson, „ich schicke lieber Patronen in die Ukraine als amerikanische Soldaten“.[5] Das zeigt, wie weit entfernt die Vereinigten Staaten heute von einem vergleichbaren Einsatz wie 1945 sind. Aber mehr noch: Mit einer möglichen zweiten Präsidentschaft Donald Trumps steht und fällt die Solidarität mit Europa in Gänze, könnten die Vereinigten Staaten zu ihrem isolationistischen Kurs zurückkehren. Trump schickt sich an, laut seiner eigenen Ankündigung den Ukrainekrieg binnen eines Tages zu beenden, das heißt die Ukraine faktisch aufzugeben und das US-Engagement in Europa gleich mit, inklusive eines möglichen Austritts aus der Nato.

Damit steht schon heute fest: Dieses Jahr werden wir in seiner möglichen weltgeschichtlichen Bedeutung erst von seinem Ende her verstehen. Der 5. November 2024 könnte zum D-Day des 21. Jahrhunderts werden und damit den Vorgänger des 20. Jahrhunderts konterkarieren.

Umso mehr gewinnt der Zusammenhalt Europas existenzielle Bedeutung. Aber fatalerweise befindet sich die „alte Welt“ in dramatisch schlechter Verfassung. Zwanzig Jahre ist es her, dass am 1. Mai 2004 zehn neue Länder der Europäischen Union beitraten. Doch die einstigen Erwartungen auf ein starkes Zusammenwachsen sind allenthalben Katzenjammer gewichen.

... das gespaltene Europa

Schon vor sechs Jahren analysierte Jürgen Habermas einen „trumpistischen Zerfall, in dem sich heute selbst der Kern Europas befindet“.[6] Dabei hatte er selbst bereits 2003 ebenjenes „Kerneuropa“ gefordert, als Korrektiv eines nach 9/11 fehlgeleiteten Amerikas. „Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern“, lautete sein Verdikt nach dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg, der die Spaltung des Westens zur Folge hatte.[7] Gegen den „hegemonialen Unilateralismus“ der neokonservativen Bush-Regierung forderte Habermas ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, dessen Kern die Vertiefung der EU in universalistischer Absicht vorantreiben solle.

Heute wäre es – angesichts einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft – noch um vieles mehr geboten, mit jener „symbolkräftigen und mentalitätsbildenden“ gemeinsamen Außenpolitik „Ernst zu machen“, die Habermas damals verlangt hatte.[8] Doch wie unendlich weit sind wir davon entfernt. „Es müsste von Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten ausgehen. Als Nächste müssten Italien und Spanien umworben werden“, so Habermas 2003. Heute regiert in Italien mit Giorgia Meloni eine Postfaschistin; in den Niederlanden ist mit Geert Wilders ein Rechtsradikaler die stärkste Kraft der neuen Koalition; und in Frankreich kann sich Marine Le Pen echte Chancen ausrechnen, 2027 die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Wenig ist trotz – oder vielleicht sogar gerade wegen – der Katastrophe in der Ukraine davon zu sehen, dass die Bevölkerungen in den einzelnen EU-Ländern „ihre nationalen Identitäten gewissermaßen ‚aufstocken‘ und um eine europäische Dimension erweitern“, um so ein „Modell für Formen des Regierens ‚jenseits des Nationalstaates‘“ zu kreieren.[9] Anstelle des Habermas-Modells erleben wir allerorten ein nationalistisches Rollback, manchmal auch unter dem Label der Verteidigung des angeblich wahren Europas. So twittert Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gerne unter dem Hashtag MEGA – Make Europe Great Again – zur Verteidigung der wahren europäischen Werte: „Die Nation ist die große Erfindung des Westens. Sie ist das Herz der freien Welt.“[10] Deutlicher könnte der Unterschied gegenüber der Habermasschen Vision eines postnationalen, die alten Ressentiments überwindenden Europas nicht sein.

Das Dilemma des Westens

Letztlich steht heute mit der Verteidigung der Ukraine auch die Haltung gegenüber der Idee des Westens auf dem Prüfstand. „My country first“ entpuppt sich, mit zunehmender geographischer Entfernung vom Kriegsschauplatz, als die vorherrschende Überzeugung, in Europa, aber auch den USA. Mit Trumps Comeback könnten die beiden fundamentalen Koordinaten der Post-Kalte-Kriegszeit hinfällig werden: die Westbindung als verbindliche Freundschaft zwischen den USA und Europa, und Frieden auf dem Kontinent, insbesondere im Verhältnis zu Russland. Damit zeigt sich hier ein fundamentales Dilemma: Einerseits geht es bei der Verteidigung der Ukraine um die Verteidigung der regelbasierten Ordnung, die nach der Zeitenwende von 1989 das eigentliche universalistische Versprechen war. Deswegen ist die Unterstützung der Ukraine unabdingbar. Andererseits ist gerade der Frieden die Voraussetzung dafür, dass die globalen Probleme, von der Klimakrise über die zunehmende Verelendung bis zur weltweiten Migration, gelöst werden können. Dieses Dilemma, das Habermas mit seinen Interventionen[11] in die Debatte um den Ukrainekrieg zum Ausdruck brachte, ist das Dilemma des Westens, verstanden als universalistische Idee, und speziell Europas.

Einerseits ist es erforderlich, den Krieg zum Zwecke der Verteidigung wieder zu denken, ja sogar ihn wieder zu „lernen“, nach der erfolgreichen Pazifizierung speziell Deutschlands nach 1945. Insofern trifft die alte Lehre zu: „Si vis pacem para bellum“, wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor, damit du nicht wehrlos bist. Das ist es, was Boris Pistorius mit seiner Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ meint. Andererseits bleibt es die zentrale Aufgabe, über den aktuellen Kriegszustand hinaus den Frieden zu denken, getreu der Lehre der bundesrepublikanischen Friedensbewegung: „Si vis pacem para pacem“, wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. Denn nicht Konflikt, sondern Verständigung ist die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, mehr als je zuvor. In Zeiten nur global zu lösendeer Herausforderungen ist die Orientierung auf eine Weltinnenpolitik notwendiger denn je. Und Frieden ist die Voraussetzung für all das. Das aber bedeutet: Ohne Kommunikation und Kooperation ist alles andere nichts. Auf diese Weise wird der vermeintliche Idealist Habermas zum eigentlichen Realisten. „Es wäre daher kein Verrat an der Ukraine, sondern eine klare normative Forderung, wenn die Vereinigten Staaten und Europa darauf bestehen würden, alle Wege eines Waffenstillstands und einen gesichtswahrenden Kompromiss für beide Seiten auszuloten“, stellte er im Interview mit der englischen Literaturzeitschrift „Granta“ fest.[12] Allerdings muss dabei auch festgehalten werden, dass Wladimir Putin angesichts der derzeitigen Unterlegenheit der Ukraine keinerlei Interesse an einem Friedensschluss hat, sondern auf den Ausgang der US-Wahl am 5. November spekuliert, inklusive eines möglichen Truppenrückzugs unter Trump. Es kommt daher heute darauf an, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen: aus Einsicht in die Notwendigkeit den Krieg zu denken, aber immer auch die Möglichkeit des Friedens. (Das zeigt die fatale Lage in der Ukraine, aber mehr noch die wohl noch ausweglosere in Palästina.) Es bleibt entscheidend, dass die Ukraine auch militärisch weiter unterstützt wird, was auch von Habermas im Gegensatz zur AfD und zu Wagenknechts neuem Bündnis nicht in Frage gestellt wird. Zugleich ist aber auch rhetorische Abrüstung vonnöten. So unredlich es ist, eher geopolitisch argumentierenden Analytikern pauschal Bellizismus vorzuwerfen, so falsch ist es, wenn ein kluger Stratege aus der realistischen Schule wie Carlo Masala jetzt den Spieß umdreht und die Forderung nach einem Einfrieren des Krieges kurzerhand zur Kriegstreiberei erklärt,[13] von Abfälligkeiten gegenüber angeblichen „Lumpenpazifisten“ aus anderem Munde ganz zu schweigen.

Von Kant über Brandt zu Habermas

Vollends verheerend wäre es hingegen, wenn die erforderliche Kriegstüchtigkeit im Sinne der Verteidigungsfähigkeit auf eine Normalisierung des Krieges hinausliefe. Die Gefahr liegt in einer Essentialisierung des Krieges, wie sie in Teilen der „realistischen Schule“ angelegt ist, die durchaus affirmativ von einem anarchischen Zustand der Außenpolitik ausgehen. Der Triumphalismus der Geostrategen, der heimlichen oder offenen Schmittianer mit ihrer Apotheose des Freund-Feind-Denkens, geht aber an der eigentlichen Herausforderung der Gegenwart vorbei. Denn mehr noch als zu Zeiten des Kalten Krieges verlangen die eigentlichen Jahrhundertaufgaben, Klimakrise, globale Ungleichheit und Migration, nach friedlicher Koexistenz. Richtig bleibt daher: Wir dürfen uns mit dem Kriegszustand nicht arrangieren. Wenn Krieg (gerade auch unter ökologischen Vorzeichen) die „ultima irratio“ ist, wie es Willy Brandt in seiner Dankesrede für den Friedensnobelpreises 1971 in Oslo auf den Punkt brachte, dann darf es keine Gewöhnung an diesen Zustand geben, gilt es immer auch den Austritt aus dieser maximalen Unmündigkeit zu denken. Frieden als Zielsetzung bleibt die ultima ratio.

Es wäre daher ein kardinaler Fehler, die Lehre der alten Bundesrepublik zu vergessen bzw. zu verdrängen. „Nicht der Krieg ist der Ernstfall, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr“,[14] lautete – aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, aber auch des Kalten Krieges – die Devise der Bonner Republik. Ganz ähnlich heißt es bei Dolf Sternberger, dem Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft: „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen. Oder, anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin.“[15] Ziel dieses Projekts der Versöhnung war die „Entfeindung“ zum Teil jahrhundertelanger Gegner – zuerst gen Westen, danach gen Osten. Was Adenauer gegenüber Charles de Gaulle in die Wege leitete, die Aussöhnung der Bundesrepublik mit dem Erzfeind Frankreich in der Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962, vollzog Willy Brandt knapp zehn Jahre später in Polen, mit seinem legendären Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970.

Keine Entspannungspolitik ohne den beiderseitigen Willen

Allerdings setzt eine derartige Friedens- und Entspannungspolitik den Willen zur Entspannung auf beiden Seiten voraus. Putin, aber auch Xi Jinping, haben dem vorerst eine Absage erteilt, wie auch ihre Ablehnung der kommenden Friedenskonferenz in der Schweiz zeigt. Ihr Feind ist erklärtermaßen der gesamte „kollektive Westen“, insbesondere die USA, die in Europa nichts verloren hätten. Solange aber der Wille zur friedlichen Koexistenz nicht gegeben ist, bleibt umso mehr zweierlei erforderlich: abschreckende Wehrhaftigkeit und die Bereitschaft zur Kommunikation. Das galt schon im Kalten Krieg: Trotz – oder gerade wegen – ihrer tausendfachen atomaren Overkill-Kapazitäten hielten die antagonistischen Akteure nach dem Beinahe-GAU der Kubakrise Kontakt. Nur ihre (wortlose) Kommunikation sicherte letztlich den Frieden unter dem stets hoch prekären atomaren „Gleichgewicht des Schreckens“, das wie ein Damoklesschwert über Mitteleuropa hing.

Heute – in Zeiten einer neuen Omnipräsenz des Krieges, nicht nur in der Ukraine oder in Nahost, sondern auch im Jemen, Sudan und an vielen anderen Orten der Welt – reicht es offensichtlich nicht aus, sich auf das „Nie wieder Krieg“ zu berufen, sondern bleibt es die wichtigste Aufgabe, Pazifismus im Wortsinn – als „pacem facere“, Frieden machen –, ernst zu nehmen, also Weltverhältnisse erst zu schaffen, die in der Lage sind, Frieden und Recht zu garantieren. Dieses Denken steht in der Tradition des Rechtspazifismus von Kant bis Habermas. Demzufolge muss in einer Welt des Krieges, den Kant ganz im Geiste Thomas Hobbes’ als den menschlichen Naturzustand begriff, der Frieden aktiv „gestiftet“ werden. Genau darum geht es heute: Wenn man die Zerrüttung der Weltordnung konstatieren muss, erscheint ein Ziel vordringlicher als jedes andere, die (Wieder-)Herstellung einer verrechtlichten Friedensordnung. Wichtigste Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden sind in dieser Tradition das Völkerrecht und ein föderaler Staatenbund. Dieser Gedanke, der sich von Kant bis in das 20. Jahrhundert und die Ideen von Völkerbund und Vereinten Nationen als legitimen überstaatlichen Friedensstiftern zieht, ist das große politische Projekt der Moderne, dem sich historisch betrachtet erst der Liberalismus und später die freiheitliche Linke verschrieben hat. Diese gleichermaßen liberale wie linke Traditionslinie reicht daher von Immanuel Kant über Woodrow Wilson und Willy Brandt bis zu Jürgen Habermas.

Worauf es heute – mehr denn je – ankommt, ist der Kampf für eine globale Ordnung, die den Kriegszustand erfolgreich ächtet. „Auf dem Spiel steht das Kantische Projekt der Abschaffung des Naturzustandes zwischen den Staaten“, so Habermas bereits 2004 angesichts des Irakkriegs.[16] Gegen neoimperialistisch agierende Vereinigte Staaten und zugleich gegen einen möglichen deutschen Rückfall in den Nationalismus sah Habermas in der Orientierung auf Europa eine Chance speziell für Deutschland, ganz ähnlich wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl, aber auch Willy Brandt. Ein „guter Deutscher“, so Brandt in seiner Osloer Rede, könne gerade nach 1945 kein Nationalist sein und sich einer europäischen Bestimmung nicht versagen. „Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte. Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft“, so Brandt weiter, als Chance in einer Welt, „in der erwiesen ist, dass sie nicht allein von Washington, von Moskau – oder von Peking – regiert werden kann.“

Ohne Entfeindung keine Demokratie

Der spätere, von den USA so enttäuschte Habermas, sieht die Aufgabe Europas ganz ähnlich. Seit 2004 hat er vergeblich auf eine politische Vision aus Deutschland für ein künftiges Europa gedrängt, während Emmanuel Macron mit seinen zahlreichen Vorstößen in Berlin immer wieder abgeblitzt ist. „Sie [die Vision für Europa] kann aus der Bedrängnis einer Situation hervorgehen, in der wir Europäer auf uns selbst zurückgeworfen sind“, weiß Habermas.[17] Bisher hat aber selbst der Ukrainekrieg als der maximale Ernstfall den erforderlichen Zusammenhalt Europas nicht gestiftet. Nun aber könnte Europa am 5. November bei einer Wahl Donald Trumps endgültig auf sich selbst zurückgeworfen werden. Die große Frage lautet, ob die EU auf diesen Augenblick vorbereitet sein wird. Zweifel sind angebracht, zu Recht hat Macron am 25. April bei seiner Zweiten Rede an der Sorbonne darauf hingewiesen, dass das demokratische Europa, wie wir es kennen, sterblich ist.

Um dies zu verhindern, ist zweierlei erforderlich: Erstens anzuerkennen, dass es wieder Feindschaft gibt in Europa, wie seit 1945 nicht mehr. „Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann“, zieht Habermas daraus die notwendige Konsequenz.[18] Und zweitens, dass es für die nachhaltige Zukunft des Planeten weiter entscheidend auf das Projekt der globalen Entfeindung ankommt. Es bleibt die Aufgabe gerade Europas, dieses über Jahrhunderte kriegerisch verwüsteten und andere Regionen verwüstenden Kontinents, an der Überwindung des Freund-Feind-Denkens festzuhalten. Gelingt dies nicht, ist eine friedliche Zukunft nachhaltiger Art kaum möglich und denkbar.

Die Frage der Entfeindung hat aber noch eine weit grundsätzlichere Dimension, die ins Mark des Habermasschen Projekts geht. Denn nur wer den Anderen nicht als Feind begreift, tritt ihm als gleichberechtigter Gesprächspartner gegenüber, räumt ihm und seinen Argumenten den gleichen Geltungsanspruch ein wie sich selbst. Die Notwendigkeit der Befriedung gilt damit nicht weniger für die Innenpolitik. In diesem Superwahljahr erleben wir in aller Brutalität, wie gefährdet unsere Politiker und deren Unterstützer sind. Wenn sie Gefahr laufen, von Teilen der Gesellschaft zum Feind bzw. zu Freiwild erklärt zu werden, dann geht es der Demokratie an die Wurzel. Damit droht sich nach der „Friedensdividende“ auch die zweite große Hoffnung der Weltzäsur von 1989 als Illusion zu erweisen – die Vorstellung der dauerhaften Behauptung der Demokratie.

Mit dem Willen zur Entfeindung steht und fällt letztlich auch das Habermassche Kernprojekt eines möglichst herrschaftsfreien Diskurses als Grundlage der Demokratie. Dabei kommt es zentral darauf an, die wechselseitigen Geltungsansprüche anzuerkennen: dass die Aussage des Gegenübers aufrichtig gemeint, der Situation angemessen und wahr, also faktenbasiert ist. Was aber ist, wenn dieser Wahrheitsanspruch heute immer stärker auch technisch unterlaufen wird? Wenn wir es mit einem „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zu tun haben, bei dem die Unterscheidung zwischen wahr und falsch immer weniger möglich ist, da mittels immer „perfekter“ werdender Künstlicher Intelligenz sogenannte Deepfakes geschaffen werden können, die kein Mensch mehr von der Realität unterscheiden kann?

Im Vergleich zu dieser düsteren Orwell-Welt, die heute längst keine bloße Dystopie mehr ist, wirkt die Retusche der „verdienten Genossen“ Kamenew und Trotzki nach Lenins Tod 1924 aus dessen bekanntem Foto tatsächlich wie eine stümperhafte Fälschung aus dem letzten Jahrtausend. Mit der zunehmenden Ununterscheidbarkeit zwischen fact and fiction, zwischen Original und Fälschung, bleibt der wechselseitige Wahrheitsanspruch auf der Strecke, der für jede gelingende Kommunikation existenziell ist – und damit auch die conditio humana, um deren Verteidigung es Habermas letztlich geht. Mit diesem dialektischen Umschlag in Lüge und Unvernunft – auf einer „vollends aufgeklärten Erde, die strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer und Adorno) – droht das universalistische Fortschrittsversprechen des Westens zu scheitern, wird aus Verständigung wieder Feindschaft und Unterwerfung. Damit aber bleibt das unvollendete Projekt des Jürgen Habermas das Projekt der Moderne selbst, aber auch ihr Problem – und damit der unabgegoltene Auftrag an uns alle.

Jürgen Habermas, seit 1997 Mitherausgeber der „Blätter“, begeht am 18. Juni seinen 95. Geburtstag.

[1] Allerdings war in Osteuropa, anders als im Westen, stets schmerzhaft bewusst, dass danach die stalinistische Herrschaft begann oder fortgesetzt wurde, weshalb dort bis heute der Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 besondere Bedeutung zukommt.

[2] Der 9. Mai 1950 gilt als Gründungsdatum der EU, weil an diesem Tag der französische Außenminister Robert Schuman die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug.

[3] Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, S. 56.

[4] Siehe exemplarisch Gerd Langguth, Alte, neue Ressentiments: Habermas, die deutschen Intellektuellen und der Antiamerikanismus, in: „Internationale Politik“, 2/2004, S. 67-77.

[5] Zit. nach Majid Sattar, Ein Republikaner will die Ukraine retten, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 22.4.2024; Claudia Sarre, Lob von fast allen Seiten für Johnson, tagesschau.de, 22.4.2024

[6] Dieser Befund, so Habermas weiter, „lässt mich zum ersten Mal ernsthaft an der Bodenhaftung meiner bisher unverdrossen wiederholten alten Perspektiven zweifeln“, Jürgen Habermas, Wo bleibt die proeuropäische Linke?, in: „Blätter“, 12/2018, S. 41-46, hier: S: 41.

[7] Jürgen Habermas, Was bedeutet der Denkmalsturz?, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.4.2003.

[8] Jürgen Habermas, Europäische Identität und universalistisches Handeln, in: „Blätter“, 7/2003,

S. 801-806, hier: S. 803.

[9] Ebd., S. 805.

[10] Ernst Hillebrand, Von wegen Europafeinde, ipg-journal.de, 16.5.2024.

[11] Jürgen Habermas, Krieg und Empörung, in: „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 28.4.2022; ders., Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: SZ, 14.2.2023.

[12] Europe’s Mistake, Jürgen Habermas im Interview, granta.com, 23.11.2023.

[13] „Putins Plan geht auf“, Interview mit Carlo Masala auf t-online.de, 20.5.2024.

[14] So Bundespräsident Gustav Heinemann in seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 1969, Bd. 70, S. 13664 ff. Später wurden diese Sätze zu Leitmaximen der Friedensbewegung.

[15] So Dolf Sternberger 1960 in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung, Die Politik und der Friede, Frankfurt a. M. 1986, S. 76.

[16] Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M. 2004, Vorwort S. 7.

[17] Jürgen Habermas, Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet, in: ders., Der gespaltene Westen, a.a.O., S. 46.

[18] Jürgen Habermas, Krieg und Empörung, a.a.O.

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