Ausgabe Juni 2024

Nahostkonflikt an deutschen Unis: Für Dialog statt Polarisierung

Pro-palästinensische Protestierende versammeln sich vor der Humboldt-Universität, während im Gebäude mehrere Räume von Aktivist:innen besetzt waren. Die Besetzung wurde geräumt, nachdem der Protest zunächst geduldet wurde, 23.5.2024 (IMAGO / Middle East Images / Stefan Frank)

Bild: Pro-palästinensische Protestierende versammeln sich vor der Humboldt-Universität, während im Gebäude mehrere Räume von Aktivist:innen besetzt waren. Die Besetzung wurde geräumt, nachdem der Protest zunächst geduldet wurde, 23.5.2024 (IMAGO / Middle East Images / Stefan Frank)

Der Streit um den Nahostkonflikt tobt auch an deutschen Universitäten. So sorgte Anfang Mai eine von der Polizei geräumte Besetzung an der FU Berlin für Aufsehen: Zahlreiche Lehrende verteidigten anschließend das Recht auf Protest und sahen sich in der Folge mit einer Kampagne der „Bild“-Zeitung („Die UniversiTÄTER“) namentlich als Israelfeinde bloßgestellt. Peter Ullrich, Antisemitismus- und Protestforscher und einer der Unterzeichner des offenen Briefes (vgl. die Dokumentation auf blaetter.de) fordert einen differenzierten Blick auf die Proteste.

Der Nahostkonflikt zeichnet sich grundsätzlich durch eine sehr starke Polarisierung aus – aufgrund der aktuell dramatischen Zuspitzung und der humanitären Katastrophe durch den israelischen Krieg in Gaza beherrscht er derzeit als Nahostkonflikt zweiter Ordnung vielerorts die Agenda politischer Aktivist:innen. Daher war es absehbar, dass es zu Aktionen kommt. So auch beim Eurovision Song Contest in Malmö: Die israelische Sängerin Eden Golan musste ihren Song zum Massaker der Hamas mehrmals umschreiben, damit er beim „unpolitischen“ ESC gesungen werden durfte – und pendelte, anders als alle anderen Teilnehmer:innen, aus Sicherheitsgründen nur gut bewacht zwischen Hotel und Veranstaltungsort. Ihren Auftritt musste sie unter Buhrufen absolvieren, derweil vor dem Veranstaltungsort Demonstrationen stattfanden.

Diese Angriffe auf Eden sind ein Problem, weil eine israelische Jüdin für die Handlungen Israels in Haftung genommen wird. Ein ebensolches Problem ist es, wenn im Kontext der Auseinandersetzung jüdische Studierende bedroht werden und sich unsicher fühlen, oder wenn die gesicherte Existenz von Jüdinnen und Juden in Israel infrage gestellt wird. Das ist Antisemitismus. Doch mit Antisemitismuskritik allein ist in dieser Gemengelage nicht viel zu verstehen.

»Das Einfallstor für antisemitische Deutungen im Nahostkonflikt ist real. Aber es gibt ein großes Feld von Grauzonen und Uneindeutigkeiten. Und einen Realkonflikt«

Es gibt in der Solidaritätsbewegung – die in ihrem Kernziel, der Beendigung des Krieges, nicht jedoch in allen Einzelforderungen, meine Sympathie und Unterstützung hat – durchaus eine gewisse Neigung, antisemitische oder andere reaktionäre Äußerungen zu bagatellisieren und solcherart Bündnispartner hinzunehmen, ganz in der Logik: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Das Einfallstor für antisemitische Deutungen im Nahostkonflikt ist real. Aber es gibt ein großes Feld von Grauzonen und Uneindeutigkeiten, an das wir nicht rankommen, wenn beispielsweise im konkreten Fall der Besetzung und Räumung eines Hofs der Freien Universität Berlin die Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger oder auch Berlins Bürgermeister Kai Wegner mit einer holzschnittartigen Rhetorik einen ganzen Protest diskreditieren – und den Dozent:innen, die sich prinzipiell für die Möglichkeit friedlichen Protests aussprechen, vorwerfen, sie würden Gewalt verharmlosen und nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.

In dem Statement der Dozent:innen müssen wir zwei Ebenen unterscheiden: eine nahostpolitische und eine demokratietheoretische. Viele Unterzeichnende werden höchstwahrscheinlich eine Grundsympathie mit dem Anliegen haben, dass die Kriegshandlungen eingestellt werden müssen, um das Massensterben in Gaza zu beenden, hinter dem, zumindest bei einem Teil der israelischen Regierung, explizit geäußerte genozidale Ambitionen stehen. Auch die Zerstörung sämtlicher Hochschulen und Kultureinrichtungen in Gaza wird an Hochschulen mit Entsetzen zur Kenntnis genommen. Mindestens werden die heterogenen Unterzeichner:innen genug Empathie besitzen, um zu sehen, dass dieser Krieg Leid und Solidarisierung verursacht, auch bei Studierenden hierzulande, darunter nicht wenige mit Familie in Gaza. Aber der Brief wurde vor allem aufgrund des bürgerrechtlichen Anliegens unterzeichnet. Denn bei dem Thema zeigen sich in letzter Zeit massive Grundrechtsbeschränkungen. Die Demonstrierenden werden als Israelhasser:innen und Antisemit:innen über einen Kamm geschoren, die polizeiliche Eingriffsschwelle gegen die Proteste wird gesenkt. Das eigentliche Anliegen findet keine Beachtung bzw. wird von vornherein disqualifiziert. Das betrachte ich als Protestforscher und aus bürgerrechtlicher Perspektive mit Sorge.

»Meinungs- und Versammlungsfreiheit besteht unabhängig von der spezifischen Positionierung.«

Denn mit diesem Reduktionismus untergräbt man grundsätzlich die Legitimität des Protests. Ob protestiert werden darf, hängt allerdings nicht davon ab, ob Universitätsleitungen oder die Bildungsministerin das Anliegen sympathisch finden: Meinungs- und Versammlungsfreiheit besteht unabhängig von der spezifischen Positionierung. Wir erleben aktuell jedoch einen immensen politischen Druck, Konflikte mit Sanktionen oder Polizeieinsätzen zu lösen, statt eine multiperspektivische und (selbst)kritische Auseinandersetzung zuzulassen. Es erschallen Rufe nach dem Verfassungsschutz (zur Überwachung propalästinensischer Bewegungen wie auch der Wissenschaft); die Nahostdebatte wird versicherheitlicht und verrechtlicht, damit aber administrativ dem dringend notwendigen Diskurs entzogen.

Hinzu kommt: Protest nur als legitim zu bezeichnen, wenn die Teilnehmenden dialogbereit sind und nicht stören, das verkennt das Wesen von Protest. Um auf eine nicht nur von den Protestierenden als dramatisch empfundene Situation aufmerksam zu machen, muss man stören. Andernfalls ist der Protest sinnlos, weil er niemanden interessiert. Insofern müssen wir viele Formen von Protest zunächst einmal hinnehmen, solange er nicht bestimmte Grenzen überschreitet. Das in Teilen der Öffentlichkeit gezeichnete gewaltvolle Bild der FU-Besetzung erscheint mittlerweile immer weniger haltbar.

Auch der Verweis auf deutsche Verantwortung und daraus resultierende besondere Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus kann hier nicht als Ausrede für Einseitigkeit dienen. Man muss sich der Komplexität bewusst sein: Wer ist Träger der deutschen Verantwortung (und ihrer vordemokratischen Ableitungen à la „Staatsräson“) in einer pluralen Gesellschaft? Zu notwendigerweise unterschiedlich sind die Geschichten und Perspektiven von Jüdinnen und Juden, Palästinenser:innen, alten und jungen Menschen, mit oder ohne deutschen Pass. Wir müssen uns mit unserer Erinnerungskultur kritisch auseinandersetzen und sie nicht etwa, wie von Daniel Marwecki jüngst wieder thematisiert, als Mittel zur Absolution nutzen, um auch noch aus den eigenen Verbrechen als Erinnerungsweltmeister nationale Größe zu schöpfen.[1]

Vielmehr müssen wir uns die konkreten Beweggründe und Interessen der Demonstrierenden anschauen. Dann wird man trotzdem viele berechtigte Gründe für Kritik finden. Ein Beispiel: Der Kolonialismusvorwurf wird immer wichtiger in der Sicht der Bewegung auf den Zionismus, ohne gleichzeitig zu thematisieren, dass der Zionismus auch eine nationale Befreiungsbewegung gegen den europäischen Antisemitismus war und ist. Die Proteste erlebe ich in dem Punkt oft sehr holzschnittartig in ihrem Antizionismus. Aber auf diesen Punkt kann man nur zu sprechen kommen, wenn man dem Anliegen des Gegenübers nicht schon grundsätzlich und ohne Differenzierungen seine Legitimität abspricht.

Es gilt daher, genau hinzusehen. Man erkennt einerseits den Einfluss aktueller antirassistischer Diskurse und bestimmter Formen der „Identitätspolitik“, die die Sprechortlogik radikalisierten: Nur Betroffene haben demnach das Recht, sich zu bestimmten Themen zu äußern. Die grobschlächtige Anwendung postkolonialer Diskurse auf Israel spielt eine Rolle. Immer wieder werden Verbrechen der Hamas bagatellisiert. Das Denken ist antagonistisch, für Uneindeutigkeiten ist wenig Platz. Die dialogischen Anstrengungen der Proteste sind teils gering ausgeprägt. Dass man im öffentlichen Diskurs so in die Defensive gedrängt wird, fördert diesen Trotz zusätzlich. Und all das fördert die Gefahr des Partikularismus.

»Was ich als Ambivalenz empfunden habe, wurde in der öffentlichen Debatte vereindeutigt.«

Wer sich nicht in universalistischer Hinsicht für die Befreiung von Menschen von Besatzung und das Ende des Krieges engagiert, wird Partei in einem nationalistischen Konflikt zwischen Zionismus und der palästinensischen Nationalbewegung. Der Nationalismus des eigentlichen Konflikts hinterlässt seine Spuren im Stellvertreterkonflikt der Solidaritätsaktivist:innen beider Seiten. Man verfestigt hier Dichotomien, anstatt eine dritte Position einzunehmen, die es für eine Friedenspolitik bräuchte. Auch diese Freund-Feind-Logik trägt dazu bei, dass die Bewegung teils extrem unempfänglich auch für solidarische Kritik ist und die Reflexion scheut.

Beispielhaft dafür steht die Geburtstagsfeier der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ im vergangenen November im Zentrum „Oyoun“ in Berlin-Neukölln – mit vielen netten Menschen und guter Musik. Irritiert hat mich, dass bestenfalls am Rande zu spüren war, was kurz vorher am 7. Oktober 2023 geschehen ist. Dessen Spezifik ging im Gedenken „an alle Opfer“ ziemlich unter. Zugleich muss aber betont werden: es gab dort weder antisemitische Äußerungen noch Hamas-Verherrlichung. Die Veranstaltung hätte aber genauso gut zehn Jahre vorher stattfinden können. Diese Empathielosigkeit haben auch jüdische Linke nach dem 7. Oktober immer wieder kritisiert, die sich als Teil der Palästina-Solidaritätsbewegung verstehen, aber wenig Unterstützung für ihre Erschütterung nach dem Hamas-Angriff erfahren haben. Dem „Oyoun“ wurden aufgrund dieser Feier die Gelder gestrichen – ein Skandal. Die beschriebene Ambivalenz wurde in der öffentlichen Debatte skurril vereindeutigt, als wäre das „Oyoun“ ein antisemitisches Zentrum und nicht ein wichtiger Ort für queere und antirassistische Arbeit.

»Widersprüche werden nicht ausgehalten.«

Mitunter werden Palästina-Aktivist:innen in der deutschen Debatte als Nazi-Wiedergänger:innen gedeutet. Da heißt es, die stehen mit Boykottforderungen vor jüdischen Läden wie die Nazis 1938. Jene, die das sagen, sind subjektiv der Ansicht, gegen die BDS-Bewegung zu kämpfen sei antifaschistisch und dann seien auch alle Mittel zulässig. Da findet eine Abwertung und Kriminalisierung statt, die sich wiederum spiegelbildlich in der Borniertheit von Teilen der Palästina-Bewegung zeigt. Wenn ich etwa Vorträge über Antisemitismus halte – und ich rede nicht von legitimer Kritik an Israel, sondern weltbildhaften Angriffen gegen den jüdischen Staat –, gelingt es Leuten oft nicht, Ebenen kognitiv zu trennen. Die sagen dann: „Aber es ist doch so schlimm in Gaza.“ Ja, es ist sogar extrem schlimm – aber das war nicht Gegenstand des Vortrags. Beides zu thematisieren, scheint nicht aushaltbar.

Vor kurzem wurde aus den Reihen der BDS-Bewegung die israelische Bewegung „Standing Together“ als neues Boykottziel ausgerufen. Dabei ist diese in Israel derzeit die entschlossenste Stimme gegen den Krieg. Jetzt aber wird sie zur Exponentin einer drohenden „Normalisierung“ des Kontakts mit dem „Feind“. Diese Logik ist aber nicht progressiv und sie schwächt das Friedenslager. Es wäre daher zu fragen, ob BDS oder die maximalistischen Slogans überhaupt etwas für die Palästinenser:innen leisten. Man könnte hinterfragen, ob alles, was man rufen kann („from the river to the sea“, „Intifada, revolution“) auch klug ist und wen man verprellt.

Ich finde, man darf das Mittel des Boykotts als Mittel gegen Besatzung propagieren, ohne sich gleich Antisemitismusvorwürfe anhören zu müssen. Aber dass das für Jüdinnen und Juden hierzulande auch historische Erinnerungen an den Judenboykott der Nazis weckt, müsste man nachvollziehen können. All das wären gute Gründe für eine solidarische bis kritische Diskussion, die nicht mit pauschalen Antisemitismusrufen zu ersetzen ist. Deren Urheber, die militant proisraelische Szene ist übrigens in dieser Hinsicht keinen Deut besser: Palästinensisches Leben scheint für sie letztlich sekundär.

In dem ganzen Themenfeld sind die Positionen hochgradig antagonistisch und undiskursiv aufgestellt. Es gibt nur noch wenige, die versuchen, mit unterschiedlichen Leuten zu reden und unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen. Widersprüche werden nicht ausgehalten. Menschenrechtlicher Universalismus ist extrem gefährdet. In so einem komplexen Konflikt sollte man sich nicht so einfach auf eine Seite stellen. Man kann und sollte trotzdem Position ergreifen, aber in konkreten Fragen: gegen den Krieg, gegen die Besatzung, gegen die Siedlergewalt, aber auch gegen die korrupte Palästinensische Autonomiebehörde und die extrem reaktionäre und terroristische Hamas. Aber in der Frage des Lebensrechts der Menschen in Israel und Palästina muss man auf der Seite der allgemeinen Menschenrechte stehen. Daran zu erinnern ist wichtig, weil das in dem nationalen Furor einiger Aktivist:innen beider Seiten unterzugehen droht.

[1] Vgl. Daniel Marwecki, Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson, Göttingen 2024.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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