Ausgabe Mai 2024

»Der nächste Redner ist eine Dame«

Wie sich Frauen ihren Platz im Bundestag erkämpften

Foto des Bundeskabinetts unter Kurt Georg Kiesinger. Käte Strobel (SPD) war die einzige Ministerin. Sie war von 1966 bis 1969 Bundesministerin für Gesundheitswesen, 1.12.1966 (IMAGO / piemags)

Bild: Foto des Bundeskabinetts unter Kurt Georg Kiesinger. Käte Strobel (SPD) war die einzige Ministerin. Sie war von 1966 bis 1969 Bundesministerin für Gesundheitswesen, 1.12.1966 (IMAGO / piemags)

Im ersten Deutschen Bundestag ist es noch keine Selbstverständlichkeit, dass eine Frau ans Rednerpult tritt. Mit dem Satz „Der nächste Redner ist eine Dame“, kündigt Bundestagspräsident Erich Köhler am 12. Mai 1950 während der Haushaltsberatungen die erste Rede der Marburger CDU-Abgeordneten Anne Marie Heiler an. Die 61-jährige Theologin hat 64 Sitzungen gewartet, bis sie erstmals das Wort ergreifen kann. Unter den elf Rednern dieses Tages ist sie die einzige Frau. Eigentlich stehen ihr fünf Minuten Redezeit zu. Doch ihre Fraktionskollegen haben überzogen. Bundestagspräsident Köhler gibt sich großzügig: „Frau Abgeordnete Heiler, bitte! Durch die langen Reden Ihrer Fraktionsfreunde sind Ihnen nur drei Minuten geblieben. Sie werden mich aber loyal genug finden, Ihnen noch eine Minute zuzugeben, also vier Minuten.“

Als acht Monate zuvor, am 7. September 1949, die 410 frisch gewählten Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages erstmals zusammenkamen, waren darunter 28 Frauen. Auf den Aufnahmen aus dem Plenarsaal des gerade neu errichteten Bundeshauses in Bonn sind die Frauen unter den dunkel gekleideten Männern kaum zu erkennen. Auch politisch haben sie es zunächst schwer, in Erscheinung zu treten. Die ersten sechs Sitzungen vergehen, ohne dass eine Frau das Wort ergreift. Im Laufe der Legislaturperiode wächst der Frauenanteil von 6,8 auf neun Prozent, da Frauen meist hintere Listenplätze innehaben und nachrücken, wenn ein Mitglied aus dem Parlament ausscheidet. Nicht selten geschieht dies, weil ein Abgeordneter verstirbt, und so werden die Frauen bald despektierlich „Sarghüpfer“ genannt.

Im politischen Alltag der jungen Bundesrepublik scheinen die nunmehr 38 Frauen nicht vorgesehen zu sein. Zu Abendveranstaltungen werden sie meist nicht eingeladen. Stattdessen bekommen sie das Angebot, mit der Frau des Bundespräsidenten Tee zu trinken. Dennoch behaupten sie sich in ihren Fraktionen, in den Ausschüssen, im parlamentarischen Alltag. Die Zentrumsabgeordnete Helene Wessel wird zur ersten weiblichen Partei- und Fraktionsvorsitzenden gewählt und bleibt nach zwei Parteiwechseln von 1957 bis zu ihrem Tod 1969 aktive Parlamentarierin. Die SPD-Abgeordnete Jeanette Wolff zieht als bekennende Jüdin und Holocaust-Überlebende ins Parlament ein und stößt dort mit ihren Forderungen nach Entschädigung der jüdischen Opfer auf viel Unverständnis. Die Hinterbänklerin Anne Marie Heiler bleibt zu ihrer Enttäuschung nur eine Wahlperiode im Parlament – wie etwa ein Drittel der weiblichen Abgeordneten.

Die Frauen des ersten Deutschen Bundestages waren Pionierinnen. Der Blick auf sie legt gewissermaßen die Fundamente frei, auf denen die Arbeit von Politikerinnen heute ruht. Ihre Biografien erzählen von Krieg, Entbehrungen und nicht selten von Verfolgung. Kindheit, Jugend und das Aufwachsen in bestimmten Milieus prägten oft das spätere politische Engagement der Frauen.

So machte die spätere Bundesministerin Käte Strobel (SPD) ihre ersten politischen Erfahrungen ab Ende der 1920er Jahre im Vorstand der sozialdemokratischen Kinderfreunde-Bewegung. Die promovierte Historikerin Luise Rehling (CDU) wuchs als Pfarrerstochter auf und unterstützte während der Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam mit ihrem Mann die Mitglieder der oppositionellen Bekennenden Kirche. Die Biografien der Frauen beschreiben aber auch die meist besonderen Umstände ihres Einzugs ins Parlament, die Widrigkeiten ihres Alltags, ihre politischen Erfolge und Misserfolge. Es wird deutlich, dass die Frauen keineswegs eine einheitliche Perspektive auf die politischen Probleme der Nachkriegsgesellschaft hatten – jedoch blickten sie mit einem weiblichen Erfahrungshorizont auf die Welt, der sich von dem ihrer männlichen Kollegen unterschied.

Politische Pionierinnen in der Trümmergesellschaft

„Der letzte Krieg hat in der männlichen Bevölkerung ganzer Kontinente große Lücken gerissen. Dadurch sind die Frauen fast überall in der Mehrzahl. In den vergangenen Jahren hatten sie den Preis für das Versagen einer Generation zu zahlen wie noch niemals in der Geschichte. [...] Das alles hat dazu geführt, daß mehr und mehr Frauen am politischen Geschehen, das der Grund war für jene schmerzlichen Veränderungen ihrer Lebensumstände, aktiven Anteil zu nehmen scheinen.“

Aus den Zeilen des 1947 veröffentlichten Artikels „Frauen in Parlamenten und Kabinetten“ spricht trotz einer schonungslosen Bestandsaufnahme der Kriegsfolgen eine gewisse Aufbruchsstimmung, was die politischen Gestaltungsmöglichkeiten von Frauen angeht. Der Artikel erschien in dem von der späteren SPD-Bundestagsabgeordneten Lisa Albrecht herausgegebenen „Frauenbuch“, das „Mut zum Bekenntnis der Frauenleistung“ machen sollte, da „die Frauen heute und im wachsenden Umfange in Zukunft das ganze gesellschaftliche Leben mitzuformen haben“. Ursprünglich sollte das „Frauenbuch“, in dem es um Politik, Erziehungsfragen und den Alltag der Frauen geht, jedes Jahr erscheinen. Doch die erste Ausgabe blieb auch die letzte.

Die Frauen sind im Nachkriegsdeutschland zumindest zahlenmäßig zu einem ernst zu nehmenden politischen Faktor geworden: In den vier Besatzungszonen gibt es sieben Millionen mehr Frauen als Männer; die Zahl der wahlberechtigten Frauen liegt zwischen neun und zehn Prozent höher als die der Männer. In Berlin kommen auf 100 Männer 170 Frauen, in Sachsen auf zwei Millionen Männer drei Millionen Frauen.

Rund elf Millionen Wehrmachts- und SS-Soldaten waren in Kriegsgefangenschaft geraten und werden, falls sie überleben, erst in den nächsten Jahren nach und nach zurückkehren, ebenso wie die traumatisierten Männer, Frauen und Kinder, die aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen entlassen worden sind. Die seelischen Verwundungen hinterlassen in vielen Familien eine Spur der Verwüstung. Die Sprachlosigkeit ist allgegenwärtig, das Leid der Opfer immens, die Schuld der Täterinnen und Täter groß.

Viele Frauen haben zu Kriegsende Vergewaltigungen und Demütigungen erlitten, vorsichtige Schätzungen gehen von etwa 900 000 Vergewaltigungsopfern aus. Im Nachkriegsjahr werden doppelt so viele uneheliche Kinder geboren wie vor dem Krieg, ein möglicher Hinweis auf die Verbrechen, aber in jedem Fall ein fortbestehendes soziales Stigma für die Mütter und ihre Kinder. Viele Ehen zerbrechen: 1948 beträgt die Zahl der Scheidungen gut 87 000, rund dreimal so viel wie vor dem Krieg.

Die Nachkriegsgesellschaft ist jedoch nicht nur von massivem emotionalem Elend geprägt, sondern entsteht buchstäblich aus Trümmern: Bei Kriegsende sind fast die Hälfte der Häuser und Wohnungen in den vier Besatzungszonen zerstört; die Wohnverhältnisse sind katastrophal. Neben Kriegsheimkehrern müssen etwa 16 Millionen Flüchtlinge untergebracht werden. Vielerorts leben ganze Familien in nur einem Zimmer. In vielen Städten wird die Belegung von Wohnungen reglementiert, um den verfügbaren Wohnraum möglichst effektiv zu nutzen.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist ebenfalls rationiert. Hausfrauen bekommen die geringste Lebensmittelzuteilung. Die rund 2,5 Millionen sogenannten Kriegerwitwen mit Kindern sind – anders als während des Krieges – ohnehin gezwungen, eine Arbeit aufzunehmen, da die Alliierten die zuvor auskömmliche Kriegsrente drastisch gekürzt haben. Viele Frauen kümmern sich als alleinerziehende Mütter nicht nur um ihre Kinder, sondern darüber hinaus um Kriegsversehrte, Waisen, Alte, Kranke und sonstige Hilfsbedürftige, da viele Heime und Pflegestätten zerstört sind.

Erst mit der Währungsreform 1948 bessert sich die Lage zumindest in den drei westlichen Besatzungszonen. Die Nahrungsmittelversorgung entspannt sich, erste staatliche Strukturen sind entstanden. Die sozialen Probleme bleiben jedoch in allen vier Zonen unübersehbar. An vielen Orten kümmern sich Frauen daher nicht nur um ihr unmittelbares Umfeld, sondern bilden sogenannte Frauenausschüsse, die helfen, die größte Not zu lindern, Suppenküchen aufbauen, Kleiderkammern eröffnen und medizinische Hilfe leisten.

Die Frauen in den bald 5000 überparteilichen Ausschüssen belassen es nicht dabei, praktische Hilfe zu organisieren, sondern werden bald auch zu einem ernst zu nehmenden wirtschaftlichen und politischen Faktor. Der Charlottenburger Frauenausschuss in Berlin verabschiedet am 1. Oktober 1946 eine Resolution: „Deutschland ist ohne die Arbeitskraft der Frau nicht wieder zu einem lebensfähigen Staat zu erwecken. Durch die Kriegsfolgen sind wir gezwungen, die Arbeit der Männer zu ersetzen. Wir sind doppelt belastet in der Funktion als Ernährer und Hausfrau und Mütter der Kinder. Wir verlangen, wie es einer gerechten, freien Demokratie würdig ist, gerechte Verteilung zwischen Mann und Frau an den gemeinsam geschaffenen Produkten und damit eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter.“

In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) unterwandert die im April 1946 nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD entstandene Sozialistische Einheitspartei (SED) die sich formierenden Frauenausschüsse und instrumentalisiert sie in ihrem Sinne. In den drei westlichen Zonen schaut man ebenfalls skeptisch auf die parteiübergreifende Unabhängigkeit der Frauenausschüsse: Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher warnt im Juni 1947 vor „Sonderorganisationen“ von „Madames“, die „politisch nicht so ohne weiteres formbar“ seien, um für die Parteiarbeit der SPD nützlich zu sein.

Dennoch bilden die Frauenausschüsse wichtige Erfahrungs- und Begegnungsorte für die politische Gründerinnengeneration der Nachkriegszeit. Viele der späteren Abgeordneten machen hier ihre ersten politischen Gehversuche oder bringen ihre bereits in der Weimarer Republik oder gar in der Kaiserzeit erworbenen politischen Erfahrungen ein. Hier ist der Ort, wo die Frauen erleben, wie lebensnah und wirksam Politik gestaltet werden kann. Es entstehen Freundschaften und Verbindungen, manche sogar über bisherige Lebensanschauungen, Prägungen und soziale Milieus hinweg.

Doch schon bald verlieren die Frauenausschüsse ihre Bedeutung. Die sich formierenden Parteien in den Westzonen verabschieden Unvereinbarkeitsbeschlüsse, sodass sich die parteipolitisch aktiven Frauen entscheiden müssen, zu welcher Organisation sie gehören wollen. Insbesondere die Erfahrenen unter ihnen wissen: Das neu erwachte politische Selbstbewusstsein der Frauen steht im scharfen Kontrast zu ihrer realen wirtschaftlichen und rechtlichen Lage. Diese jedoch kann zumindest im westlichen Teil Deutschlands nur im Rahmen von Parteien und in den Strukturen der neu entstehenden parlamentarischen Demokratie entscheidend beeinflusst werden.

Hier (wie anfangs auch noch in der SBZ) gilt das Bürgerliche Gesetzbuch in der Fassung von 1900, das insbesondere die Lebensbedingungen verheirateter Frauen reglementiert: So benötigen sie die Zustimmung ihres Mannes, wenn sie berufstätig sein oder ein Bankkonto eröffnen wollen. Selbst gewählte Bundestagsabgeordnete können ihr Mandat nur antreten, wenn es ihre Ehemänner erlauben. Diese tun es, mal widerwillig, mal unausgesprochen oder auch mit tatkräftiger Unterstützung. So schlägt Anne Marie Heilers Ehemann, der Marburger Theologieprofessor Friedrich Heiler, ein Angebot aus, die örtliche CDU mitzugestalten, und ermutigt stattdessen seine Frau, in der Partei aktiv zu werden und ein Bundestagsmandat anzustreben.

Das Bürgerliche Gesetzbuch regelt jedoch, dass allein der Mann das Vermögen der Familie verwaltet und darüber verfügen darf, wozu auch das in die Ehe eingebrachte Vermögen der Frau gehört. Bei der Eheschließung bekommt sie automatisch den Familiennamen des Mannes. Er bestimmt über den Wohnort und die Wohnung. Bei der Haushaltsführung hat er die oberste Entscheidungsgewalt. In Erziehungsangelegenheiten gilt der sogenannte Stichentscheid, das heißt, bei strittigen Fragen hat er das letzte Wort.

Auch unverheiratete Frauen haben insbesondere in der Berufswelt Nachteile: So droht ihnen oftmals die Kündigung, wenn ein Mann sich auf ihren Posten bewirbt, denn er gilt automatisch als der Ernährer einer Familie und ist damit zu bevorzugen. Verheiratete berufstätige Frauen hingegen werden „Doppelverdienerinnen“ genannt und skeptisch betrachtet. Für Lehrerinnen gilt ohnehin das Gebot der Ehelosigkeit, das sogenannte Lehrerinnenzölibat: Sobald sie heiraten, verlieren sie ihre Anstellung. In anderen Berufen, besonders in den unteren Lohnklassen, sind sogenannte Frauenlöhne weit verbreitet, was bedeutet, dass Frauen bei gleicher Qualifikation und Tätigkeit niedriger entlohnt werden als Männer.

Frauenrechte im Kaiserreich, der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Die Forderung nach mehr Frauenrechten und insbesondere nach Anpassung des Bürgerlichen Gesetzbuches an die Nachkriegsrealitäten erscheint vielen Menschen überfällig und ist keineswegs neu. Seitdem die Frauen ab 1908 politischen Vereinen und Parteien beitreten konnten und etwa zur gleichen Zeit Schritt für Schritt Zugang zu höherer und universitärer Bildung bekamen, nutzten sie die neuen Gestaltungsmöglichkeiten für ihre persönliche, berufliche und politische Entwicklung. Sowohl dem linken Spektrum zugehörige Frauen in der Sozialdemokratischen und in der Kommunistischen Partei als auch die christlich-bürgerlich geprägten Frauen, die der Zentrumspartei nahestanden, erlebten die Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts 1919 als Durchbruch: Erstmals war es Frauen möglich, in Parlamenten und politischen Gremien ihre Stimme zu erheben und ihre Sichtweise einzubringen. Die Wahlbeteiligung zur Nationalversammlung 1919 war entsprechend hoch: 82 Prozent der Frauen (wie der Männer) gaben bei der Wahl ihre Stimmen ab. Der Frauenanteil in der Nationalversammlung betrug etwas mehr als acht Prozent. (War also etwas höher als anfangs im ersten Bundestag.)

In der Weimarer Republik unternahmen weibliche Abgeordnete wie Marie Juchacz (SPD) oder Helene Weber (Zentrum) nicht nur ihre ersten parlamentarischen Gehversuche, sondern waren auch außerhalb der Volksvertretung aktiv: Weber gehörte bereits 1916 zu den Mitgründerinnen des Berufsverbands deutscher katholischer Sozialbeamtinnen, Juchacz gründete 1919 die Arbeiterwohlfahrt (AWO) als „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ in der SPD. Doch der Frauenanteil im Reichstag blieb marginal: Er schwankte zwischen fünf und acht Prozent, bis er schließlich 1933, im Jahr der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, bei nicht einmal vier Prozent lag. Während der NS-Zeit war es Frauen verboten, sich zur Wahl zu stellen; sie wurden stattdessen auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt. Auch der Zugang zu höherer Bildung und zu leitenden Posten wurde wieder eingeschränkt bzw. verboten: „Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein“, lautete hierzu das Diktum Adolf Hitlers. Linientreue Frauen konnten allerdings in Frauenorganisationen wie der NS-Frauenschaft (NSF) und dem Bund Deutscher Mädel (BDM) Leitungsfunktionen erlangen und sich im nationalsozialistischen Sinne politisch betätigen.

Dennoch hatte sich in den 14 Jahren von der Einführung des Frauenwahlrechts bis zum Ende der Weimarer Republik die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen grundlegend verändert. Vielerorts waren regionale und überregionale Frauenverbände entstanden. In den Parteien hatten sich Frauenausschüsse und -räte gebildet. Überhaupt war der politische Beitrag von Frauen zumindest in den linken und bürgerlichen Parteien wenn nicht selbstverständlich, so doch allgemein akzeptiert. Insbesondere in den Frauenverbänden waren Netzwerke gewachsen, teils politisch und milieubedingt eingegrenzt, teils auch über parteipolitische Grenzen hinaus.

Die Nationalsozialisten zerschlugen zwar ab 1933 diese Strukturen bzw. schalteten sie gleich und schufen mit der NSF und dem BDM eigene Frauenorganisationen, doch können die demokratisch aktiven Frauen nach dem Krieg nicht selten auf die alten, manchmal informellen Verbindungen zurückgreifen. Die Verfolgungen, die nicht wenige politisch engagierte Frauen während der nationalsozialistischen Diktatur erlitten, haben teils auch die Verbindungen untereinander vertieft.

Einige wurden von den Nationalsozialisten inhaftiert; es traf insbesondere jüdische, sozialdemokratische und kommunistische Politikerinnen wie Jeanette Wolff oder Grete Thiele. Auch Frauen aus dem katholischen Zentrumsmilieu wie die spätere CDU-Abgeordnete Margarete Gröwel wurden wegen ihrer Kontakte zu oppositionellen Politikern kurzzeitig verhaftet. Viele Frauen zogen sich jedoch zurück, suchten sich ihre Nischen oder arrangierten sich mit dem neuen politischen Regime. Andere traten bereits 1933 der NS-Frauenschaft bei, wie die spätere Abgeordnete der Deutschen Partei Margot Kalinke, die nach dem Krieg als Vertriebene der Landsmannschaft Westpreußen angehört.

Politischer Neuanfang: Die Frauen im Parlamentarischen Rat

Ein Teil der Frauen, die bereits in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik in Vereinen, Parteien und Parlamenten politisch aktiv waren, steht 1945 bereit, um den Neuanfang zu gestalten. Aber auch die jüngeren politisch interessierten Frauen schauen im August 1948 gespannt auf den Verfassungskonvent, der auf der Herreninsel im Chiemsee stattfindet, wo der Entwurf eines Grundgesetzes erarbeitet wird. Hier sind die Männer unter sich; unter den 30 Teilnehmern findet sich keine einzige Frau. Fragen zur Stellung der Frau spielen eine untergeordnete Rolle. Hieß es 1919 in der Weimarer Reichsverfassung noch, dass Frauen „grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ zustehen, steht im Entwurf von Herrenchiemsee allgemein: „Vor dem Gesetz sind alle gleich.“

Als jedoch im September 1948 in Bonn die Beratungen zum Grundgesetz in dem von den elf Länderparlamenten der Westzonen gewählten Parlamentarischen Rat beginnen, sind vier der 65 Mitglieder Frauen, einige davon politisch sehr erfahren und gut vernetzt. Darunter die Juristin und SPD-Politikerin Elisabeth Selbert. Sie setzt sich gemeinsam mit ihrer Parteikollegin Frieda Nadig dafür ein, die Gleichberechtigung der Geschlechter in dem schlichten Satz zusammenzufassen: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Damit stoßen sie im Parlamentarischen Rat auf Widerstand, nicht nur von Männern. Auch die beiden bürgerlichen Frauen im Parlamentarischen Rat, Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (DZP), sind zunächst skeptisch. Insbesondere die 67-jährige Helene Weber, die bereits 1919 Mitglied der verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung war, spielt bei den Beratungen innerhalb der CDU eine gewichtige Rolle. Die Frauenrechtlerin der ersten Stunde und enge Vertraute Konrad Adenauers ist zutiefst geprägt von naturrechtlich-katholischen Prinzipien, nach denen Mann und Frau zwar gleichberechtigt, jedoch von Natur aus unterschiedlich sind. Jeglicher „Gleichmacherei“ begegnet sie daher mit Vorbehalten. Zudem vertritt sie in dieser Frage die Vorstellungen der katholischen Kirche, der sie eng verbunden ist. So heißt es im Entwurf zunächst: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln. Jedoch dürfen die Grundrechte nicht angetastet werden.“ Elisabeth Selbert weiß aus ihrer juristischen Praxis, dass sich die Rahmenbedingungen für Frauen mit dieser Formulierung wenn nicht verschlechtern, so doch nicht verbessern werden. Auch der Vorsitzende des Hauptausschusses, Carlo Schmid (SPD), führt ins Feld, dass „die Frau den Anspruch erheben kann, daß ihr zugetraut wird, mit der gleichen Verantwortlichkeit und der gleichen Fähigkeit für ihre Interessen zu sorgen und durch das Leben zu schreiten“. Schließlich, unter anderem nachdem Elisabeth Selbert für Protest aus den Frauenorganisationen gesorgt hat, setzt sich ihre Formulierung doch durch. Der schlichte Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ steht noch heute als Artikel 3 Absatz 2 im Grundgesetz. Ihre Partei, die SPD, dankt es ihr nicht. Bei den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag erhält sie nur einen der hinteren Listenplätze und so schafft sie es nicht, ins Parlament einzuziehen. Bis 1958 bleibt sie politisch tätig und zieht sich dann aus der Politik zurück.

Gleichberechtigung und Familienrecht: Der Kampf um die Geschlechterordnung

Es ist Elisabeth Selberts Parteifreundin Frieda Nadig, die bei der ersten Debatte um die Neuordnung des Familienrechts am 1. Dezember 1949 als erste Rednerin das Wort ergreift: „Meine Herren und Damen! In dem Artikel 3 des Grundgesetzes ist verfassungsmäßig die Gleichstellung von Mann und Frau verankert. Damit hat endlich die Frau die volle rechtliche Mündigkeit erhalten. Ein langer Kampf ist hier vorausgegangen. Wurde doch der erste Antrag auf Gleichberechtigung schon 1895 im alten Reichstag gestellt. Das Hohe Haus hat jetzt die Aufgabe – bis zum 31. März 1953 läuft die Frist nach dem Grundgesetz –, den Gleichheitssatz Wirklichkeit werden zu lassen, ihm Leben und Inhalt zu geben, das heißt, die Gleichberechtigung der Frau auf allen Gebieten des zivilen, des Privatrechts und des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu vollziehen. Eine sehr große Aufgabe!“

Die Regierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer zeigt allerdings keine große Eile, die gesetzlichen Änderungen, die sich aus dem neuen „Gleichheitssatz“ im Grundgesetz ergeben, in Angriff zu nehmen. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) macht schnell deutlich, dass sie keineswegs beabsichtigt, die bisherigen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu ändern. Erneut ist es Helene Weber, die sich beispielsweise für die Beibehaltung des „Stichentscheids“ des Mannes in Erziehungsfragen einsetzt. Es gibt allerdings auch Stimmen in der Union, insbesondere von liberal-evangelischen Abgeordneten, die sich beim Eherecht für die sogenannte Partnerschaftsehe aussprechen, in der beiden Partnern gleiche Rechte zustehen sollen. Auch außerhalb des Parlaments, in Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften, werden Fragen der Gleichberechtigung lebhaft diskutiert.

Die Regierung bringt schließlich am 23. Oktober 1952, vier Monate vor Ablauf der im Grundgesetz festgelegten Übergangsfrist, einen Gesetzentwurf zur Reform des Familienrechts in den Deutschen Bundestag ein. Doch die Reaktionen sowohl im parlamentarischen Verfahren als auch in der Öffentlichkeit zeigen, dass der Entwurf von allen Seiten Kritik erfährt und nicht mehrheitsfähig ist. So endet die erste Wahlperiode, ohne dass es zu einer Neuregelung kommt.

Erst zum Ende der nächsten Legislatur, am 3. Mai 1957, beschließt der Deutsche Bundestag das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, das Gleichberechtigungsgesetz. Vorangegangen sind zahlreiche Diskussionen, Verfahrenstricks und parlamentarische Debatten. Im Ergebnis ist das Gesetz, wie es in einem Kommentar heißt, „vom Geist der vorsichtigen Anpassung an den Gleichberechtigungsgrundsatz erfüllt“. Im Klartext: Es ändert sich zunächst nicht viel. Der Mann entscheidet weiterhin im Zweifelsfall allein, wenn es bei der Kindererziehung Streit gibt. Die verheiratete Frau darf nur einem Beruf nachgehen, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ ist. Erst nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht im Juli 1959 wird Männern der „Stichentscheid“ entzogen. Noch bis weit in die 1970er Jahre hinein ist es beispielsweise im öffentlichen Dienst keine Seltenheit, dass Frauen nach der Heirat gekündigt wird. Die Debatte um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der jungen Bundesrepublik ist mit dem neuen Gesetz nicht beendet. Sie hat gerade erst begonnen.

Der Beitrag basiert auf dem Buch „Der nächste Redner ist eine Dame“, das am 15.5.2024 im Ch. Links Verlag erscheint. Eine umfangreiche Dokumentensammlung findet sich hier: bundestag.de/parlament/geschichte/75jahre/buch-956138.

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