Warum Biodiversität kein »weiches Wohlfühlthema« ist

Bild: Schwebfliegen sind wichtige Bestäuber von Obstbäumen und Gemüsepflanzen. Zwei Drittel ihrer Arten in Europa sind vom Aussterben bedroht. (IMAGO / blickwinkel)
Es gibt hierzulande nicht wenige Politikerinnen und Politiker, die glauben, sie müssten der Öffentlichkeit Wirtschaftskompetenz dadurch beweisen, dass sie sich bei Konflikten im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie abschätzig oder spöttisch über Naturschutzziele äußern. Ob alte Buchenwälder Autobahnpläne zu verhindern drohen, seltene Arten wie die Mopsfledermaus, der Feldhamster oder der Kammmolch die Erschließung von Gewerbeflächen erschweren, Hecken oder blütenreiche Feldraine die Maximierung der industriellen Agrarproduktion stören, Trockenrasen oder Feuchtgebiete der zügigen Errichtung von Fabriken im Wege stehen oder sich Schweinswale partout dort heimisch fühlen, wo große Offshore-Windparks oder Flüssiggas-Terminals vorgesehen sind, stets bedienen die vermeintlich wirtschaftskompetenten Verfechter solcher Projekte das gleiche Klischee: Von solcherlei Ökosentimentalitäten und Kinkerlitzchen könne man sich doch beim Verfolgen großer Ziele der Wirtschaftsförderung und „Standortsicherung“ nun wirklich nicht aufhalten lassen. Wirtschaftswachstum first! Naturträumerei second! Kompensation der Naturzerstörung vielleicht später und anderswo, lautet die Devise. Dabei bringen manche Politikakteure den Naturschutz gegen Gerechtigkeitsziele in Stellung. Als Sahra Wagenknecht etwa unlängst gegen die von ihr kritisch beäugte „Öko-Bourgeoisie“ und „hochmoralische Gutmenschen“ vom Leder zog und deren vermeintlichen Mangel an sozialer Empathie herauskehren wollte, musste dafür ausgerechnet die Gattung der Echten Kröten (lat.: Bufo) herhalten: Die Grünen litten zwar mit „jeder Kröte am Straßenrand“, erhöhten den „frierenden Menschen“ durch CO2-Bepreisung aber zugleich skrupellos die Heizkosten.
Einmal abgesehen davon, dass der Naturschutz bei der Partei des „grünen Wirtschaftswachstums“ auch nicht gerade vorn rangiert und soziale Ausgleichsmaßnahmen für steigende Energiepreise (Stichwort: Klimageld) tatsächlich geboten sind, baut Sahra Wagenknecht auch hier wieder einen falschen und populistischen Widerspruch auf: Menschen first! Mitwelt second! Biophilie, die Liebe zum Lebendigen also, ist ein Luxusgut für Besserverdienende, so die Botschaft. Beide Formen des Karikierens und Herabwürdigens von Naturschutz- und Biodiversitätszielen sind plump und billig. Vor allem aber sind sie aus wissenschaftlicher, kultureller, ethischer und nicht zuletzt ökonomischer Perspektive unhaltbar.
Beginnen wir in der gebotenen Kürze mit dem Grundsätzlichen. In der Kultur- und Ideengeschichte Europas lassen sich in der Tat zahllose Belege dafür finden, wie sehr wir im Mensch-Natur-Verhältnis auf Dominanz und Expansion gesetzt und uns zum Maß aller Dinge gemacht haben. Gerne wird zum Beweis hierfür weit zurückgegangen, etwa in die Genesis, in der es als Auftrag an die Menschen heißt: „Macht euch die Erde untertan und herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier ...“ (Gen 1.28) Nicht minder gern werden die aus völlig anderer Richtung kommenden Philosophen und Aufklärungsvordenker René Descartes (1596-1650) und Sir Francis Bacon (1561-1626) als vermeintliche Erzverbrecher an den Eigenrechten der Natur herangezogen. Descartes etwa sah Tiere als „empfindungslose Maschinen“ und Menschen als „Herrscher und Besitzer der Natur“, während Bacon vorschlug, „die Natur auf das Streckbett der Folter zu spannen, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen“. Von Respekt vor oder gar Liebe zu allem Lebendigen keine Spur.
Die »Dialektik der Natur« im europäischen Denken
Allerdings hat es im europäischen Denken immer auch eine differenzierte und integrale Sicht auf die Natur gegeben, im religiös-mystischen wie im philosophischen und politisch-praktischen Denken. Ob Hildegard von Bingen (1098–1179) die heilende Kraft der Pflanzen pries und nutzte, Franz von Assisi (1182–1226) die Tiere als „Geschwister der Menschen“ sah und „Mutter Erde“ als nährende Einheit beschrieb, Nikolaus von Kues (1401–1464) die Erde einen „leuchtenden Stern“ nannte und so eine frühe Astronautenperspektive auf unseren blauen und fragilen Planeten einnahm, der konservative Philosoph und Politiker Edmund Burke (1729–1797) vor den „Sophisten, Ökonomisten und Rechenmeistern“ warnte, die das Erhabene und Schöne der Natur einzig in Geld umzuwandeln trachteten, es dem großen Liberalen John Stuart Mill (1806–1873) als Dystopie erschien, „wenn jeder Streifen Landes in Kultur genommen wird“, weshalb er bei Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse eine „stationäre“, also nicht mehr wachsende Ökonomie empfahl, oder Friedrich Engels (1820-1895) in seiner (posthum erschienenen) „Dialektik der Natur“ davor warnte, dass wir uns mit unseren vermeintlichen „Siegen über die Natur“ nicht zu sehr schmeicheln sollten, weil sie sich für jeden dieser Siege an uns rächen werde – ihnen allen war klar: Unser Leben und Überleben als Einzelne, als Gemeinschaft und Gesellschaft, unsere Kultur und unsere Ökonomie basieren auf der Natur und den Gratisleistungen, die sie uns gewährt: Ein bekömmliches Klima, gute Luft, sauberes Wasser, fruchtbare Böden, biologische Vielfalt, Bestäubungsleistungen der Insekten, pharmazeutische Potenziale, Erfahrungs-, Regenerations-, Reflexions- und Resonanzräume und vieles andere mehr. Ein Wald etwa ist mehr als Holz, das für die menschliche Nutzung da ist, sondern ebenso sehr Kohlenstoffdepot, Wasserspeicher, Sauerstoffproduzent, Filter, Lebensraum für Tiere, Pflanzen, Pilze und andere Lebewesen, Ort des Wirtschaftens, der Kultur, der Besinnung und der Inspiration für viele Menschen. Der sächsische Forstmann und Oberbergrat Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), der in seinem berühmten Buch „Sylvicultura oeconomica“ von 1713 erstmals das moderne Nachhaltigkeitskonzept umriss, wusste das ebenso gut wie Caspar David Friedrich (1774–1840), der in seinen großartigen Gemälden wie kein zweiter verstand, Licht, Atmosphäre und sogar Stille einzufangen – als bedeutendster Maler der Romantik und Vorreiter der Moderne zugleich.
Mit schwülstigem Pathos hatte deren Werk und Wirken wenig bis gar nichts zu tun, sehr viel aber mit Beobachtungsgabe, dem Wissen über Zusammenhänge und dem Bewusstsein, dass unsere Existenz eine in die Natur eingebettete ist, menschliche und planetare Gesundheit also aufs Engste miteinander verwoben sind und wir mit der Entfremdung von der Natur nicht zu weit gehen sollten.
Wissenschaftliche Evidenzen über die ökologische Misere
Dass die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Erosion ihrer Regenerationskraft und die Schwächung ihrer Resilienz uns als Menschen selbst existenziell gefährden, besonders die Schwachen und Schutzlosen, ist also wahrlich keine neue Erkenntnis. Heute freilich können wir die ökologische Misere durch den rasanten Fortschritt der modernen Wissenschaft, vor allem der Umwelt-, Ressourcen-, Meeres-, Klima- und Biodiversitätsforschung, besser beschreiben und verstehen sowie in ihren Folgen prognostizieren und antizipieren, auch wenn es noch große Wissensdefizite gibt.
So wissen wir durch die Arbeiten des 2012 gegründeten Weltbiodiversitätsrates (IPBES)[1], wie sehr menschliche Gesellschaften von den Leistungen der Ökosysteme profitieren, zugleich aber große Teile der Natur übernutzen, überformen und zerstören: 75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 Prozent der Feuchtgebiete mitsamt ihrer äußerst diversen Flora und Fauna sind zerstört. Das Artensterben liegt heute Hunderte Male höher als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Das IPBES schätzt, dass in den nächsten Jahrzehnten rund eine Million Arten aussterben könnten, möglichweise sogar wesentlich mehr, weil wir die exakte Anzahl der Arten noch gar nicht kennen. Das Netz des Lebens droht also an vielen Stellen zu reißen oder ist bereits gerissen, mit unabsehbaren Konsequenzen auch für das menschliche Wirtschaften.[2]
Die Antwort auf diese fundamentale Krise lautet in der konventionellen Umweltökonomik, etwa in der Studie „The Economics of Biodiversity“ von Partha Dasgupta von 2021, im Wesentlichen so: In den Nachkriegsökonomien der industrialisierten Welt war es nicht verwunderlich, dass zunächst das produzierte Kapital (Häuser, Fabriken, Infrastrukturen, Fahrzeuge) im Vordergrund stand. Mit zunehmender Entwicklung ist dann die Bedeutung des „Humankapitals“ gewachsen, also die Rolle der Bildung, der Ausbildung, der Forschung und der wissensintensiven Dienstleistungen. Diese Entwicklung vollziehen nun in ähnlicher Weise die Länder der Südhemisphäre nach, in denen es zum Teil – nicht zuletzt als Folge des Kolonialismus – noch an elementarsten Existenzbedingungen mangelt.
Über diese starke Ausrichtung an produziertem Kapital und Humankapital, so Dasgupta, sei aber die Natur als Existenzgrundlage der Menschheit zunehmend vergessen worden. Diese gelte es nun deshalb als „Naturkapital“ zu erfassen, zu monetarisieren, zu bilanzieren und so in die Entscheidungsprozesse von Regierungen, Unternehmen, Finanzinstitutionen und Zivilgesellschaft zu integrieren. Kurz: Das Portfolio der Entscheidungsträgerinnen und -träger müsse in Zukunft drei Kapitalformen enthalten: produziertes Kapital, Humankapital und (zunehmend knapper werdendes) Naturkapital. Dann würden andere Abwägungsprozesse statt- und die Naturvergessenheit der Ökonomik ein Ende finden.[3] Auch der Weltbiodiversitätsrat hat lange Zeit eine vergleichbare Sichtweise vertreten, die stark von der schon 2012 erschienenen und sehr einflussreichen Studie „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (kurz: TEEB-Studie) geprägt wurde.[4] Schon 2016 hatte das IPBES etwa den Wert der Bestäubungsleistungen von Insekten für die weltweite Lebensmittelproduktion auf „bis zu 577 Mrd. US-Dollar jährlich“ beziffert, um im Nützlichkeitswettbewerb mithalten zu können.[5]
Ein Preisschild für die Leistungen der Natur?
Der Quantifizierungs- und Ökonomisierungsansatz hat jedoch bei aller Plausibilität auch viele Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan gerufen, die monieren, dass soziale und kulturelle Aspekte außer Acht gelassen werden, und sinngemäß fragen: Wie realistisch ist der Glaube, dass wir ausgerechnet mit dem Mittel, das uns so tief in die Naturkrise geführt hat, nämlich der Ökonomisierung immer weiterer Bereiche unseres Lebens, aus der Krise herausfinden? Geht es nicht vielmehr um einen wissensbasierten Kultur-, Werte- und Politikwandel als darum, dass Marktpreise uns den Wert der Natur aufzeigen? 2022 hat das IPBES nun ein erweitertes und stärker ausdifferenziertes Konzept zur Inwertsetzung präsentiert, in dem es nicht mehr nur um das Aufstellen von Preisschildern für die unmittelbaren Ökosystemleistungen geht, etwa die Fähigkeit von Wäldern und Mooren zur Kohlenstoffspeicherung, sondern auch um das „Einpreisen“ von Naturbeiträgen zur allgemeinen Klimaregulierung, zum menschlichen Wohlbefinden, zu kulturellen und spirituellen Identitäten oder zur Wahrung der Interessen von lokalen und indigenen Gemeinschaften. Auch Eigenrechte der Natur finden hier erstmals in gewissem Umfang Berücksichtigung.[6]
Die Rede ist nunmehr von den Kategorien „Natur für Natur“[7], „Natur für Gesellschaft“[8] und „Natur als Kultur“.[9] Wie weit diese neuartige Rahmung der Argumente trägt, werden die kommenden Jahre zeigen.
Man muss den Versuch eines analytischen Übergangs von einer eher instrumentell gedachten „Ökonomie der Biodiversität“ zu einer eher integralen „Sozioökonomie der Biodiversität“ nicht als fundamentalen Paradigmenwechsel feiern, schließlich bleibt es im Kern das Geld, an dem alles hängt und zu dem alles drängt. Aber aus einer realpolitisch-pragmatischen Perspektive kann durchaus von einem Wahrnehmungsfortschritt gesprochen werden. Entscheidend wird aber sein, ob und inwieweit der erweiterte und differenzierte Bewertungsansatz für Ökosystemleistungen und naturbasierte Lösungen Eingang in die politische und ökonomische Praxis der Staaten findet.
Zerstörerische Subventionen und mangelnde Investitionen in die Natur
Das gilt im Besonderen für den Abbau ökologisch schädlicher Subventionen und höhere Investitionen in den Erhalt und die Regeneration der Natur. Durch Subventionen entstehen in Bereichen wie der Land- und Forstwirtschaft, der Fischerei und dem Bergbau, aber auch in den Sektoren Transport, Energiewirtschaft und Industrie gewaltige Fehlanreize, die gleichermaßen zu Umweltzerstörung, Marktverzerrung und Machtballung führen.[10] Heute gilt leider: „Wir bezahlen uns praktisch noch dafür, dass wir die Natur aufzehren.“ (Partha Dasgupta) Diese Fehlsteuerung ist fatal und muss überwunden werden, auch wenn das mit politischen Konflikten verbunden ist, weil viele Menschen den Abbau von gewährten Subventionen als Steuererhöhung oder Streichung von vermeintlich gerechtfertigten Ansprüchen wahrnehmen, vom künstlich verbilligten Agrardiesel bis zum Dienstwagenprivileg, von den pauschalen Flächenzuschüssen der europäischen Agrarförderung bis zu Steuerbefreiungen aller Art für das produzierende Gewerbe.
Den durch Subventionen verursachten gewaltigen Schäden für den Naturhaushalt stehen heute weltweit viel zu geringe Investitionen in den Erhalt und die Entwicklung von Naturschutzgebieten und die Restauration erodierter Naturflächen gegenüber. Sie liegen bei gerade einmal 0,1 Prozent des globalen Sozialprodukts und müssen stark erhöht werden. Die Kombination aus realistischer Naturbilanzierung und entsprechend neujustierten Wohlstandsindikatoren, ökologisch „wahren“ Preisen, unterlassener Subventionierung von Naturzerstörung und dem präventiven Investieren in Naturerhalt und Naturentwicklung bietet heute erhebliche Chancen für eine nachhaltige Entwicklung. Deutlich wird jedenfalls: Der Schutz der biologischen Vielfalt ist kein weiches Wohlfühlthema, das man sich leistet, wenn die Wirtschaft „brummt“, sondern eine Conditio sine qua non menschlichen Wirtschaftens.
Freilich kann es bei diesen eher ökonomischen Ansätzen nicht bleiben. Ebenso wichtig für die biologische Vielfalt sind hinreichend große und gut vernetzte Schutzgebiete, wie sie auch das internationale Naturschutzabkommen von Montreal vom Dezember 2022 vorsieht, mit dem sich die Staatengemeinschaft darauf verpflichtet hat, 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Hier geht es zum einen um weitgehend unberührte „Wildnis“, in der sich natürliche Entwicklungsprozesse von Menschen wenig oder gar nicht beeinflusst entfalten können[11], und zum anderen um „konviviale Naturschutzstrategien“[12], an denen lokale und indigene Bevölkerungen mit ihren traditionellen Wissensbeständen systematisch zu beteiligen sind – und so zu Hüterinnen und Hütern der Biodiversität werden können.
Entscheidend ist, dass die Schutzgebiete nicht nur auf dem Papier stehen („Paper Parks“) und die Erlöse aus der Bewahrung und Nutzung der Biodiversität unter den Beteiligten fair aufgeteilt werden. Grundsätzlich gilt: Je stärker Schutzgebiete mit lokalen Wertschöpfungsstrategien, der Entwicklung von nachhaltigen Tourismuskonzepten, Umweltbildung und Naturpädagogik, Kooperationen zwischen staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie politischer Bürgerbeteiligung verknüpft werden, desto größer ihre Erfolgsaussicht.
Unterbleibt eine solche integrale Herangehensweise an Schutzgebiets- und Rewilding-Projekte, sind harte Konflikte mit Akteuren vorprogrammiert, die ein Interesse an der Nutzung des Landes haben. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Agrar- und Forstlobby oft auch dann gegen solche Projekte agiert, wenn diese von Beginn an auf Kooperation und Bürgerbeteiligung setzen. Dabei ist die Grundmelodie der Naturschutzgegner oft gleichlautend und klingt etwa so: „Die da oben, städtisch geprägte Naturschutzbürokraten und -eliten aus Brüssel, Berlin oder den Landeshauptstädten, die sich ihr Wissen über die Natur nur angelesen haben, wollen uns, die wir in, mit und von der Natur leben, vorschreiben, was wir zu tun haben. Das akzeptieren wir nicht.“ Besonders Rechtspopulisten schüren und „bewirtschaften“ solcherlei Empfindungen und kochen darauf ihr politisches Süppchen.
Prominente Beispiele dafür sind in Deutschland etwa geplante Nationalparkprojekte in Ostwestfalen (Senne und Egge-Gebirge) oder geplante Wildnisgebiete wie im Spreewald oder in der Sächsischen Schweiz.
Strahlkraft scheinen für große Teile der Öffentlichkeit Wiederansiedelungsprogramme für große und pflanzenfressende Säugetiere zu haben, etwa von rückgezüchteten „Auerochsen“ (sogenannten Taurusrindern), Przewalski-Pferden oder Wisenten, auch wenn solche Projekte anfangs regelmäßig Konflikte mit der organisierten Land- und Forstwirtschaft sowie mit Jagdverbänden mit sich bringen. In besonderer Weise gilt diese Konflikthaftigkeit für Wiederkehrer wie den Wolf, den Luchs, den Biber und perspektivisch auch den Braunbären. Hier sind gute Kooperations-, Moderations- und Aufklärungskonzepte sowie überzeugende politische Entscheidungen und rechtliche Regelungen erforderlich, die das Zusammenleben von Menschen und Wildtieren auch in dicht besiedelten Räumen ermöglichen. Dass das konfliktfrei abläuft, ist allerdings nicht zu erwarten.[13]
Wichtig für die gesellschaftliche Akzeptanz solcher Projekte sind gelungene Beispiele, an denen man sich auch andernorts orientieren kann, wie in Deutschland etwa der Nationalpark Eifel oder die Transformation des ehemaligen Truppenübungsplatzes Döberitzer Heide bei Berlin in ein großes Wildnisgebiet. Gelungene und breit getragene Naturschutzprojekte können einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der demokratiegefährdenden Stadt-Land-Kluft leisten, wie wir sie heute vielerorts vorfinden.
Artenschutz-Mainstreaming ist nötig
Vor allem aber müssen quantitative wie qualitative Biodiversitätsziele systematisch in die Sektor-Politiken der Staaten integriert werden, von der Agrar-, Forst- und Fischereipolitik bis zur Energie- und Klimapolitik, von der Finanz- bis zur Außenwirtschaftspolitik, von der Verkehrs- bis zur Entwicklungspolitik, von der Raumordnungs- bis zur Kreislaufwirtschaftspolitik.[14]
Um dies zu erreichen, muss der Schutz der biologischen Vielfalt bei der Planung von Sektor-Politiken von Anfang an integral mitgedacht werden. Beispiel Lieferketten: Bei der weltweiten Beschaffung von biotischen und abiotischen Rohstoffen durch das produzierende und verarbeitende Gewerbe gilt es, so gut wie möglich sicherzustellen, dass es nicht zu Biodiversitätsschäden und zur bloßen Externalisierung von Umweltschäden kommt. Beispiel Energiewende: Auch beim Ausbau erneuerbarer Energien darf der Naturschutz nicht einfach hintangestellt werden. Nicht immer, aber doch oft lassen sich beide Ziele gemeinsam erreichen, etwa bei der Agri-Photovoltaik. Beispiel Agrarsubventionen: Gefördert werden darf nicht länger die bloße Bewirtschaftung von Flächen entlang von quantitativen Kriterien. Vielmehr muss neben der Förderung gesunder Nahrungsmittelproduktion auch die Erbringung gemeinwohlorientierter Leistungen honoriert werden, wozu eben auch der Schutz der Biodiversität gehört.
Zentral ist auch, dass nationale und internationale Wettbewerbspolitiken so ausgerichtet werden, dass sie die Diversität fördern und nicht zerstören, damit sich keine Monopole und Oligopole bilden und bestehende aufgelöst werden, vor allem in den Bereichen Saatgut, Landnutzung und Ernährungswirtschaft. Solange das nicht in angemessener Weise geschieht, wird Biodiversitätspolitik es gegen manifeste Interessen, institutionelle Trägheit und falsche Gewohnheiten sehr schwer haben.
Ein anderer wichtiger Faktor in der Förderung der Biodiversität sind die Kommunen im Allgemeinen sowie die Grün-, Bau- und Verkehrsämter von Stadt-, Kreis- und Bezirksverwaltungen im Besonderen. Ihnen kommt beim Artenschutz eine zentrale Bedeutung zu, da sie Parks pflegen, öffentliche Räume gestalten, Wege- und Straßenränder unterhalten. Die „Grünpflege“, wie sie heute meist maschinengestützt praktiziert wird, ist vielerorts leider ein Biodiversitätskiller ersten Ranges. Muss es wirklich sein, dass in den blütenreichen Monaten, die für Insekten so überaus wichtig sind, Straßenränder und „Grünflächen“ bei uns systematisch ihrer Pracht an Margeriten, Königskerzen, Natternköpfen und Lichtnelken oder auch Brennnesseln und Disteln beraubt werden, nur damit vermeintlich „Ordnung“ und „Sicherheit“ herrschen? Sind es nicht eher unsere Ordnungsvorstellungen, die einer Überprüfung bedürfen? Die Antwort kann eigentlich nur „Ja“ lauten. Aber auch Individuen, Unternehmen, Bildungseinrichtungen und der Zivilgesellschaft insgesamt kommt eine bedeutende Rolle in der Biodiversitätswende zu.
Von Konsumenten zu Prosumenten: Was wir alle tun können
Einzelne können ihr unmittelbares Umfeld naturfreundlich gestalten, etwa ihre Gärten biodiversitätsgerecht bewirtschaften, statt sterile Rasenflächen anzulegen und diese permanent mit lärmenden Rasenmähern kurz zu halten und mit Kunstdünger und Pestiziden zu traktieren, durch Kompostierung und Naturdüngung zu Humusaufbau und Bodengesundheit beitragen, unnötige Flächenversiegelung zurücknehmen, sich an regionalen Erzeuger/Verbraucher-Kooperativen oder an Sharing-Gemeinschaften beteiligen und so zu „Prosumenten“ werden, nachhaltig und saisongerecht einkaufen, weniger konsum- und ressourcenintensive Lebensstile pflegen und sich in Naturschutzverbänden und Initiativen engagieren. „Rewilding“ kann eben auch im Kleinen stattfinden, in der Alltagsgestaltung, im Denken, im Handeln, ja sogar auf dem Balkon.
Kleine wie große Unternehmen, Industrie wie Handwerk, Produktions- wie Dienstleistungsbetriebe können sehr viel für die Biodiversität tun, von der Gestaltung der Betriebsflächen über Investitionen in den Naturschutz bis zum „Greening“ der Lieferketten, in die sie eingebunden sind, vom „Lernen von der Natur“ in Produktgestaltung und Produktionsprozessen (Biomimese, Bionik, biologische Kreisläufe) bis zur Schulung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sachen Naturverständnis. Sicher, Wissen und Bildung sind nicht alles. Aber ein solides Wissen über die Bedingungen biologischer Vielfalt, Naturschutz und Klimastabilität sowie über den Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur sollte heute zum Grundkanon in Kindergärten, Schulen und Hochschulen, Betrieben und Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen, Parlamenten und Regierungen gehören. So kann Wertschätzung für die Natur entstehen – und vielleicht auch Faszination und sogar Liebe zu ihr.
Eine kürzere Vorabfassung dieses Textes ist in Heft 2/2024 des philosophischen Wirtschaftsmagazins „Agora42“ erschienen.
[1] Vgl. ipbes.net.
[2] Leibniz Forschungsnetzwerk Biodiversität, 10 Must-Knows aus der Biodiversitätsforschung, leibniz-biodiversitaet.de, 2024.
[3] Dasgupta-Bericht: Die Ökonomie der Biodiversität, klimawandelanpassung.at, April 2021.
[4] TEEB -Die globale Studie zur Ökonomie von Ökosystemen und Biodiversität, ufz.de, 2012.
[5] Assessment Report on Pollinators, Pollination and Food Production, ipbes.net, 2016.
[6] Methodologisches Assessment zu vielfältigen Werten der Natur, de-ipbes.de, 2022.
[7] nature4nature.net, 2024.
[8] UN Environment Programme, Nature for Society, unep.org, 5.7.2022.
[9] UN University, Nature as Culture, unu.edu, 19.12.2023.
[10] Für Deutschland vgl. Umweltbundesamt, Umweltschädliche Subventionen in Deutschland, umweltbundesamt.de, 3.12.2021.
[11] Für Europa vgl. Rewilding Europe, Making Europe A Wilder Place, rewildingeurope.com, 2024.
[12] Bram Büscher und Robert Fletcher, Die Naturschutzrevolution: Radikale Ideen zur Überwindung des Anthropozäns, Wien 2022.
[13] Vgl. auch Heike Holdinghausen, Der Kampf um den Artenschutz: Die Wildnis als Störfall?, in: „Blätter“, 12/2022, S. 29-32.
[14] Reinhard Loske, Politik der Zukunftsfähigkeit, Frankfurt a. M. 2016.