
Bild: Ricarda Lang und Omid Nouripour auf der Bundesversammlung der Grünen in Karlsruhe, 24.11.2023 (IMAGO / Chris Emil Janßen)
Die Grünen befinden sich in der „tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“: Mit diesen Worten begründete Omid Nouripour am 25. September nach dem parlamentarischen Aus der Grünen in Brandenburg und Thüringen den Rücktritt des gesamten Bundesvorstands. „Es braucht neue Gesichter, um diese Partei aus der Krise zu führen”, so seine scheidende Co-Vorsitzende Ricarda Lang. Und Robert Habeck, der unangefochten starke Mann der Partei, betonte, dass Lang und Nouripour den Weg für einen „kraftvollen Neuanfang” freigemacht hätten. Tatsächlich stand schon kurz darauf mit Franziska Brantner und Felix Banaszak das designierte Duo für die Nachfolge im Parteivorsitz. Mit ihrer Wahl auf der Bundesdelegiertenkonferenz vom 15. bis 17. November soll der ausgerufene Neustart mit Habeck als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl gelingen.
Doch die tiefe Krise der Grünen wird nicht mit neuem Personal allein beendet werden können, wenn die Parteiführung in spe den soeben gescheiterten Mitte-Kurs der Grünen unverändert fortsetzt. Es braucht vielmehr einen grundlegenden Strategiewechsel.
Auf den ersten Blick könnten die zwei „neuen Gesichter” unterschiedlicher kaum sein: Franziska Brantner, Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, ist eine erfahrene Politikerin aus dem bürgerlichen Baden-Württemberg, gilt als engste Vertraute Robert Habecks und gehört dem Realo-Lager an. Der Nordrhein-Westfale Banaszak dagegen zählt zum linken Flügel, hat seinen Wahlkreis in einem Duisburger Arbeiterviertel und ist bei den Grünen als Sozial- und Haushaltspolitiker bekannt. Beim genaueren Hinsehen überwiegen jedoch die Gemeinsamkeiten des neuen Duos: Beide kommen aus Landesverbänden mit grün-schwarzer bzw. schwarz-grüner Landesregierung, Banaszak gilt sogar als ein Architekt von Schwarz-Grün in NRW und ließ mit dem Zitat „Die 1,5-Grad-Grenze verläuft nicht durch Lützerath” auch klimapolitische Anliegen über die Klinge springen.[1]
Erklärtermaßen zielt die neue Führung ganz auf die Mitte des Parteienspektrums. „An der Mitte hängt, zur Mitte drängt bei Habeck alles”, notierte der Soziologe Stephan Lessenich in einer Rezension des Habeck-Buches „Von hier an anders“.[2] Die Frage ist allerdings, mit welcher Politik die ominöse „Mitte” erobert werden soll.
Blickt man auf den designierten Vorstand, läuft die Aufstellung auf einen ausgesprochen wirtschaftspolitischen und industriefreundlichen Fokus hinaus. Brantner hat die Politik des Wirtschaftsministeriums entscheidend mitgeprägt und Banaszak ist Mitglied des Wirtschaftsausschusses. Entgegen der Beteuerung, Klimaschutz wieder zu dem grünen Kernthema zu machen, bleibt in der grünen Parteispitze somit eine überraschende Leerstelle: eben die Klima- und Umweltpolitik. Zugleich fällt gerade in dieser Hinsicht ein wichtiges parteiinternes Korrektiv aus: Denn nur wenige Tage nach dem Rücktritt des Parteivorstands gab auch der Vorstand der Grünen Jugend geschlossen seinen Rücktritt und sogar Parteiaustritt bekannt – aus Frustration über die grüne Regierungspolitik. Damit ist die Parteilinke erheblich geschwächt. Ob auf der Bundesdelegiertenkonferenz nun andere in diese Lücke treten, bleibt abzuwarten.
Ab durch die Mitte?
Die angestrebte Mitte-Orientierung stammt noch aus Oppositionszeiten, als Robert Habeck und Annalena Baerbock den gesellschaftlichen Aufwind nutzten und die Partei von 12 Prozent auf bis zu 23 Prozent der Stimmen hoben. Im Kern bestand ihr Ansatz in einer strategischen Ambiguität – nämlich aus moderat visionären Vorschlägen, die das eigene Lager mobilisierten und zugleich anschlussfähig bei konservativen Wählergruppen waren, die den Grünen traditionell nicht nahestanden. Habeck selbst brachte damals seine Strategie mit dem Begriff „pragmatischer Radikalismus” auf den Punkt.[3] Da alte Institutionen und Milieus zunehmend an Bindekraft verlören, bräuchte es neue Politikansätze, um Mehrheiten zu bündeln. Die Einbeziehung widerstreitender Gruppen, vom Tierschutzverein bis zum Bauernverband, als Ausgangspunkt grüner Politik könne als Katalysator für neue gesellschaftliche Bündnisse jenseits der grünen Nische dienen. Aus Habecks Sicht ist das Fundamentalproblem der Gegenwart die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Die Grünen müssten daher, so die parteipolitische Vision, zur „Bündnispartei” werden. Ihre Stärke bestehe gerade darin, in allen Parteikonstellationen regieren zu können. [4] Zentral in Habecks Strategie seit Oppositionszeiten sind Ausgleich und Kompromiss. Dieser sei nicht „der Abschied von den eigenen Idealen”, sondern „die Kunst von Politik“.[5] Doch dieser Ansatz muss scheitern, wenn die Grünen die einzige Partei in der Regierung sind, die danach handelt.
Nach drei Jahren Ampel ist vor lauter Kompromissfixiertheit und staatspolitischer Verantwortung nur noch schwer erkennbar, wofür die Grünen stehen. Ob in der Industrie- oder der Landwirtschaftspolitik, der Migrations- oder der Energiepolitik: Abgesehen vom Ausbau der erneuerbaren Energien ist von den Transformationsprojekten nicht viel übriggeblieben. Mit dem Ausbau der LNG-Infrastruktur und der Wasserstoff-Strategie schafft gerade der grüne Wirtschaftsminister neue fossile Infrastrukturen; eine agrarpolitische Wende bleibt trotz grünem Landwirtschaftsminister aus, die Stilllegung landwirtschaftlicher Flächen zur Förderung der Biodiversität wurde nach den Bauernprotesten kassiert; und nachdem sich die deutsche Automobilindustrie jahrelang dem Umstieg auf E-Autos verweigert hat, setzt sich nun ausgerechnet Robert Habeck für eine Anhebung der CO2-Flottengrenzwerte auf EU-Ebene ein.
Statt also die dringend notwendige Transformation entschieden voranzutreiben, überhöhen die Grünen den Kompromiss und setzen auf eine beschwichtigende Politik. Paradigmatisch dafür ist Habecks Schlussfolgerung aus dem Konflikt um das Heizungsgesetz: Nach dem Leak des Gesetzesentwurfs und einer wochenlangen Gegenkampagne der „Bild“-Zeitung, von Union und AfD, aber auch dem Koalitionspartner FDP, zog Habeck für sich die Bilanz, „ich bin zu weit gegangen”[6] –, anstatt mutig in den Konflikt zu gehen. Hier zeigt sich: Wenn die Messlatte für grüne Politik nur die Veränderungsbereitschaft der bürgerlich-konservativen Mitte ist, bleibt vom Anliegen einer sozial-ökologischen Transformation wenig übrig.
Gewiss, die Partei agiert heute in einem anderen Umfeld als noch 2019. Die Kriegs- und (Corona-)Krisenjahre sind gerade an den Grünen nicht spurlos vorübergegangen. Die grassierende antigrüne Meinungsmache hat zur Folge, dass die Grünen, obwohl sie in der Regierung höchst angepasst agieren, als radikale Ideologen wahrgenommen werden. Die fatale Konsequenz: Die Wähler:innenkoalition, auf der der Erfolg der Grünen einst beruhte, ist inzwischen zerbrochen.
Zerbrochene Wähler:innenkoalition
Sammelte sich zur Europawahl 2019 und auch zur Bundestagswahl 2021 eine ungewöhnliche Allianz aus konservativen Naturbewahrer:innen bis hin zu linken Klimagerechtigkeitsaktivist:innen um die Klimafrage, sind heute große Teile auf beiden Seiten dieses Bündnisses getürmt – die einen aufgrund der Klimapolitik in der Ampelregierung, die anderen gerade aufgrund des Fehlens einer solchen.
Hinzu kommt, dass die Klimakrise für die Wahlentscheidung der Bürger:innen insgesamt an Bedeutung eingebüßt hat: War sie bei der Europawahl 2019 noch für die Mehrheit der wahlentscheidende Faktor, galt dies in diesem Jahr für gerade einmal 14 Prozent.[7] Von den verbliebenen überzeugten Klima-Wähler:innen sind wiederum viele inzwischen enttäuscht von der unzureichenden Transformationspolitik der Grünen in der Regierung: Sahen bei der Europawahl 2019 noch über die Hälfte der Wähler:innen die höchsten Kompetenzen für Umwelt- und Klimapolitik bei den Grünen, mussten sie in diesem Jahr einen Kompetenzverlust von 23 Prozent verzeichnen. 24 Prozent der Wähler:innen sehen inzwischen bei gar keiner Partei mehr eine Kompetenz für Klimapolitik.[8]
Wie parteipolitisch heimatlos sich Teile der grünen Kernwählerschaft inzwischen fühlen, zeigen unter anderem die vielen neuen Initiativen für Parteineugründungen im zivilgesellschaftlichen „Vorfeld“ der Grünen, ob aus der Migrations-, Freiheitsrechte- oder Klimabewegung. Elektoral schlug sich die Enttäuschung bisher vor allem bei den Jungwähler:innen nieder: Bei der jüngsten Europawahl erzielte Volt bei den 16-24-Jährigen ein weit überdurchschnittliches Ergebnis von acht Prozent, während die Grünen, die in der Vergangenheit immer besonders hohe Ergebnisse unter jungen und Erstwähler:innen hatten, in dieser Altersgruppe 23 Prozent verloren und nur noch auf 10 Prozent kamen.[9] Kurzum: Nicht nur im Vorstand der Grünen Jugend, auch bei den Wähler:innen gehen junge Linke von Bord und lassen die Grünen als Öko-Boomer-Partei zurück.
Auf der anderen Seite des grünen Spektrums standen bei der letzten Bundestagswahl konservative Wähler:innen, die das Klimathema vorübergehend als wichtigstes Thema adoptiert hatten. Dieses Potenzial ist inzwischen sowohl dem Streit in der Ampelregierung als auch den als zu radikal wahrgenommenen grünen Politikvorstößen zum Opfer gefallen. Und die Anti-Grünen-Rhetorik von Merz und Söder trägt das ihre dazu bei.
Hinzu kommt: Mit dem Ukrainekrieg und der Inflation rückte die Wirtschaftspolitik wieder in den Fokus der Wähler:innen, zwar zugunsten der Union. Aber auch im Klimabereich haben die Konservativen spätestens mit den Aktionen der „Letzten Generation” einen „guten” Grund bekommen, gegen „radikale” Klimapolitik zu sein; auch das fällt auf die Grünen zurück. Die einstige Wähler:innenkoalition aus Klimabewegten und Konservativen existiert daher nicht mehr. Den einen sind die Grünen zu konservativ, den anderen zu radikal. Somit ist es heute kaum möglich, beide Seiten zurückzugewinnen – das ist das grüne Dilemma.
Habeck, Brantner und Banaszak suchen die verlorenen Wähler:innen nun dezidiert in der „Mitte”; doch das Problem ist, dass es diese breite Mitte nicht mehr gibt und sie wegen der immer diverseren Lebensrealitäten und Weltanschauungen kaum adressierbar ist.
Gefragt: Sozial-ökologische Politik
Was aber ist der Weg nach vorn für die Grünen, wenn der Mitte-Kurs nicht mehr trägt? Anstatt mit weichgespülten Botschaften und dem „Sowohl-als-auch-Kurs“ der letzten Jahre weiterzumachen, kommt es darauf an, dass die Grünen ihre Kernwähler:innen mobilisieren und offen den Konflikt mit einer nach rechts driftenden Merz-Union und der FDP suchen, die sich jedem noch so sinnvollen Reformvorschlag verweigern. In der Parteizentrale scheint jedoch ein anderes Kalkül zu herrschen, dass nämlich die Grünen um die links-progressiven Wähler:innen gar nicht kämpfen müssen, da es ob der desolaten Lage der Linken im Parteienspektrum keine ernstzunehmende Alternative zu den Grünen gebe.
Doch angesichts des jetzt bereits anhebenden Wahlkampfs ist dieses Kalkül ein fataler Fehler. Die Kommunikationsforschung weist darauf hin, dass die direkte Ansprache den größten Einfluss auf das Wahlverhalten hat. Menschen müssen Wahlkampfbotschaften wie einen Staffelstab weitergeben, um die Wähler:innen zu erreichen und eine neue Aufbruchsstimmung zu erzeugen.[10] Wenn jedoch die Gruppe der Kernwähler:innen nur noch mit zusammengebissenen Zähnen in der Wahlkabine ihr Kreuz bei den Grünen macht, wird sie keine weiteren Wähler:innen mehr überzeugen.
Daher müssen die Grünen deutlich weitergehen als der Leitsatz des jüngsten grünen Zukunftskongresses: „Ein Deutschland, das funktioniert”. Mit einem eindeutig klima- und sozialpolitisch ausgerichteten Kurs könnte die Partei auch Wähler:innen erreichen, die zwar heute schon mit ihr sympathisieren, bisher aber SPD oder Kleinstparteien gewählt haben. Dafür käme es darauf an, auf die ökologische Modernisierung der Infrastruktur zu setzen und den Gewinn des sozial-ökologischen Umbaus im Hier und Jetzt hervorzuheben. Das Ende der Schuldenbremse als „Investitionsbremse”, eine Milliardärssteuer und eine gezielte Subventionspolitik für den klimaneutralen Bahnausbau könnten Ansätze für diesen neuen Kurs sein.
Daneben müsste ein Fokus auf der Gleichstellung von Frauen und der Frage der reproduktiven Selbstbestimmung liegen. Indem die Grünen ihre gesellschaftspolitisch liberalen Positionen stärker nach vorn stellen, könnten sie auch der FDP noch etliche Stimmen abziehen. Wenn es den Grünen so gelingt, ihre Konfliktaversion in der Ampelkoalition hinter sich zu lassen, werden sie progressive Wähler:innen weit eher mobilisieren und so mit ihrem starken Kommunikator und Spitzenkandidaten Habeck punkten können.
Die entscheidende Frage für die verbleibende Zeit der Ampelregierung lautet daher für die Grünen: Schaffen sie es, aus ihrem staatstragenden Kompromissdogma auszubrechen und in den Wahlkampfmodus umzuschalten, sprich: die weiter so dringend erforderliche klimapolitische und soziale Transformation gemeinsam scharf zu stellen und verständlich zu kommunizieren? Dann kann der Neuanfang tatsächlich begeistern – und zwar zuallererst jene, die im gesellschaftlichen Umfeld für die grünen Anliegen werben können und wollen.
[1] „Aachener Zeitung“, 31.5.2022.
[2] Stephan Lessenich, Bleibt alles anders, soziopolis.de, 14.1.2021.
[3] „Pragmatischer Radikalismus in Person“, detektorfm.de, 28.8.2017.
[4] Sich öffnen ist die Stärke, Blog Robert Habeck, 28.3.2019.
[5] Helene Bubrowski, Kompromisse sind die Kunst von Politik, faz.de, 28.1.2022.
[6] Kristina Hofmann, GEG Habeck korrigiert Versuchskaninchen-Vergleich, zdf.de, 29.5.2024.
[7] Vgl. die Nachwahlbefragungen auf tagesschau.de.
[8] Wem trauen Wählende gute Lösungen zu?, tagesschau.de 22.7.2024.
[9] Europawahl 2024, tagesschau.de.
[10] Anat Schenker-Osorio im „Was tun?-Podcast“, was-tun.podigee.io, 24.8.2024.