
Bild: Schutzsuchende müssen schneller und besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. So wie dieser Mann aus Kurdistan, der eine Ausbildung zum Lokführer macht, 29.3.2023 (Lars Heidrich / IMAGO / Funke Foto Services)
Nach den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg muss man eines feststellen: Die Übernahme von AfD-Positionen in Fragen von Migration und Zuwanderung führte mitnichten dazu, dass Wählerinnen und Wähler CDU, SPD, Grüne oder das BSW anstelle der AfD wählten. Wer geschlossene Grenzen und die Ausweisung von hier mitunter seit Jahrzehnten Lebenden wünscht und Migration als das größte Problem des Landes sieht, wählte das Original. Das Ergebnis: Nun verfügt die AfD in zwei der drei Landtage über eine Sperrminorität und wird ihre Macht genüsslich gegen das parlamentarische System und die demokratische Verfasstheit ausspielen.[1]
Infolge des Messerangriffs in Solingen, bei dem ein mutmaßlich vom IS indoktrinierter 26-jähriger Syrer drei Menschen ermordete und zahlreiche weitere verletzte, erlebten wir den endgültigen Dammbruch im öffentlichen Diskurs wie im politischen Handeln zum Thema Migration: Mit Ausweisungen nach Afghanistan, Grenzkontrollen innerhalb Europas, deren Wirksamkeit die Polizei massiv infrage stellt, und Initiativen für eine schlechtere, grundgesetzwidrige Versorgung von Geflüchteten implementierten die demokratischen Parteien AfD-Forderungen. Das ist für die politische Debatte fatal – aber auch weit darüber hinaus, nämlich für die deutsche Wirtschaft.
Aktuell beherrschen fünf falsche Behauptungen zur Zuwanderung den politischen Diskurs und das Handeln der Bundes- wie Landesregierungen. Sie werden katastrophale soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland und Europa haben. Diese Entscheidungen dürften sich als das größte Versagen der Bundesregierung erweisen.
Zuallererst: Bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt, insbesondere von Islamisten und ausländischen Straftätern, sind zweifelsohne richtig und notwendig. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses, der Migration als größtes Problem Deutschlands darstellt und Geflüchteten und Ausländer:innen pauschal mit Misstrauen begegnet, ist jedoch falsch und schädlich.
Wohlstand braucht Zuwanderung
Ein erster Schritt zur Versachlichung wäre es, mit den falschen Behauptungen über Zuwanderung aufzuräumen. Eine solche Behauptung ist, dass Zuwanderung in erster Linie ein Problem sei. Umfragen des European Council on Foreign Relations[2] zufolge geben 35 Prozent der Deutschen an, Migration sei heute das größte Problem für Deutschland. Dies sind knapp dreimal mehr als im Rest Europas, wo lediglich zwölf Prozent der Befragten dies so sehen.
Diese Wahrnehmung ist so erstaunlich, weil der heutige Wohlstand Deutschlands ohne hohe Zuwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Fast 30 Prozent der hier lebenden Menschen haben ausländische Wurzeln, sind also selbst zugewandert oder Kinder von Zugewanderten. Der zukünftige Wohlstand wird noch sehr viel stärker davon abhängen, ob die Bundesrepublik attraktiv für Zuwanderung ist und ob ausreichend Arbeitskräfte kommen wollen, denn Überalterung und Fachkräftemangel sind im gesamten Bundesgebiet ein Problem. Allerdings stehen wir insbesondere in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt vor riesigen demografischen Herausforderungen. Diese drei Länder werden künftig am stärksten unter Geburtenrückgang und Bevölkerungsexodus leiden. Seit den jüngsten Wahlen häufen sich darüber hinaus Berichte, dass Menschen mit Migrationsgeschichte diese Regionen verlassen wollen.
In den nächsten zehn Jahren werden im ganzen Bundesgebiet fünf Millionen Beschäftigte mehr in den Ruhestand gehen, als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Diese Lücke wird nicht allein durch eine stärkere Frauenerwerbstätigkeit oder die Mobilisierung von Arbeitslosen geschlossen werden können. In den kommenden 15 Jahren könnte ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie schlichtweg keine Beschäftigten mehr finden können.
Die zweite irreführende Behauptung ist, dass die „falschen“ Menschen nach Deutschland kommen würden, weil es Personen seien, die eine andere Kultur und Religion haben oder die meist gering qualifiziert seien, die Wirtschaft aber deutlich mehr hochqualifizierte Fachkräfte benötige. Man müsse daher die sogenannten Pull-Faktoren schwächen, also soziale Leistungen kürzen, Bezahlkarten und harte Wohnsitzauflagen einführen oder Migranten erst später Zugang zur vollen Gesundheitsversorgung ermöglichen. Eine Studie für Dänemark zeigt, wie kontraproduktiv dieser Kurs sein kann.[3] Denn gekürzte Leistungen erhöhen die Armut und erschweren die Integration. Und sie reduzieren die Zuwanderung von Menschen mit geringen Qualifikationen nur geringfügig. Dagegen reduzieren sie die Migration von Menschen, die wir heute dringend benötigen, nämlich von qualifizierten Ingenieurinnen, Pflegekräften und IT-Programmierern. Denn diese Menschen haben vielfältige Optionen und werden weiterhin einen großen Bogen um Deutschland machen, wenn Migration eigentlich nicht gewünscht ist.
Mehr Integration fördern, nicht weniger!
Einige Lobbyorganisationen behaupten gar, ausländische Arbeitskräfte mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen seien ein Verlust für Deutschland, weil diese schlichtweg zu wenig Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlten. Diese Behauptung ist falsch, weil ein Unternehmen und auch eine Wirtschaft als Ganzes nur im Team, im Zusammenspiel von Beschäftigten und wirtschaftlichen Akteuren funktionieren kann. Die Pandemie sollte uns allen bewusst gemacht haben, dass unser tägliches Leben ohne die systemrelevanten Beschäftigten in der Pflege, dem Gesundheitswesen, der Grundversorgung in den Supermärkten oder im öffentlichen Nahverkehr nicht funktionieren kann – also meist Beschäftigte, die unterdurchschnittlich verdienen. Hier wären also vor allem auskömmliche Löhne zu fordern. Zudem ist der Mangel an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen bereits heute so riesig, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut alle 3,2 Millionen hier Schutzsuchenden in Arbeit bringen kann.
Die dritte falsche Behauptung lautet, dass man sich primär auf die Steuerung der Migration statt auf die Integration von Migranten fokussieren sollte. Manche Politiker überbieten sich mit ihren Vorschlägen darüber, wie Abschiebungen im großen Stil stattfinden sollten oder wie man Menschen in Zukunft davon abhalten könnte, nach Deutschland zu kommen. Die Forderung mancher Politiker demokratischer Parteien nach einer konkreten Obergrenze von beispielsweise 200 000 Migrantinnen und Migranten pro Jahr ist perfide, weil sie den Fokus des Diskurses verschiebt. Eine solch konkrete Zahl ist unmöglich zu benennen und die Vorstellung, Deutschland könne Zuwanderung frei wählen und die Grenzen schnell und kategorisch schließen, wenn die Höchstzahl erreicht ist, ist schlicht absurd. Steuerung ist nur begrenzt möglich, das haben der Krieg in Syrien wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mit ihren Fluchtfolgen eindrücklich gezeigt.
Bei den Forderungen nach mehr Abschiebungen wird viel zu häufig die wesentlich wichtigere Frage ignoriert, wie die hier Schutzsuchenden schneller und besser in den Arbeitsmarkt und damit die Gesellschaft integriert werden können. Die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker sollten ihren Erfolg in der Migrationspolitik nicht daran messen, wie viele Menschen sie abschieben, sondern wie gut und schnell sie Schutzsuchende integrieren können. Hinzu kommt: Gerade unter den ukrainischen Geflüchteten zeigt sich, wie wichtig eine klare Bleibeperspektive ist, um in Deutschland anzukommen und damit auch die Chancen auf einen Job deutlich zu erhöhen. Daher sollte die Bundesregierung dringend Reformen vornehmen und die Bleibeperspektiven für alle Schutzsuchenden in Deutschland verbessern.
Hohe Erwerbsquoten
Die vierte falsche Behauptung ist, die Integration von Geflüchteten sei eine Geschichte des Scheiterns und des Misserfolgs. Tatsächlich waren Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren sehr viel erfolgreicher bei der Integration, als wir realistisch hätten erwarten können.
Ein sehr viel höherer Anteil der Geflüchteten ist besser als angenommen und dauerhaft in Arbeit gekommen und hat die deutsche Sprache erlernt. Die OECD hat kürzlich Deutschland bei einigen Elementen, wie der Sprachvermittlung, explizit gelobt und unterstrichen, dass die Bundesrepublik dies besser mache als die meisten Nachbarländer.[4] Ein anderes Beispiel: 86 Prozent der Männer, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland flüchteten, sind heute in Arbeit – von diesen Männern ist also ein höherer Anteil in Arbeit als unter den deutschen Männern.[5]
Natürlich gibt es auch Misserfolge. Doch die aktuell von FDP-Finanzminister Christian Lindner geplanten Kürzungen bei Integrationskursen und von Unterstützungsleistungen sowie die Erhöhung der Hürden, sind hierbei kontraproduktiv: Sie werden die Misserfolge vervielfachen und die Integration erschweren, die Anzahl der Fachkräfte reduzieren und den deutschen Staat langfristig sehr viel mehr Geld kosten als die Finanzierung der Integrationsmaßnahmen. Wir verzeichnen schon heute 1,7 Millionen offene Stellen. Und wenn in den nächsten zehn Jahren fünf Millionen Menschen in den Ruhestand gehen, dann braucht es jährlich eine halbe Million neuer Arbeitskräfte. Und diese wollen nicht allein kommen. Sie wollen ihre Kinder und Partnerinnen oder Partner mitbringen. Das wird eine gigantische Herausforderung sein. Will Deutschland sie meistern, muss es sich ändern und öffnen.[6] Eine schnellere und bessere Anerkennung von Qualifikationen, weniger Bürokratie und regulatorische Hürden, bessere Unterstützung für Unternehmen und für Kommunen sowie deutlich mehr Bemühungen bei der Betreuung der Kinder sind nur einige Beispiele, wo die wirklichen Lösungen vieler Probleme liegen.
Die fünfte falsche Behauptung ist, dass Menschen in Deutschland weniger Unterstützung erhalten, weil nun Geflüchtete bei uns sind. Dieses Nullsummendenken ist eine der Ursachen, wieso der Populismus und die oben genannten falschen Behauptungen zur Migration bei so vielen Menschen in Deutschland verfangen.[7] Fakt ist jedoch, dass praktisch alle der genannten Probleme auch schon vor der höheren Zuwanderung von Geflüchteten existierten und dass es Deutschland auch nicht am Geld mangelt, um in Bildung, Infrastruktur oder Innovation zu investieren oder die Daseinsfürsorge für alle sicherzustellen. Im Weg steht diesen Investitionen zum einen das ideologische Festhalten an der Schwarzen Null und zum anderen die Weigerung, hohe Vermögen angemessen dafür heranzuziehen. Dieses Nullsummendenken führt dazu, dass es Populisten gelingt, verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen und Menschen mit wenig Einkommen und in strukturschwachen Regionen zu suggerieren, ihnen ginge es besser, wenn wir nur andere verletzliche Gruppen schlechter behandeln würden.
In der Tat ist die AfD insbesondere in strukturschwachen Regionen stark, wo Schulen schließen und Firmen abwandern. Deswegen brauchen diese neue wirtschaftliche Impulse. Die Politiker der demokratischen Parteien müssen daher nicht nur ehrlicher kommunizieren, was die Politik wirklich leisten kann, sondern es muss auch wieder mehr in die öffentliche Infrastruktur – vom Nahverkehr und Brücken über Kitas und Schulen bis hin zu Gesundheitseinrichtungen – investiert werden.
Moralische Bankrotterklärung
Doch davon kann keine Rede sein. Vielmehr vergrößern der aktuelle öffentliche Diskurs und die geplanten und bereits beschlossenen Verschärfungen gegenüber Zuwanderern und Geflüchteten die soziale Polarisierung. Sie erhöhen die politische Spaltung und werden AfD und BSW stärker und nicht schwächer machen – weshalb demokratische Parteien wählen, wenn das „Original“ sich letztlich durchsetzt?
Es ist eine moralische Bankrotterklärung unserer Gesellschaft, Familien an der Grenze zurückzuweisen und in Lagern verwahren zu wollen. Wir laufen damit Gefahr, das individuelle Recht auf Asyl im Grundgesetz zu verletzen und mit der Genfer und der europäischen Menschenrechtskonvention zu brechen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für Europa und die europäischen Nachbarn, die Opfer des nationalen Alleingangs Deutschlands sind. Und die Grenzschließungen richten einen enormen wirtschaftlichen Schaden an, weil sie Menschen von ihrem Arbeitsplatz fernhalten und den Handel blockieren – und weil sie ein fatales Signal an ausländische Fachkräfte senden, besser nicht nach Deutschland zu kommen.
Der Diskurs über Migration in Deutschland ist so emotional geworden, dass einige sich nicht mehr trauen, dem falschen Narrativ der Feinde von Demokratie und Vielfalt die Stirn zu bieten. Unternehmen befürchten den Widerspruch ihrer Belegschaft und Kundschaft. In der Politik befürchten viele, dass noch mehr Wähler zur AfD laufen. Die Akzeptanz dieser falschen Behauptungen über Migration wird jedoch keines der Probleme lösen, sondern die Gesellschaft weiter polarisieren, die Demokratie aushöhlen, die AfD stärken und den wirtschaftlichen Wohlstand schmälern.
[1] Vgl. dazu: Maximilian Steinbeis, Von der Opposition zur Obstruktion. Die drohende Blockademacht der AfD in Thüringen, in: „Blätter“, 9/2024, S. 53-62.
[2] Ivan Krastev und Mark Leonard, A new political map: Getting the European Parliament election right, ecfr.eu, 21.3.2024.
[3] Ole Agersnap et al., The Welfare Magnet Hypothesis: Evidence From an Immigrant Welfare Scheme in Denmark, Oktober 2019.
[4] Yves Breem, Helen Ewald, Alina Winter et al., OECD-Bericht Deutschland: Stand der Integration von Eingewanderten, migrant-integration.ec.europa.eu, 8.7.2024.
[5] Herbert Brücker, Maye Ehab, Philipp Jaschke et al., Verbesserte institutionelle Rahmenbedingungen fördern die Erwerbstätigen, doku.iab.de, 18.4.2024.
[6] Simon Poelchau, Chef des DIW warnt vor AfD-Politik, taz.de, 5.9.2024.
[7] Marcel Fratzscher, Das Nullsummen-Denken verhindert Lösungen, zeit.de, 12.4.2024.