
Bild: Markus Söder, Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Saskia Esken auf dem Weg zu einem Pressetermin zu den Sondierungsgesprächen, 8.3.2025 (IMAGO / dts Nachrichtenagentur)
Die erneute schwarz-rote Koalition ist noch nicht im Amt, da muss bereits von einem Fehlstart gesprochen werden. Denn die Regierung Merz geht mit gewaltigen Hypotheken belastet in diese Legislaturperiode. Hypotheken, die aber die beiden Koalitionspartner gerade zusammenschweißen dürften.
Hypothek Nummer eins: die zweifelhafte Legitimation des Billionenpakets. Dass mit dem alten Bundestag noch derart fundamentale, in ihrem Umfang historisch beispiellose Schuldenpakete durchgesetzt wurden – schlicht, weil im bereits gewählten neuen die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit in der Form nicht vorhanden ist –, ist laut Bundesverfassungsgericht zwar rechtlich zulässig, bleibt unter demokratischen Gesichtspunkten aber höchst zweifelhaft.
Hypothek Nummer zwei: der Kanzler in spe. Durch das Billionenpaket haben die Union und speziell Friedrich Merz einen enormen Vertrauensverlust erlitten. Merz hatte im Wahlkampf die „schwäbische Hausfrau“ markiert und mit seiner Union eine Reform der Schuldenbremse vehement abgelehnt, obwohl deren Notwendigkeit schon zu diesem Zeitpunkt unbestreitbar war. Dass er diese Position unmittelbar nach der Wahl mit dem Schuldenpaket über den Haufen geworfen hat, ist zwar in der Sache richtig, doch stellt es, wenn nicht einen zweiten Wortbruch nach seiner Abstimmung mit der AfD im Bundestag, so doch zumindest einen Fall von erheblicher Wählertäuschung dar. Damit steht die Glaubwürdigkeit der Union und insbesondere des Kanzlers massiv in Frage.
Hypothek Nummer drei: die Schwäche der Koalition wie der politischen Mitte insgesamt. Schwarz-Rot ist definitiv keine „große Koalition“ mehr, sondern die letzte kleine. Tatsächlich handelt es sich um den Zusammenschluss zweier Wahlverlierer, der SPD mit ihrem historisch schlechtesten Ergebnis, erstmalig weit unter 20 Prozent, und der Union mit ihrem historisch zweitschwächsten, nur vier Prozentpunkte über dem Laschet-Desaster von 2021 – während die AfD im gleichen Zeitraum ihr Ergebnis glatt verdoppeln konnte, auf 20,8 Prozent.
Damit ist Merz mit seiner bei Angela Merkel, ob gewollt oder ungewollt, abgeschauten Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ fundamental gescheitert. Genau wie von der Langzeit-Kanzlerin gegenüber der SPD erfolgreich praktiziert, indem sie deren soziale Themen kopierte, versuchte Merz die AfD zu minimieren, indem er ihr Kernthema, die Migrationsbekämpfung, übernahm. Faktisch hat er die AfD dadurch massiv gestärkt – und zugleich eine „antifaschistische Gegenreaktion“ hervorgerufen, die nicht zuletzt der Linkspartei ein sensationelles Ergebnis bescherte. Merz agierte, als wolle er die Wahlkampfparole der SPD nachträglich ins Recht setzen: „Kein Praktikant ins Kanzleramt“.
Letztlich ist das Zustandekommen dieser, vielleicht letzten, „GroKo“ nur einem doppelten Ausfall – von FDP und BSW – geschuldet. Hätte das BSW am Ende nur 0,02 Prozent mehr gewonnen, hätte es zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik für SPD und CDU/CSU nicht mehr zu einer „großen Koalition“ gereicht. Dann wären Union und SPD schon für die einfache und nicht bloß für die Zweidrittel-Mehrheit beim Billionenpaket auf eben jene Grünen angewiesen gewesen, die insbesondere CSU-Chef Markus Söder während des gesamten Wahlkampfes und darüber hinaus dämonisiert hatte. Was wäre eine solche Kenia-Koalition für eine Steilvorlage für den Protest der AfD gewesen!
Angesichts dieser neuen Lage, einer schmal gewordenen Mitte bei massiv erstarkter AfD, ändert sich der Charakter der großen Koalition fundamental. Früher, beginnend mit der ersten tatsächlich Großen Koalition von 1966 bis 69 mit sage und schreibe 86,9 Prozent, war diese eine reine Übergangsregierung, so etwas wie das Absprungbrett für folgende kleinere Koalitionen. Und auch noch bei der zweiten GroKo von 2005 konkurrierten SPD und CDU/CSU um die nächste kleine Koalition: Rot-grün gegen Schwarz-gelb, was dann ab 2009 folgte. Nur weil Union und die Grünen 2013 zu Schwarz-grün aus ideologischen Gründen noch nicht in der Lage waren, folgte eine weitere GroKo. Erst 2017 war eine kleine Zwei-Parteien-Koalition nicht mehr möglich, begann die Phase potenzieller Dreier-Koalitionen, einer größeren Partei mit zwei kleinen. Doch mit dem Scheitern Jamaikas folgte GroKo Nummer 4. Mit dem Ausscheiden der FDP ist nun auch die Jamaika- bzw. Ampel- Phase beendet. Heute ist GroKo Nummer 5 die letzte verbleibende Option. Die entscheidende Frage, die damit im Raum steht, lautet: Welches Potenzial hat diese Schrumpfkoalition? Kann sie stärker aus der Legislaturperiode hervorgehen, oder braucht es beim nächsten Mal möglicherweise auch noch die Grünen als allerletzte Regierungsreserve gegen die erstarkende AfD? Denn danach kommt definitiv nichts mehr – allenfalls eine Minderheitsregierung –, solange mit der Linken (noch) kein Staat zu machen ist. Und für die AfD gilt das ohnehin.
Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass es nun – in der wohl größten Krise der bundesrepublikanischen Demokratie, nach außen gegen Putin und Trump, nach innen gegen die AfD – ausgerechnet die beiden alten, hochgradig angeschlagenen bundesrepublikanischen Volksparteien werden richten müssen, all den Hypotheken zum Trotz. Nein, diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Doch gerade das könnte Schwarz-rot jetzt zum Vorteil gereichen.
Der Osten als Avantgarde
Denn während bei der Ampel die Bäume der angeblichen „Fortschrittskoalition“ regelrecht in den Himmel der Selfie-Besoffenheit wuchsen, sind die Erwartungen bei Merz und Co. so niedrig, dass sie eigentlich nur übertroffen werden können. Eigentlich haben CDU/CSU und SPD jetzt vier Jahre Zeit, um die Reformpakete wirken zu lassen. Denn anders als bei der Ampel befindet sich keine FDP in der Regierung, die ein Interesse daran haben könnte, die Koalition aus Angst vor dem eigenen Untergang bereits ein Jahr vor ihrem Ende platzen zu lassen. Es stellt sich aber ein anderes Problem. Im bundesrepublikanischen Föderalismus lautet die Maxime: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Und schon das Jahr 2026 droht zu einem weiteren bundesdeutschen Schicksalsjahr zu werden, mit den so entscheidenden Wahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Sollte die große Koalition bis dahin nicht Fuß fassen und so den bisher aus Berlin kommenden Gegenwind gegen die dortigen Regierungen abschwächen, wären Landesregierungen mit der AfD fast unvermeidbar. In Mecklenburg-Vorpommern konnte die AfD bei der Bundestagswahl ihr Ergebnis von 2021 fast verdoppeln, auf 35 Prozent der Stimmen. Die CDU erreichte dort 17,8 Prozent, lediglich 0,4 mehr als 2021. Noch fataler ist die Lage in Sachsen-Anhalt: Die CDU verlor dort sogar 1,8 Prozent gegenüber ihrem Ergebnis von 2021 und steht bei nur noch 19,2 Prozent, während die AfD 17,5 Punkte zulegte und 37,1 Prozent erzielte. Noch können starke Ministerpräsidenten wie Manuela Schwesig und Rainer Hasseloff die AfD dort von der Regierung fernhalten. Doch gehen die Werte der Rechtsradikalen weiter in Richtung der 40-Prozent-Marke, wird das irgendwann nicht mehr möglich sein. Ostdeutschland wird damit immer mehr zum Labor einer möglichen Entwicklung in ganz Deutschland, wie die AfD-Siege in den alten Arbeiterstädten Gelsenkirchen und Kaiserslautern zeigen.
Adenauer als Messlatte
Speziell mit Blick auf den Osten betreibt die AfD längst eine Politik mit Peitsche und Zuckerbrot: Auf der einen Seite gilt der alte Gauland-Satz „Wir werden euch jagen“, auf der anderen Seite die vergiftete Politik der ausgestreckten Hand: „Wir sind jederzeit bereit, mit euch eine Koalition einzugehen.“ Nun muss Friedrich Merz beweisen, ob er tatsächlich, wie von ihm einst versprochen, in der Lage ist, die Stimmenanteile der AfD zu halbieren. Mit Blick speziell auf Ostdeutschland ist da offensichtlich noch viel Luft nach oben: „Verschiedene Typen sprechen verschiedene Gruppen an. Und Friedrich Merz ist sicher jemand, der eher das Sauerland verkörpert“, erklärt dazu lakonisch seine Vor-Vorgängerin Angela Merkel in der „Berliner Zeitung“.
Die GroKo als zum Erfolg verdammte Schicksalsgemeinschaft gegen die AfD: Das ist die historische Aufgabe, unter der diese Koalition jetzt zustande kommt. Viel ist mittlerweile vom „letzten Schuss“ (Markus Söder) die Rede. Dahinter verbirgt sich eine gefährliche self-fullfilling prophecy. Denn die Berliner Republik ist genauso wenig zum Scheitern verdammt, wie die Weimarer Republik scheitern musste. Zur Erinnerung: Weimar wurde nicht zuletzt zum Verhängnis, dass die junge Republik eine Abfolge immer kurzlebigerer Regierungskonstellationen erlebte. Dagegen ist die Ampel die einzige Koalition der Bundesrepublik, die nach nur drei Jahren scheiterte. Die beiden kurzen Unions-geführten Koalitionen unter Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger waren im Gegensatz dazu noch immer die letzten Ausläufer der langen CDU/CSU-Regierungsphase von 1949 bis 1969, vor dem ersten „Machtwechsel“ zu Willy Brandt.
Mit dieser neuen Berliner Kurzatmigkeit muss die Regierung Merz wieder brechen. Worauf es für die GroKo daher ankommt, ist, aus der Misere der Ampelkoalition, ihrer fatalen Lose-Lose-Lose-Konstellation, eine Win-Win-Situation zu schaffen. Dafür muss aber auch das verhindert werden, was in den Merkel-Jahren stets der Fall war: dass die Koalitionspartner der Union, ob SPD oder FDP, durch Kannibalisierung immer schwächer wurden. Union und SPD sind zum gemeinsamen Erfolg förmlich verdammt. Aus dieser kleinstmöglichen großen Koalition ein Erfolgsprojekt zu machen, ist eine gewaltige Herausforderung. Denn sie ist gegenwärtig der größten Krise der Bundesrepublik ausgesetzt – im Inneren, zwecks Abwehr der AfD, wie aber auch im Äußeren.
Die Messlatte für Merz ist Adenauer, stellt Ex-Außenminister Joschka Fischer im „Zeit“-Interview in Bezug auf die Verteidigungspolitik fest. Tatsächlich kommt sogar noch eines erschwerend hinzu: Während nach 1945 die Vereinigten Staaten als Alliierter und Freund der Bundesrepublik agierten, kann davon heute nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil: Die USA sind zu einem Gegner, ja vielleicht sogar einem Feind des demokratischen Europas geworden. Umso mehr muss Merz jetzt das gelingen, woran Adenauer aufgrund des französischen Rückzugs 1954 gescheitert ist: die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Eine Folge dieses Scheiterns war vor bald 70 Jahren, am 6. Mai 1955, der Beitritt der Bundesrepublik zur Nato, in deren Rahmen dann die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik stattfand, samt Einführung der Wehrpflicht.
Damit aber zeigt sich eine vierte und letzte Hypothek dieser Regierung. So sehr ihr das Billionen-Schuldenpaket das Regieren erleichtert, kann es auch eine fatale Versuchung sein. Denn eine Politik nach der Kir-Royal-Methode – „Isch scheiß dich sowat von zu mit meinem Geld“ (Mario Adorf) – wird für den erforderlichen Politikwechsel nicht reichen, und zwar weder im Äußeren noch im Inneren. So oft Friedrich Merz heute auch vom Ernstfall reden mag: Eine Ernstfallmentalität im Lande erzeugt das Billionen-Paket keineswegs. Im Gegenteil: Man kann die Erleichterung förmlich spüren, dass mit all den Milliarden die Probleme der nächsten Jahre rein ökonomisch „bewältigt“, um nicht zu sagen zugeschüttet werden sollen.
Tatsächlich gibt das erhoffte Anspringen der Wirtschaft durch die erwarteten Investitionen in die Infrastruktur ja durchaus Anlass zu Optimismus. Doch die grundlegenden, darunter liegenden Probleme werden damit allein noch nicht bewältigt. Wenn deshalb angesichts der geplanten staatlichen Ausgabenprogramme jetzt immer wieder von einem New Deal im Sinne der Rooseveltschen Reformen der 1930er Jahre die Rede ist, muss auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen werden. Der frühere US-Präsident erhob in seiner Amtszeit Erbschaftssteuern von über 90 Prozent, um das Land zu sanieren und den Krieg gegen Nazi-Deutschland zu finanzieren. Sprich: Roosevelt praktizierte eine Umverteilungspolitik dezidiert zulasten der starken Schultern. Heute ist angesichts der von der Union angestrebten Steuersenkungen eher das Gegenteil zu befürchten. Wirklich mutig wäre es daher von Friedrich Merz gewesen, hätte er seiner eigenen, besser situierten Klientel wirklich etwas zugemutet, auch finanziell. So aber droht bei vielen der Eindruck zu entstehen, das Geld allein werde es schon richten, und man könne einfach so weitermachen wie bisher.
Am Ende war es ironischerweise den Grünen zu verdanken, dass ein Teil der Investitionen in die Zukunft getätigt wird. Mit „Wolfgang Schäuble würde sich im Grabe umdrehen“ (so die Parteivorsitzende Franziska Brantner) plädierten sie für eine Begrenzung der Ausnahmen von der Schuldenbremse und traten als die eigentlichen Sachwalter des Ordoliberalismus auf.
Dahinter verbirgt sich die entscheidende Einsicht: Geld allein wird für die Zukunftsfähigkeit wie für die Verteidigung des Landes nicht reichen. Ob eine schlagkräftige Armee oder bessere Schulen: Dafür braucht es neben besserer Ausstattung auch hoch motivierte, jederzeit einsatzbereite Soldatinnen und Soldaten und eine hinreichende Anzahl an Lehrerinnen und Lehrern. Nein, Friedrich Merz ist kein neuer Roosevelt – und schon gar nicht ein neuer Winston Churchill. Dieser versprach seinem Land im Krieg gegen Nazi-Deutschland bekanntlich nur „Blut, Schweiß und Tränen“. Gewiss, derart heroisches Pathos ist Deutschland nach bald 80 Jahren in Frieden, Freiheit und Wohlstand verständlicherweise völlig fremd und zum Glück auch (noch) nicht erforderlich. Aber vielleicht könnte Friedrich Merz, um das erforderliche Ernstfallbewusstsein zu schaffen, wenigstens bei seinem Vorvorgänger Helmut Kohl eine kleine Anleihe nehmen. Denn ohne eine „geistig-moralische Wende“ im Sinne größeren Einsatzes für die öffentlichen Angelegenheiten nach drei privatistischen Jahrzehnten, gerade auch bei den Bessersituierten, wird der tatsächlich erforderliche Politikwechsel nicht gelingen. Es ist an der Zeit.