Die postliberale Ideologie oder: JD Vance verstehen

Bild: Vizepräsident JD Vance beim National Catholic Prayer Breakfast, 28.2.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire)
Seit Putins Vollinvasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ringt das demokratische Europa nicht nur mit diesem fundamentalen Angriff auf seine territoriale Integrität, sondern auch mit seiner Geschichtsphilosophie. Pflichtschuldig wird in politischen Reden eingestanden, man habe sich geirrt in der Überzeugung, die Zeitenwende von 1989 markiere ein „Ende der Geschichte“ und Demokratie, Freiheit und Frieden würden sich in geschmeidigem Automatismus über den Globus ausbreiten. Nichtsdestotrotz gerät die Auseinandersetzung mit der post-posthistorischen Gegenwart oft erstaunlich unhistorisch: Obwohl Einigkeit herrscht, dass Putins Angriffskrieg kein einmaliger Systemfehler ist, sondern nur gewaltsamstes Symptom eines „Epochenbruchs“, den verschiedenste Akteure auf internationaler wie nationaler Bühne ins Werk setzen, fehlt die Beschäftigung mit dem ideologischen Treibstoff dieser neuen historischen Kräfte. Allzu oft werden sie unterschiedslos ex negativo definiert: als die Mächte des Revisionismus, der Rückabwicklung des Fortschritts in Freiheit, als „Achse der Autokraten“.[1] Außenpolitisch mag diese Rhetorik kurzzeitig funktioniert haben, um die transatlantische Welt hinter der Ukraine und gegen Russland zu versammeln. Aber sie klingt immer hilfloser, je stärker der „normative Westen“ von innen herausgefordert wird, je größer die elektorale Unterstützung dieser Herausforderer ausfällt und je lauter sich diese selbst affirmativ auf die Begriffe von „Freiheit“ und „Demokratie“ beziehen.
Das Ende vom „Ende der Geschichte“ bedeutet nämlich auch: Es gibt neue Bewegung auch auf dem Feld der politischen Ideen, mit denen wir politische Ordnungsvorstellungen rechtfertigen. Es gibt neuartige Rechtfertigungserzählungen. Wer sich für den „normativen Westen“ ins historische Getümmel stürzen möchte, muss daher in der Lage sein, die Rechtfertigungserzählung, die für diesen „normativen Westen“ zentral ist, mit neuer Überzeugungskraft gegenüber neuen ideologischen Alternativen darzustellen.
Die Rede von JD Vance auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz könnte dafür ein Weckruf gewesen sein. Denn nachdem Donald Trump und Elon Musk im internationalen Kontext und die AfD auf nationaler Ebene es mit ihrer Rhetorik des Kettensägens, schöpferischen Zerstörens und Rückabwickelns zuletzt allzu leicht gemacht haben, die ideologischen Herausforderer innerhalb der transatlantischen Welt als „bloße“ Populisten ohne substantielles Programm, als „Antis“ ohne eigenständige politische Ordnungsvorstellung abzutun, erlaubt Vance‘ Rede diese Bequemlichkeit nicht mehr: Der US-Vizepräsident und potentielle Trump-Nachfolger hat der europäischen Öffentlichkeit in München den ideologischen Fehdehandschuh hingeworfen, indem er seine Kritik an den europäischen Eliten mit einer eigenständigen Vorstellung von „Demokratie“, „Freiheit“ und der Idee des „Westens“ begründet hat – im Namen des „Postliberalismus“.
JD Vance zu verstehen, ist daher ein Ausgangspunkt für die neue ideologiekritische Arbeit, die jetzt vonnöten ist: Ein Ausgangspunkt von mehreren denkbaren Ausgangspunkten, denn die antiliberalen Kräfte im geographischen Westen sind eben nicht ideologisch homogen. Selbst im engsten Kreis der Trump-Regierung werden politische Ordnungsvorstellungen ventiliert, die quer zueinander stehen, wiewohl ihre Protagonisten im Zweckbündnis gegen die liberale Ordnung ausgesprochen produktiv zusammenarbeiten: So versteht sich die Idee des Postliberalismus, zu der sich Vance offensiv bekennt, ausdrücklich in Opposition zu dem libertär-akzelerationistischen Denken, dem Elon Musk zuzuordnen ist.[2]
Die Vision des Postliberalismus
Was aber bedeutet „Postliberalismus“? Wer das Denken von JD Vance tatsächlich verstehen will, der muss den „Postliberal Order“-Substack lesen – ein Onlinemagazin und Abonnementnewsletter, der seit 2021 von Patrick Deneen, Gladden Pappin und Chad Pecknold herausgegeben wird. Deneen ist als intellektueller Ziehvater von JD Vance inzwischen so berühmt wie berüchtigt. Weniger bekannt ist, dass er in Princeton auch Pete Hegseth, amtierender Verteidigungsminister im Kabinett Trump, akademisch betreut hat. In intellektuellen Kreisen hat sich Deneen 2018 mit einem Buch einen Namen gemacht, das unter dem Titel „Why Liberalism Failed“ aus katholisch-kommunitaristischer Perspektive die Pathologien der liberalen Moderne untersucht – Vereinzelung, gesellschaftliche Fragmentierung, wachsende ökonomische Ungleichheit. Das Buch hat eine breite Leserschaft und Lob aus berufenem Munde gefunden: Obama empfahl es im Erscheinungsjahr als Lektüretipp (ohne sich freilich Deneens Schlussfolgerungen anzueignen). Deneen ist inzwischen gern gesehener Gast und Autor bei den großen konservativen Vorfeldorganisationen in den USA und Ungarn, von „The American Conservative“ über das Intercollegiate Studies Institute (ISI) und die Heritage Foundation bis hin zum Mathias Corvinius Collegium. Bei letzterem wiederum hat Deneens Mitherausgeber Gladden Pappin – auch er Katholik und Politikwissenschaftler – einige Jahren als akademischer Fellow Station gemacht, inzwischen leitet er das staatliche Hungarian Institut of International Affairs und tritt in internationalen Medien als Apologet von Viktor Orbáns illiberalem Staatsumbau hervor. Der dritte im Bunde des Herausgeberkreises, Chad Pecknold, hält eine Professur für Theologie an der Catholic University of America in Washington D.C. und stellt wie Deneen seine persönliche Nähe zu JD Vance gerne in den Sozialen Medien aus. Eine vierte zentrale Figur im postliberalen Orbit und Gastautor für den Substack ist Adrian Vermeule, Professor für Verfassungsrecht in Harvard, der mit seinem Konzept eines „Common Good Constitutionalism“ einen verfassungsrechtlichen Rahmen für die Überwindung des liberalen Verfassungsstaates im Sinne katholisch-integralistischer Ideen geliefert hat.
„The Postliberal Order“ setzt die These voraus, die in Deneens Buch von 2018 schon im Titel entfaltet wird: Die liberale Ordnung sei historisch am Ende, und zwar deshalb, weil es ihr nicht gelungen sei, das sie tragende Versprechen eines guten Lebens für alle Bürgerinnen und Bürger einzulösen – folglich sei ihr Scheitern kein Grund zur Verzagtheit, sondern als große Chance zu verstehen. „The Postliberal Order“ versteht sich als Plattform für den Austausch darüber, welche Konturen eine bessere, „postliberale“ Ordnung haben könnte. Das Präfix verspricht eine Überwindung des Liberalismus im Sinne seiner konstruktiven Weiterentwicklung – Reform statt Revolution.
Bei der Lektüre postliberaler Texte erschließt sich die Selbstbezeichnung freilich rasch als Marketinggag: Die Postliberals richten sich fundamental gegen die Grundpfeiler des Liberalismus als politisches und normatives Projekt: gegen die regulativen Ideen von Gleichfreiheit und historischem Fortschritt, gegen Republik und Gewaltenteilung.
Eine Verfallserzählung des Westens
Auf der Ebene konkreter policies sind die entsprechenden Vorschläge, mit denen die Postliberals politisch auftreten, weder neu noch radikal; viele sind unmittelbar anschlussfähig an kapitalismus- und globalisierungskritische linke oder etablierte konservative Positionen. So plädieren die Postliberals etwa für höhere Sozialleistungen an Familien und familienfreundlichere Politik im Allgemeinen, für stärkere Migrationsbegrenzung, protektionistische Handelspolitik und restriktivere Gesetze im Hinblick auf Abtreibung oder Sterbehilfe; für mehr Meritokratie statt Quoten in der Besetzung von Führungspositionen. Klassisch kommunitaristisch sind ihre Forderung nach mehr Subsidiarität und ihr Fokus auf den öffentlichen Raum, der nach dem Willen der Postliberals den Kräften des Marktes entzogen und aus öffentlicher Hand so gestaltet werden soll, dass er zum Ort der Begegnung einerseits und der „Erbauung“ andererseits wird. Greifbar wird die antiliberale Radikalität des postliberalen Projekts erst auf der Ebene der Begründung ihrer policy-Vorschläge. Das heißt praktisch: Wer die Postliberals verstehen will, muss ihre Argumentationsfiguren, ihre Sprache und ihre ideengeschichtlichen Referenzpunkte in den Blick nehmen – all das, was oft leichtfertig als rhetorische Oberflächenstruktur abgetan wird.
Die Diskursbeiträge der Postliberals grundiert eine Verfallserzählung: die Erzählung vom Verfall der gelebten Sittlichkeit, die einst mit „dem Westen“ identisch gewesen sei. Diese Verfallserzählung bildet die Rampe für eine dialektische These, um die das gesamte postliberale Projekt kreist: Für die Postliberals braucht der Westen eine „zivilisatorische Erneuerung“, die sich wiederum aus seinen ideellen Ursprungsquellen speisen muss. Dieser These implizit ist auch eine Absage an die fortschrittsorientierte Geschichtsphilosophie der liberalen Moderne. Für die Postliberals ist die emanzipatorische Geschichtsphilosophie selbst Katalysator des sittlichen Verfalls, den sie den westlichen Gesellschaften attestieren: Im Glauben an die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts der Menschheit sehen sie einen säkularisierten Gnostizismus am Werk – den im Effekt fanatischen Irrglauben an die Möglichkeit von Erlösung auf Erden.[3]
Aggressive Geschichtspolitik mit den Schriften von Augustinus
Von den geopolitischen Ableitungen, die die Postliberals aus dieser These ziehen, wird gleich noch zu sprechen sein. Bemerkenswert sind zunächst die aggressive Geschichtspolitik und das wissenschaftspolitische Programm, das ihr anhängig ist. Die postliberale Publikationsarbeit ist auch ein Versuch, den ideengeschichtlichen Kanon der Moderne nicht etwa zu erweitern, sondern durch einen neuen Kanon zu ersetzen.
Wer die postliberalen Texte liest (und wer die Reden von JD Vance hört), muss den Eindruck gewinnen, dass das ideelle Fundament des Westens identisch ist mit den Schriften von Augustinus und wenigen anderen Kirchenvätern, von Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin.[4] Diese ausgewählten Quellen griechisch-römischer Philosophie und christlich-jüdischen Denkens werden von den Postliberals gegen die Texte der Aufklärungstradition ausgespielt. Voraussetzung dieser Praxis ist ein dezidiert ahistorischer Zugriff auf die Geistesgeschichte: „Augustinus“, „Thomas von Aquin“ und eine Handvoll lateinischer Phrasen („ordo amoris“) geraten in den Händen der Postliberals von historischen Quellen, deren Sinngehalt sich aus ihrem historischen Kontext und ihrer Rezeptionsgeschichte erschließt, zu Quellen höherer Weisheit, respektive zum Autoritätsargument. Gerne wird es visuell unterlegt: Die Welt postliberaler Publikationen ist bunt bebildert mit kitschigen Fotografien (neo-)gotischer Kathedralen und mittelalterlicher Herrschaftsinsignien. Sie sind abgebildet für den Effekt, zu dem ihre Motive tatsächlich erbaut worden sind: Ehrfurcht zu gebieten vor der Schönheit der göttlichen Ordnung. Zwar dienen historische Quellen in der politischen Rhetorik gemeinhin als Autoritätsargument oder Mittel der Identitätsstiftung. Der Streit um den Kanon gehört zu einer pluralen liberalen Gesellschaft. Im besten Fall ist dieser Streit erkenntnisfördernd: Ein breiter Kanon ermöglicht einen differenzierten politischen Diskurs, weil er die ideologische Vereinseitigung und Verkürzung politischer Begriffe sichtbar macht. Immer wieder ist zum Beispiel in jüngeren Texten politischer Theorie darauf hingewiesen worden, dass der positive Freiheitsbegriff in antiken Quellen es uns ermöglicht, den Freiheitsbegriff der Gegenwart als negativen Freiheitsbegriff zu begreifen und in dieser Verkürzung zu kritisieren.[5] Und Geschichte, gerade auch die der Ideen, ist immer auch Folklore und Sinnstifterin, sonst wäre sie tot.
Bei den Postliberals aber sind die Bemühungen um einen alternativen Kanon und ihr heroisch-folkloristischer Geschichtsbezug Ausdruck eines wissenschaftspolitischen Programms, das sich wesentlich gegen die Methoden und Theorien moderner Wissensproduktion richtet. Die wissenschaftstheoretischen Überzeugungen, die dafür Pate stehen, lassen sich nachlesen: Ein zentrales Thema postliberaler Texte ist die Kritik am Status quo der Geisteswissenschaften. Schon in „Why Liberalism failed“ gibt Deneen ihr breiten Raum. Als Orte humanistischer Bildung – der Seelenbildung, Tugenderziehung, Kultivierung – glaubt er die Humanities verloren (und mit ihnen die Universitäten ganz allgemein). Früher einmal, klagt er (und das früher changiert dabei, wie so oft bei den Postliberals, zeitlich unbestimmt zwischen Spätantike und den 1950er Jahren), habe Bildung dem Zweck der Ausbildung von Selbstkontrolle und Selbstdisziplin gedient, dem Meistern zerstörerischer Leidenschaften und Triebe. Wie aber erreichte man(n) dieses Ziel? Deneen zufolge durch ein Studium der Texte des klassischen und christlichen Kanons, das hermeneutisch der Prämisse ihrer überlegenen Weisheit folgt. Tradition schließlich sei „die Summe der gestaltenden Kraft des Menschen, der sich den Werten seiner Zivilisation zutiefst verpflichtet fühlt“.[6] Das Ethos des Studiums im Stile orthodoxer Bibellektüre
So beschreibt er das Ethos des Studiums im rechten Sinne ähnlich dem orthodoxen Bibelstudium. Implizit häretisch erscheint demgegenüber ein Textzugang, der über historische Kontextualisierung erfolgt, über Fragen zu den historischen Diskursen, die Texte bespielen, und den sozialen und ökonomischen (Macht-)Verhältnissen, die darin austariert worden sind. Deneen sieht in diesem Textzugang einen wütend-überheblichen Antitraditionalismus am Werk, der nicht auf Erkenntnis, sondern ausschließlich auf Zerstörung ziele. Folglich urteilt er über die Praxis moderner Geisteswissenschaft in erster Linie moralisch: Er unterstellt ihnen eine „Hermeneutik des Verdachts“ und raunt über ihren esoterisch-exkludierenden Zug: „Indem sie [die Geisteswissenschaftler] sich eines Fachjargons bedienten, der nur ,Experten‘ verständlich ist, konnten sie dem wissenschaftlichen Priesterstand nacheifern, auch wenn sie damit ihren ursprünglichen Auftrag, die Studierenden durch ihr kulturelles Erbe zu führen, verrieten.“[7]
Die Sprache von Gut und Böse, von Engeln und Teufeln
Freilich ist es Voraussetzung und Errungenschaft moderner Wissensproduktion, die Erkenntnisarbeit nicht in erster Linie an der Frage ihres sittlichen Nutzens, genauer: an einer spezifischen Antwort auf die nämliche Frage zu messen (sodass die Antwort und die Frage selbst noch Teil kritischer Betrachtung sein können). In dieser Wissenspraxis reflektiert sich eine spezifische Anthropologie, die den Liberalismus als emanzipatorisches politisches und normatives Projekt trägt: Die liberale Prämisse von der Pluralität des guten Lebens setzt voraus, den Menschen als historisches Wesen zu verstehen, das durch seine historischen Umstände bedingt ist und zugleich die Freiheit besitzt, sie neu zu gestalten.
Wenn die Postliberals nun den Status quo der Geisteswissenschaften herausfordern, fordern sie auch dieses aufgeklärte Verständnis des Menschseins heraus. Ihr Plädoyer für die ewige Weisheit antiker und biblischer Texte folgt einer alternativen Anthropologie, in der die „menschliche Natur“ statisch ist: bestimmt von den immer gleichen Trieben und Lastern. Sie begründet eine konkrete und statische Vorstellung davon, was das gute Leben ist. Wer postliberale Texte liest, erfährt darüber in der Tat einiges: Ein gutes Leben soll eines der Demut und Selbstkontrolle sein; ein gutes Leben lebt, wer den Platz annimmt, der ihm oder ihr (biologisches Geschlecht ist für die Postliberals eine entscheidende Determinante individueller Bestimmung) in der göttlichen Ordnung zugewiesen ist.
Dass in dieser Kosmologie eine große politische Sprengkraft liegt, wird in der religiösen Sprache der Postliberals unmittelbar greifbar. Die Kategorien von Gut und Böse, von Sünde und Gottgefälligkeit imprägnieren die postliberalen Texte und rahmen die postliberale Gegenwartskritik. „Dem Liberalismus“ wird also nicht nur vorgeworfen, in dieser und jener Hinsicht dem Gemeinwohl abträglich zu sein, sondern er wird auch der „Verbreitung von Laster, Unordnung und Elend“ beschuldigt[8] und als Gnostizismus klassifiziert.[9] Nicht nur verkennt die liberale Ideologie für die Postliberals die menschliche Natur, nein, sie steht im postliberalen Verständnis auch quer zur „Ordnung des Universums“[10] und führt den Einzelnen vom Pfad der Tugend ab. Die gelebte liberale Ordnung kann in der Konsequenz via Augustinus analog zum „heidnischen Rom” als „im Krieg mit der Stadt Gottes“ beschrieben werden,[11] und das heißt praktisch: als teuflisch im Wortsinne.[12]
In Ergänzung zu diesem theologischen Vokabular arbeiten postliberale Texte mit Metaphern von Krankheit und Gesundheit, die den antiken Texten politischer Philosophie zentral sind, sich aber auch in biblischen Texten zahlreich finden lassen. Der Liberalismus ist dann die „Krankheit“, auf die ein „Heilmittel“ gefunden werden müsse, damit wir in einer „gesunden“ politischen Gemeinschaft leben könnten.[13]
Die Rede von Krankheit und Gesundheit, von Teufel und Engel ist so plastisch wie apodiktisch: Praktisch beendet sie den vernünftigen politischen Diskurs, der in der liberalen Vorstellung Motor historischen Fortschritts ist. Für das satanisch Böse ist die Vernunft so wenig eine sinnhafte Kategorie wie für einen Krankheitsvirus: Wo dieses oder jenes am Werk ist, hilft kein Ringen um gemeinsame Problembeschreibungen und Lösungsideen; Sprache hat hier allenfalls noch für das flehende Gebet einen Zweck. Es gilt: auszumerzen, zu bekämpfen.
Vollstrecker des göttlichen Auftrags
Insofern hat es eine gewisse Folgerichtigkeit, dass im Umkreis der Postliberals der Kreuzzug als historische Referenz, Metapher oder Anspielung immer wieder auftaucht. Der Kreuzritter versteht sich als Vollstrecker eines göttlichen Auftrags, der ihn vom üblichen Gebot der Gewaltlosigkeit und Mitmenschlichkeit entbindet. „Deus Io Vult (Gott will es)“ gilt als Leitspruch der Kreuzzüge – und hat zuletzt in der Alt-Right Bewegung zu neuer Popularität gefunden. Hegseth trägt den Spruch auf den Arm tätowiert; auf der Brust des US-Verteidigungsministers ist das „Jerusalemkreuz“ zu sehen, das ebenfalls zur Bildsprache der Kreuzritter-Folklore gehört. In den postliberalen Texten wird gerne mit dem Bild des Gerechten Krieges gespielt: „Ein paar Hundert, die mit der kraftvollen Intensität der Wahrheit aufgeladen sind, können Mächte besiegen, die größer sind als die von Xerxes, mit der Hilfe dieser himmlischen Stadt, deren Herrschaft alle erhöht, die es wagen, in Übereinstimmung mit ihr zu herrschen. Wir haben nichts zu verlieren”, heißt es dort zum Beispiel.[14] Gleichzeitig wird die Ideologie der „liberalen Eliten“, denen die martialische Rhetorik gilt, mit Vorliebe als „Häresie“ bezeichnet[15] (zur Erinnerung: Kreuzzüge richteten sich nicht nur gegen Ungläubige, sondern auch gegen Häretiker); Migration wiederum als „Invasion der Barbaren“, ein Sprachbild, das den historischen Index von muslimisch-arabischen Truppen vor Jerusalem trägt. „Was braucht es, um die europäischen Nationen von der Tyrannei der tausend Globalisten zu befreien, die die Barbaren durch die Toren gelassen haben?“, fragt Chad Pecknold in einem Beitrag.“[16] Damit aber tut sich ein hässlicher Spalt auf zwischen rhetorischer Form und Inhalt des postliberalen Projekts: Dem Wort nach wollen die Postliberals eine gerechtere und lebenswertere Welt, als der Liberalismus sie hervorgebracht hat – eine Welt, in der die Menschenwürde Zielpunkt der Politik ist. Ihre Rhetorik deutet aber darauf hin, dass auf dem Weg zu dieser gerechteren Welt Gewalt nicht nur legitim, sondern sogar gerecht sein kann. Menschenwürde ist im postliberalen Sinne relativ: Das Gebot, das ihr innewohnt, gilt nicht bedingungslos, sondern in Abhängigkeit des Gemeinwohls, das nicht der Diskurs freier Bürger erschließt, sondern die überlegene Weisheit Weniger.
Demokratietheoretische Verrenkungen
Dieselbe Spannung eignet dem postliberalen Sprechen über Demokratie. Wie die Rechtspopulisten, wie die MAGA-Bewegung, wie Musk und die Libertären auch nutzen die Postliberals „Demokratie“ als positiven Kampfbegriff. Der gemeine Mann (und die Wendung ist hier nicht im Sinne des generischen Maskulinums zu denken) ist nicht nur das erklärte Objekt des Gemeinwohlprojekts, das die Postliberals bewerben, sondern sie hoffen auf ihn auch als das revolutionäre Subjekt, das die tyrannis der liberalen Eliten zu überwinden hilft. Der Wahlsieg von Donald Trump, die Wahlergebnisse der AfD und anderer rechtspopulistischer Parteien in Europa sind in der Deutung der Postliberals (die auf der Münchner Sicherheitskonferenz den europäischen Staatsvertretern durch JD Vance laut entgegengehalten wurde) ein Aufstand der Gerechten und des gesunden Menschenverstandes gegen die Häretiker:innen der liberalen Herrschaftsklasse: „Für Gott, gegen die Tyrannei“.[17]
Das postliberale Lob des Demokratieprinzips, des gesunden Menschenverstandes und natürlichen Anstands des Volkes steht freilich quer zu der postliberalen Überzeugung, dass politische Macht ihre letzte Legitimation aus der „Ordnung der Dinge“ bezieht, in der Gott seinen Fingerabdruck hinterlassen hat. Wo die Postliberals versuchen, Theokratie und Demokratieprinzip zu vereinen, klingen sie so notorisch vage wie hier: „Man kann den Wert von Wahlen erkennen – als Mittel zur Entscheidung über die Ämtervergabe –, ohne Lockes Annahme zu akzeptieren, dass politische Autorität ein Produkt des Konsens sei statt eine natürliche Basis zu haben.“[18] Auch darüber, was die „natürliche Basis“ von politischer Autorität charakterisiert, bleiben die Postliberals im Ungefähren der Tugendbegriffe, die sich in vormodernen Fürstenspiegeln und antiker politische Philosophie finden. Wohl aber drückt sich in den postliberalen Texten die Überzeugung aus, dass es natürliche Eigenschaften gibt, die für politische Autorität disqualifizieren – insbesondere ein XX-Chromosomensatz. Auf dem Substack „The American Postliberal“ (ein weiteres Newsletterprojekt im eng vernetzten postliberalen Orbit) schrieb zum Beispiel jüngst Evelyn Whitehead (Senior Fellow der Hungary Foundation, einer Non-Profit-Organisation, die sich dem Ziel der Stärkung der US-amerikanischen-ungarischen Beziehungen verschrieben hat), Frauen seien für das politische Tagesgeschäft insofern ungeeignet, als sie emotionaler und sensibler als Männer seien – und in der Folge zu Sentimentalität neigen würden.[19] Exemplarisch in diesem Sinne ist für Whitehead ein Instagram-Video des US-amerikanischen Popstars Selena Gomez. Gomez hatte im Januar auf Foto- und Videoaufnahmen von den ersten Trumpschen Abschiebungen von „undocumented migrants“ reagiert: Sie beweint das menschliche Leid, das die Aufnahmen zeigen. Whitehead folgert: „Die vorsätzliche Unfähigkeit zu verstehen, warum unser Land seine Einwanderungspolitik gegen Gewaltverbrecher durchsetzen muss, zeugt von Sentimentalität. Frauen sind leichter vom Leid anderer zu rühren als Männer, weil wir sensibler sind als Männer. Das ist auch gut so, aber Sensibilität muss von Vernunft geleitet werden, damit sie nicht zu konfuser Romantik wird.“ Im Klartext: Frauen gehören nicht in politische Entscheidungspositionen – sie sind dafür nicht gemacht.
Apologetiker für Orbán und Trump
Die Postliberals haben sich von Beginn an in der Apologie von politischen Autoritäten hervorgetan, die in ihrem Sinne einen Umbau des liberalen Staates ins Werk zu setzen begonnen haben. Namentlich das Orbánsche Ungarn – zu dem in der Person von Gladden Pappin enge institutionelle und persönliche Verbindungen bestehen –, wird in einer Reihe von Texten als Pionierin gelebten Gemeinwohls und politischer Gottgefälligkeit belobigt. „Ungarn glänzt heute“, heißt es in „The Postliberal Order“, „weil es in wahrer Anerkennung Gottes verwurzelt ist, die eine gute politische Ordnung begründet. Und weil Ungarn sich an seine heiligen Könige erinnert, ist es ein Land, das heute neue politische Helden hervorbringt, die es wagen, anders zu regieren – die Schönheit, Macht und Wahrheit dessen ist offensichtlich – und die Menschen dazu inspirieren, sich für eine bessere Ordnung einzusetzen, nicht nur in Ungarn, sondern auch in anderen Ländern.“[20]
Seit Trumps Inauguration hat sich der geographische Schwerpunkt des Substacks von Ungarn auf die USA verlagert. In einem wöchentlichen Briefing zur Tagespolitik agieren die Herausgeber unverhohlen als Apologeten der politischen Entscheidungen der Trump-Administration. Noch bis 2024 haben sich Herausgeber und Autoren bedeckt gehalten in ihrer Bewertung der MAGA-Bewegung. Der Anarcholibertarianismus eines Javier Milei oder Musk wurden explizit kritisiert.[21] Von dieser intellektuellen Distanz und Zurückhaltung fehlt inzwischen jede Spur. Es fällt leicht, diesen redaktionellen Wandel im individuellen Einzelfall mit Opportunismus zu erklären. Eine zweite Erklärung liegt in der Natur des postliberalen Denkens selbst: Die postliberale Idee, dass politische Autorität in letzter Instanz in Gott seine Legitimationsquelle hat, fordert ultimativ Demut und Gefolgschaft gegenüber den Mächtigen und verbietet Kritik. Die Tugend der politischen Urteilskraft, die die Postliberals in Anlehnung an antike Texte rhetorisch gerne einfordern, um sie gegen den vermeintlich lebensfernen Rationalismus des Liberalismus ins Spiel zu bringen, muss in dieser Perspektive selbsteliminatorisch sein: Wenn die Gottgefälligkeit der politischen Autorität erkannt ist, darf diese Autorität nicht mehr Gegenstand des eigenen Urteilens sein. Vielleicht sind Deneen & Co. im Hinblick auf Trump an diesem autoritären Kipppunkt angelangt, frei nach dem Motto: Für Gott, für die Tyrannei.
Geschichtsphilosophie und Geopolitik
In Fragen konkreter Politik hat die Regierung Trump zwar noch nicht viel im Sinne der katholisch-kommunitaristischen Vision der Postliberals geliefert. Aber sie mögen mit den spätantiken Texten gelernt haben, in Weltzeitaltern zu denken. Aus dieser Warte jedenfalls blicken sie auf die Geopolitik – und liefern dabei die Begründungsfiguren für den sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel, der unter Trump gegenwärtig passiert: für den US-amerikanischen Rückzug aus der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, für das Ende der Ukrainehilfen, für die Annäherung an Russland.
Lange bevor Trump zum zweiten Mal als Präsident vereidigt worden ist, unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, erschien im Postliberal Order-Substack ein Text von Patrick Deneen. Er argumentiert darin, dass die Ukraine Schauplatz eines Stellvertreterkrieges geworden sei, der in der liberalen Ideologie seine Wurzel habe. Für Deneen ist dem Liberalismus mit seiner progressiven Geschichtsphilosophie, wie erwähnt, das gnostische Streben zentral, den Himmel auf Erden zu verwirklichen – und damit eine unvermeidliche Tendenz zum Fanatismus, zum Totalitarismus, zur Gewalt. Aus der Perspektive dieser postliberalen Liberalismusdefinition ist die Nato-Osterweiterung Ausdruck gnostischen Eifers gewesen. Deneen schreibt: „Die Lust, das bestehende Russland zu zerstören – einen ‚Regimewechsel‘ herbeizuführen oder sogar darauf zu wetten, dass ein Sieg in einem Atomkrieg möglich ist –, spiegelt einen zutiefst gnostischen Traum wider, die Welt nach dem Bild eines universalisierten Himmels auf Erden neu zu gestalten.“[22] Die wahre Bedrohung für eine friedlichere, gerechtere, bessere Welt – das ist die Schlussfolgerung, auf die Deneens Text zuläuft – ist somit nicht etwa das revisionistische Putin-Russland: Die wahre Bedrohung ist der Liberalismus als Ideologie. Nur folgerichtig ist es, wenn Vance seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Worten beginnt: „Die Bedrohung, die mir in Bezug auf Europa am meisten Sorgen bereitet, ist nicht Russland, nicht China und auch kein anderer externer Akteur. Was mir Sorgen bereitet, ist die Bedrohung von innen, der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte – Werte, die es mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilt.” Und weiter heißt es bei Vance zu Russlands Krieg gegen die Ukraine: „Ich habe viel darüber gehört, wovor Sie sich verteidigen müssen, und das ist natürlich wichtig. Aber was mir und sicherlich vielen Bürgern Europas etwas weniger klar zu sein scheint, ist, wofür genau Sie sich verteidigen.“
Alteuropäische Zivilisation oder Regenbogenflagge
In dem Text von Deneen 2022 ist genau diese Frage präfiguriert – und auch die Antwort: „Wenn unsere Landsleute und Kinder von der Laptop-Klasse aufgefordert werden, hauptsächlich für sie zu kämpfen und zu sterben, fragen wir zu Recht: Wofür sollen sie sterben? Für die ‚antike und christliche‘ Zivilisation, die den Faschismus und Kommunismus bekämpft und besiegt hat? Oder ist im Namen einer ‚Nachfolger‘-Philosophie, eines toxischen Liberalismus, der sich heute in ukrainische Flaggen hüllt, aber morgen die Idee der Nation, bestimmter Kulturen und des Christentums an sich verurteilen und die blau-gelbe Flagge der Ukraine durch eine Regenbogenfahne ersetzen wird?“ Nur folgerichtig scheint vor diesem Hintergrund die Entscheidung von Pete Hegseth, ein Programm zu stoppen, das russische Cyberangriffe auf die US-amerikanische Verteidigung überwacht.
Ja, Ideen machen Geschichte – indem sie neue politische Entscheidungsräume erschließen und Rechtfertigungen für getroffene Entscheidungen liefern. Der Postliberalismus hat in diesem doppelten Sinne gegen das liberale Projekt zu wirken begonnen. Um dagegen das liberale Projekt zu verteidigen, müssen wir auf das Feld der Ideen zurück.
[1] Anne Applebaum, Autocracy, Inc.: The Dictators Who Want to Run the World, New York 2024.
[2] „In gewisser Weise haben beide immer aufeinander gewartet: Neotraditionalismus hat kein genuines politisches Rezept, nur Idealbilder (traditionelle Familie, Märchenwald, unsere gute alte pure Ethnie); Libertäre haben keinen Inhalt und kein Bild, nur eine Methode (den Staat aus der Wirtschaft raushalten, Technologie und Innovation ankurbeln, Futurismus im faschistischen Sinne)“, so Diedrich Diederichsen, Das Rohe und das Kettengesägte, blnreview.de, 12.2.2025.
[3] Vgl. Patrick J. Deneen, Russia, America and the Danger of Political Gnosticism, postliberalorder.com, 2.3.2022.
[4] Gelegentlich Erwähnung finden außerdem Edmund Burke, Alexis de Tocqueville und Eric Voegelin, die (in Teilen zu Unrecht) als konservative Vordenker gelten.
[5] Deneen greift in „Why Liberalims failed“ eben dieses Argument auf und entfaltet es.
[6] Patrick Deneen, Warum der Liberalismus gescheitert ist, Salzburg 2019, S. 158.
[7] Ebd., S. 172.
[8] Philip Pilkington, Building for a better liberty, postliberalorder.com, 31.10.2023.
[9] Patrick J. Deneen, Russia, America and the Danger of Political Gnosticism, a.a.O.
[10] Philip Pilkington, a.a.O.
[11] Edward Feser, Liberal Discord, Postliberal Peace, postliberalorder.com, 21.10.2024.
[12] Vgl. C.C. Pecknold, The Religious Nature of the City, postliberalorder.com,24.1.2022.
[13] Vgl. exemplarisch: Edward Feser, Western Civilization’s Immunodeficiency Disease, postliberalorder.com, 20.4.2024.
[14] C. C. Pecknold, Defenders of Truth, postliberalorder.com, 8.6.2023.
[15] So schreibt Patrick Deneen in einem Blogbeitrag, der Pete Hegseth gewidmet ist: „Das Pentagon ist – wie die meisten etablierten amerikanischen Eliteinstitutionen – von einer gnostischen Irrlehre übermannt worden, die unter den Eliten des Westens vorherrscht.“ Und in demselben Beitrag attestiert Deneen Hegseth: „Pete ist jetzt ein absoluter Insider – in der Tat der Herr Minister – der allen Widrigkeiten zum Trotz die offensichtlichen Lügen seiner Vorgänger mit der Ehrlichkeit eines Kindes und dem Mut eines Soldaten aufdeckt.“ Vgl. Patrick J. Deneen, Pete Hegseth, Princeton and me, postliberalorder.com, 3.2.2025.
[16] Vgl. Chad Pecknold, The Briefing Room vom 17. Februar, postliberalorder.com, 17.2.2025.
[17] Ebd.
[18] Edward Feser, Postliberalism without Despotism, postliberalorder.com, 5.6.2024.
[19] Evelyn Whitehead, Fragility of Feminism, americanpostliberal.com, 12.2.2025.
[20] C.C. Pecknold, Gladden Pappin und Adrian Vermeule, Hungary‘s Christian Realism, postliberalorder.com, 9.3.2024.
[21] Vgl. Philip Pilkington, Is Javier Milei the Future of Libertarian Governance or Its Last Stand?, postliberalorder.com, 22.1.2024.
[22] Vgl. Patrick J. Deneen, Russia, America and the Danger of Political Gnosticism, a.a.O. Deneens Position echot Äußerungen Orbáns zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die auf dem Substack unkommentiert publiziert worden sind, vgl.: Gladden Pappin, Orbán: Is There a Path to Peace?, postliberalorder.com, 2.2.2023.