
Bild: Ismail Kadare, Der Anruf, Cover: Fischer Verlag
Es war einmal: Samstag, der 23. Juni 1934. In der Moskauer Wohnung des Schriftstellers Boris Pasternak klingelt das Telefon. Stalins Sekretär Poskrebyschew sagt dem Dichter, sein Chef wolle ihn sprechen. Es ist kein Scherz, wie der Angerufene zunächst glaubt oder später erzählen wird, sondern es folgt ein dreiminütiges Telefonat, das bis heute Rätsel aufgibt. Nicht nur Philosophen wie Slavoj Žižek regt es an und auf, sondern auch Schriftsteller von Robert Littell bis Ismail Kadare. Dessen zwischen Märchen und Chronik angesiedeltes Werk wird nun um „Der Anruf“ erweitert. Übersetzt sind diese – so der Untertitel – „Untersuchungen“ von Joachim Röhm, der dem albanischen Weltautor seit Jahren bewährt seine deutsche Stimme leiht.
Das verbürgte, aber in verschiedenen Versionen überlieferte Gespräch zwischen Pasternak und Stalin wirft allgemeine wie konkrete Fragen auf: Welches Verhältnis besteht zwischen Macht und Geist, Dichtung und Diktatur? Hätte Pasternak in diesem Gespräch Ossip Mandelstam retten können? Beide waren das poetische Zweigestirn der Epoche, aber nach einem Schmähgedicht geriet Mandelstam in einen Strudel der Verfolgung, überraschend tauchte er wieder auf, um Jahre später, 1938, im Archipel Gulag unterzugehen. Seine Dichtungen sind Weltliteratur, sein Leben ist von einem Schorf an Mutmaßungen verdeckt, zu dem der Anruf des Jahrhunderts gehört.