Ausgabe März 2025

Ein Blick zurück nach vorn: Corona, was haben wir gelernt?

Ein während der Corona-Pandemie abgesperrter Spielplatz in Stuttgart, 5.2.2022 (IMAGO / Arnulf Hettrich)

Bild: Ein während der Corona-Pandemie abgesperrter Spielplatz in Stuttgart, 5.2.2022 (IMAGO / Arnulf Hettrich)

Corona – war da was? Fünf Jahre nach Beginn der Pandemie und dem ersten Lockdown hierzulande ist das Thema weit weg. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 scheint das Virus vergessen, weder in den Nachrichten noch in den Alltagsgedanken der meisten Menschen spielt es noch eine nennenswerte Rolle. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf neue Schreckensereignisse und Probleme, und die Pandemie befindet sich auf dem Weg in die Geschichtsbücher.

Aber was wird dort stehen? Wer bestimmt das Narrativ? Nach Hegels Gleichnis könnte die Eule der Minerva jetzt ihren Flug beginnen und mit ihrer Weisheit helfen, im Rückblick diese Zeit zu verstehen, aus gemachten Fehlern zu lernen, die gewonnenen Erkenntnisse zu sichern und uns damit für künftige Pandemien zu wappnen. Doch danach sieht es momentan nicht aus. 

Eine nüchterne und sachorientierte Aufarbeitung auf politischer Ebene ist bisher nicht in die Wege geleitet worden. Stattdessen werden vor allem Schuldige gesucht. Die Ampelkoalition konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen, weil die FDP auf einem Untersuchungsausschuss bestand – also auf einem Gremium, das Missstände und Fehlverhalten aufdecken soll –, während SPD und Grüne Kommissionen oder Räte mit einem neutraleren Arbeitsauftrag installieren wollten. Die Bevölkerung wiederum ist eher desinteressiert an dem Thema – laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage in Rheinland-Pfalz halten nur 38 Prozent der Befragten eine intensive Aufarbeitung der Coronapolitik für notwendig.[1]

Simple Analysen, starke Meinungen

Das Fehlen einer transparenten und fundierten Bilanz der Coronajahre öffnet jedoch den Raum für populistische Akteur:innen, die aus der Pandemie und der damit verbundenen Verunsicherung vieler Menschen weiterhin Profit schlagen. Für die nächste Pandemie lässt das nichts Gutes erahnen. Denn die simplen Analysen und starken Meinungen, die zu dem Thema kursieren, stehen in deutlichem Widerspruch zu seiner Komplexität. Trotz zahlreicher inzwischen publizierter Erkenntnisse zu Detailfragen fehlt es an einer übergreifenden Analyse, bei der medizinische, politische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte zusammengedacht werden. Und das, obwohl das zu beklagende Leid groß ist: Zehntausende Menschen sind gestorben, chronisch erkrankt, depressiv geworden. Beziehungen sind zerbrochen, die politische Diskussionskultur hat gelitten, ebenso das Vertrauen vieler Bürger:innen in den Staat. Populistische Narrative bekamen Aufwind. Im Rückblick lässt sich sagen, dass Deutschland beim Umgang mit Corona nicht an den medizinischen, sondern an den politischen und sozialen Herausforderungen scheiterte: Es ist nicht gelungen, einen zielorientierten politischen Diskurs und eine sachgerechte demokratische Entscheidungsfindung zu organisieren. 

Tatsächlich ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern mittelmäßig durch die Pandemie gekommen, immerhin. Aber es hätte unbestreitbar besser laufen können. Denn angefangen hatte es gut. Die erste Welle im Frühjahr 2020 forderte hierzulande deutlich weniger Todesopfer als in den meisten anderen Ländern. Problematisch wurde es erst im Sommer, als klar wurde, dass die Pandemie nicht nach einigen Monaten überstanden sein, sondern auf unabsehbare Zeit andauern würde. Eine populistische Bewegung formierte sich, die die Gefährlichkeit des Virus bestritt und der Regierung Panikmache und überzogene Maßnahmen vorwarf. In jenem Sommer formierten sich zwei Fronten, die für den Rest der Pandemie äußerst unglücklich als „Maßnahmenbefürworter“ und „Maßnahmengegner“ gelabelt wurden. Aber egal ob Maskenpflicht, Lockdown oder Impfpflicht – keine Infektionsschutzmaßnahme ist für sich genommen gut oder schlecht, sondern muss immer ins Verhältnis zu möglichen Alternativen und erwartbaren Folgen gesetzt werden. Genau das geschah in der Debatte allzu oft nicht.

»Zero Covid« vs. »Flatten the Curve«

Zum Beispiel als im ersten Pandemiejahr ein konsequenter Lockdown diskutiert wurde: Das dabei angestrebte Ziel einer Zero-Covid-Strategie bestand gerade darin, Kontaktbeschränkungen durch eine ausreichende Absenkung der Inzidenzen überflüssig zu machen. „Zero Covid“ war also, wenn man so will, eine Strategie von „Maßnahmengegnern“. Das macht ein Video deutlich, das die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim am 2. April 2020 veröffentlichte und in dem sie die damals von vielen Politiker:innen propagierte Strategie „Flatten the Curve“ problematisierte.[2] Sie rechnete aus, dass bei einer Politik, die ihre Anti-Coronamaßnahmen darauf ausrichtet, die Infektionskurve lediglich so „flach“ zu halten, dass Krankenhäuser nicht überlastet werden, die Pandemie sich ein bis zwei Jahre hinziehen würde. Ein so langer Zeitraum von Kontaktbeschränkungen erschien damals unvorstellbar. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, warnte Nguyen-Kim, sei es, die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Tatsächlich haben viele ostasiatische Länder – und keineswegs nur das autoritäre China – in den ersten beiden Pandemiejahren erfolgreich Zero-Covid-Strategien umgesetzt und so ihren Bevölkerungen ein weitgehend maßnahmenfreies Leben ermöglicht, mit geöffneten Schulen, Sportevents und kulturellem Leben. Dieser Aspekt fiel bei der Debatte jedoch fast völlig unter den Tisch. Die Strategie von „Flatten the Curve“ hingegen war in dem Moment obsolet, als das Virus mutierte und sich herausstellte, dass Menschen nach einer Erkrankung keineswegs immun sind, sondern sich immer wieder von Neuem anstecken können. Es hat nicht nur eine, sondern viele Coronakurven gegeben, und der Zeitraum, in dem Kontaktbeschränkungen notwendig waren, zog sich noch viel länger hin, als Nguyen-Kim es am Anfang der Pandemie befürchtet hatte. 

Im Rückblick ist aber auch eine Zero-Covid-Strategie in Europa wohl nie eine realistische Option gewesen. Eine solche Strategie erfordert eine große Bereitschaft der einzelnen Bürger:innen, ihre persönlichen Wünsche und Interessen dem allgemeinen Wohl unterzuordnen. Im Fall einer Virusepidemie müsste nicht nur die große Mehrheit, sondern praktisch die gesamte Bevölkerung diese Bereitschaft aufbringen. Es wäre eine interessante Forschungsfrage für Soziologie und Politikwissenschaft, ob in demokratischen Gesellschaften mit dezentralen Entscheidungsstrukturen, Reisefreiheit, Individualität, Presse- und Meinungsfreiheit soziale und kulturelle Bedingungen denkbar sind, die das möglich machen würden. Welche Ideen, Ideale, Sozialstrukturen könnten eine solche Praxis der Solidarität unterstützen, welche stehen ihr entgegen? Klar ist: Europa verfügte im Jahr 2020 nicht über diese kulturellen Grundlagen.

Was können demokratische Gesellschaften durchhalten?

Vielleicht ist eine der wichtigsten Lehren, dass das wissenschaftlich und logisch Sinnvolle oft nicht in die Praxis umgesetzt werden kann. Aus diesem Grund plädierte der schwedische Staatsepidemiologe Nils Anders Tegnell bereits im April 2020 dafür, nur solche Maßnahmen anzuordnen, die für die Bevölkerung auch über einen längeren Zeitraum durchzuhalten wären. Das erschien manchen zynisch angesichts der Tatsache, dass es dabei um tausende von Menschenleben ging, denn es bedeutete ja, dass in großem Maß Infektionen zugelassen wurden – und damit auch, dass sehr viele Menschen sterben oder chronisch an Long Covid erkranken würden –, obwohl sie durch strengere Regeln vermeidbar gewesen wären. Aber menschliches Handeln richtet sich nicht nach strikt logischen Schlussfolgerungen, sondern ist stark von Psychologie, Gruppendynamiken, der Rationalisierung egoistischer Anliegen und kognitiven Verzerrungen geprägt. All das muss bei politischen Maßnahmen berücksichtigt werden. 

Letzten Endes waren viele Maßnahmen in Schweden und Deutschland durchaus vergleichbar, nur dass sie hierzulande gesetzlich verordnet wurden, während sich die schwedische Regierung mit Handlungsempfehlungen begnügte.[3] Die Todeszahlen, die durch das Virus verursacht wurden, waren in den beiden Ländern in der Summe etwa gleich, die sozialen und politischen Folgen der Pandemie in Deutschland aber deutlich schwerwiegender. Ein Grund ist womöglich, dass die schwedische Bevölkerung traditionell mehr Vertrauen in den Staat hat und Anweisungen „von oben“ mit größerer Bereitwilligkeit folgt, als das in Deutschland aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus der Fall ist. Es wäre interessant, solche sozialpsychologischen Dynamiken der Pandemie systematisch auszuwerten, gerade im Vergleich zwischen Ländern mit unterschiedlichen politischen Kulturen. 

Aber selbst wenn man sich nur auf die medizinischen Aspekte beschränken wollte, ist die Bilanzierung der Pandemie komplex. Die Übersterblichkeit etwa gibt nur unzureichend Auskunft über die Auswirkungen des Virus, denn während Corona zusätzliche Todesfälle verursachte, wurden andererseits viele Todesfälle vermieden: Hygienemaßnahmen verhindern nicht nur Ansteckungen mit Corona, sondern auch mit anderen Krankheiten. Weniger Verkehr auf den Straßen bedeutet weniger Verkehrstote. In vielen Regionen Deutschlands gab es im Jahr 2020 sogar eine Untersterblichkeit. 

An, mit oder wegen Corona gestorben?

Der Winter 2020/2021 wurde dann aber zu einem Desaster für die deutsche Coronapolitik. 60 000 Tote waren zu beklagen, die nicht nur mit dem von Verschwörungserzählungen angeheizten Unwillen zusammenhingen, Masken zu tragen, sondern auch mit dem halbherzigen Teil-Lockdown, der die Inzidenzen nur unzureichend senkte, aber dennoch viele Bereiche des öffentlichen Lebens massiv einschränkte.[4] Die Debatte darüber, welche politischen Schlussfolgerungen aus dieser großen Zahl an Toten zu ziehen seien, wurde jedoch schnell überlagert von der Diskussion über die Frage, ob ein Mensch, der zum Zeitpunkt des Todes mit dem Virus infiziert war, „an Corona“ oder „mit Corona“ gestorben sei. Ob also die Coronainfektion die Ursache für den Tod war oder ob jemand aus einem ganz anderen Grund gestorben und nur zufällig gleichzeitig positiv auf das Coronavirus getestet worden war. 

Diese Frage wurde im Allgemeinen entsprechend der ideologischen Positionierung mit „entweder – oder“ beantwortet, aber in Wahrheit hätte die zutreffende Antwort fast immer „sowohl – als auch“ lauten müssen. Sicherlich gab es kerngesunde Menschen, die aus heiterem Himmel von Covid dahingerafft wurden, während andererseits so manches Unfallopfer eine Coronainfektion gehabt haben mag, die für den Tod jedoch keinerlei Rolle spielte. In den allermeisten Fällen aber hatte das Virus an einem Todesfall einen Anteil, der sich irgendwo auf einer Skala bewegt: Bei chronisch Kranken mit begrenzter Lebenserwartung haben Infektionen den Tod häufig beschleunigt, waren aber selbst nicht immer die Todesursache. Gleichzeitig haben körperliche Risikofaktoren und Vorerkrankungen schwere Covidverläufe begünstigt, wären allein aber nie lebensbedrohlich gewesen. 

Und, um es noch einmal komplizierter zu machen: Jede Art von Maßnahmen, die ergriffenen ebenso wie die unterlassenen, brachten selbst auch wieder Folgen und Gefährdungen mit sich. Der Zwang zum Homeoffice etwa bedeutete einen Anstieg häuslicher Gewalt oder vermehrten Alkoholismus, verschobene Krebsoperationen führten zu verfrühten Toden, und so gab es noch eine dritte Kategorie von Pandemieopfern, nämlich solche, die weder „an“ noch „mit“ Corona gestorben sind, aber durchaus „wegen“ Corona. 

Noch komplexer wird die Beurteilung, wenn man nicht nur Todesfälle betrachtet, sondern weitere Differenzierungen vornimmt und zum Beispiel mit der Kategorie „Years of Life lost“ operiert, also einen Todesfall in Relation zur statistisch weiteren Lebenserwartung der betreffenden Person setzt: Wie viele Jahre hätte dieser Mensch vermutlich noch gelebt? Wie viele Lebensjahre hat er durch den Covidtod verloren? Auch hier verliefen die Debatten streng nach ideologischen Lagern. Die einen behaupteten, es würden mehr oder weniger nur alte und kranke Menschen an Covid sterben (und Maßnahmen seien daher unnötig), die anderen wiesen ein solches Denken als zynisch zurück und argumentierten, dass jedes Menschenleben gleich viel wert sei. Dass dieser Konflikt in Deutschland besonders aufgeladen verlief, hat natürlich auch mit unserer NS-Vergangenheit und ihrer Biopolitik der Unterscheidung zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben zu tun.

Kinder trugen die Hauptlast der Maßnahmen

Weil die Debatte von polarisierenden Standpunkten geprägt war – auf der einen Seite das Team „Es ist normal, dass man irgendwann sterben muss, Maßnahmen sind schädlich“, auf der anderen Seite „All lives matter – der Lebensschutz muss immer oberste Priorität haben“ –, wurde die eigentlich zentrale und äußerst schwierige Frage danach, welche Tode man in Kauf nimmt und welche nicht, nicht debattiert. Dass diese Frage keineswegs zynisch ist, wird am Beispiel der Alten- und Pflegeheime deutlich. Dort waren die Menschen aufgrund ihres Alters und vieler Vorerkrankungen besonders gefährdet, während sie gleichzeitig auch in besonderem Maß unter den Kontaktbeschränkungen litten. Dass hochaltrige, demenzkranke Menschen keinen Kontakt zu vertrauten Personen haben durften oder Todkranke auf Palliativstationen keinen Besuch von Angehörigen, ist schlechterdings nicht zu rechtfertigen, schon gar nicht, wenn keine Zero-Covid-Strategie dahintersteht.

Bis zur nächsten Pandemie müssten für solche vulnerablen Personengruppen differenzierte Verfahrensweisen gefunden werden, die die Wünsche der Betroffenen stärker berücksichtigen: Manche hochaltrige Menschen wünschten sich Kontakt und waren bereit, dafür das Risiko einer Covid-Infektion einzugehen, andere fürchteten sich sehr vor einer Ansteckung und waren bereit, dafür Isolation in Kauf zu nehmen. Beide Standpunkte sind legitim und es wäre die Aufgabe der Politik, eine entsprechende Versorgung möglich zu machen, etwa indem Pflegeheime sich nach der einen oder der anderen Policy aufteilen oder entsprechend verschiedene Bereiche einrichten. 

Das setzt natürlich finanzielle Ressourcen und Fachkräfte voraus. Die häufig desolate Lage in Pflegeheimen während der Pandemie hatte nur teilweise etwas mit der Gefährlichkeit des Virus zu tun, sondern war größtenteils eine Folge der strukturellen Abwertung und Nichtberücksichtigung von Sorge-notwendigkeiten. Nicht zufällig litten neben alten, chronisch kranken und pflegebedürftigen Menschen vor allem Kinder und Jugendliche unter der Pandemie – allerdings in ihrem Fall nicht, weil das Virus für sie besonders gefährlich war, sondern weil sie die Hauptlast der Infektionsschutzmaßnahmen tragen mussten. Dass die lang andauernden Schulschließungen ein Fehler waren, darüber besteht inzwischen weitgehend gesellschaftliche Einigkeit. Umstritten ist dagegen nach wie vor die Frage, was stattdessen hätte getan werden sollen. Die Schulschließungen sollten ja die Infektionszahlen niedrig halten, was tatsächlich notwendig war. Wenn man also dort Ansteckungen zugelassen hätte, hätte man sie an anderer Stelle verhindern müssen, etwa an Arbeitsplätzen oder anderen Orten, an denen Erwachsene zusammenkommen. Dies erschien politisch aber noch weniger durchsetzbar.

Schon früh haben Eltern gegen die dauerhaften Schulschließungen und andere Einschränkungen für Kinder und Jugendliche protestiert, etwa unter dem Hashtag #CoronaEltern. Aktivist:innen aus der Care-Bewegung forderten eine neue Prioritätensetzung, also dass Infektionsschutzmaßnahmen nicht in erster Linie auf Kosten von Kindern und jungen Familien gehen sollten. Tatsächlich war ganz am Anfang der Pandemie kurz die Hoffnung aufgekeimt, diese würde die Care-Thematik auf der politischen Prioritätenliste etwas nach vorne schieben. Auf den Balkonen applaudierten viele den Pflegekräften, und bei der Diskussion über die „systemrelevanten“ Berufe blitzte die Erkenntnis auf, dass Erzieher:innen, das Lehrpersonal, Reinigungskräfte, Verkäufer:innen und Sozialarbeiter:innen tatsächlich wichtig und unverzichtbar sind. Doch das hat nicht dazu geführt, dass diese Berufe jetzt bessergestellt wären oder ihre Anliegen heute mehr Aufmerksamkeit fänden. Fast ist das Gegenteil der Fall: Statt etwa die Belange von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und ihre Interessen zu priorisieren, statt Eltern zu entlasten und die Arbeitsbedingungen in entsprechenden Berufen zu verbessern, werden neuerdings alle auftretenden Probleme – wie ein Anstieg psychischer Probleme und schlechtere Lernleistungen – auf die Einschränkungen während der Pandemie zurückgeführt. Das ist auch eine Möglichkeit, Verantwortung wegzuschieben, so als würden die Gefahren von Klimakatastrophe, Kriegen, Rechtsextremismus dabei gar nicht ins Gewicht fallen. 

Im Hinblick auf den Care-Bereich gäbe es noch vieles aufzuarbeiten, insbesondere bei der Frage, wie Bedarfe der gegenseitigen Fürsorgearbeit besser in gesamtgesellschaftliche und volkswirtschaftliche Konzepte integriert werden können. Aber abgesehen von einem unspezifischen Hinweis auf die „Belastungen“ für Kinder und Jugendliche, der oft nur eine pauschale Kritik an den getroffenen Maßnahmen untermauern soll, spielt das ganze Thema kaum eine Rolle. 

Alleingelassen: Long-Covid-Betroffene

Auch die Belange derjenigen, die als Folge einer Covid-Infektion chronisch erkrankt sind, standen noch nie im Rampenlicht. Von Long Covid sind nach Schätzungen bis zu zehn Prozent der Erkrankten betroffen[5], wobei es allerdings eine breite Palette an Symptomen gibt, die auch bei anderen Viruserkrankungen auftreten können. Eine besondere Rolle spielt dabei ME/CFS, eine neuro-immunologische Erkrankung, an der in Deutschland mehr als 500 000 Menschen leiden.[6] Hier hat die Coronapandemie immerhin dafür gesorgt, dass diese Krankheit bekannter wurde und auch an Therapien geforscht wird.[7]

Ein wichtiger Punkt, der bei vielen kritischen Rückblicken auf die Coronazeit fehlt, ist die Tatsache, dass eine Mehrheit der Bevölkerung von ungefähr 60 Prozent die staatlichen Coronamaßnahmen über den gesamten Zeitraum von 2020 bis 2022 hinweg als „gerade richtig“ bewertet hat. Von den 40 Prozent Unzufriedenen forderte die eine Hälfte härtere Maßnahmen, die andere Hälfte Lockerungen.[8] Dies passt dazu, dass der Zusammenhang zwischen Infektionsschutzmaßnahmen und Übersterblichkeit eindeutig ist.[9] Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland ging laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in den Pandemiejahren 2020, 2021 und 2022 deutlich zurück, erst 2022 stieg sie wieder an, um etwa ein halbes Jahr.[10]

Doch die Minderheit der „Maßnahmengegner“ trat sehr lautstark auf und drückte der öffentlichen Wahrnehmung ihren Stempel auf. Nun ist es durchaus sinnvoll und eine gute demokratische Praxis, wenn bei politisch umstrittenen Themen insbesondere die kritischen Stimmen zu Wort kommen. Aber die medialen Coronadebatten krankten häufig daran, dass nicht zwischen wissenschaftlichen und politischen Aspekten differenziert wurde. Geht es bei einer Frage um Fakten? Dann ist es die Aufgabe von Journalismus, den jeweiligen Stand der Forschung zu recherchieren und den Bürger:innen zu vermitteln, zu welchen Ergebnissen die wissenschaftliche Community gekommen ist, was noch unklar ist und wo Einigkeit besteht. Man braucht Fachkenntnisse, um sich in diesen Dingen ein Urteil bilden zu können. „Meinungen“ von Menschen ohne jede Expertise sind in diesem Feld nicht hilfreich. Anders ist es aber, wenn es um politische Einschätzungen und Vorschläge geht: Was man für einen angemessenen Umgang mit den Erkenntnissen der Wissenschaft hält, das ist sehr wohl eine Frage von Meinungen, es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Leider wurden diese beiden Ebenen in der Debatte ständig vermischt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden als bloße Meinungen behandelt, während politische Vorschläge als alternativlose Notwendigkeiten (oder Unmöglichkeiten) präsentiert wurden. 

Impfpflichtdebatte: Gespaltene Gesellschaft

Das erwies sich insbesondere bei der Frage einer möglichen Impfpflicht als problematisch. Dass die Impfung für die Bekämpfung der Pandemie wirksam war, ist die übereinstimmende Einschätzung aller relevanten wissenschaftlichen Expertisen.[11] Die schnelle Verfügbarkeit von Impfstoffen war ein entscheidender Faktor, der noch höhere Todesquoten verhindert hat. Bereits im Frühjahr 2021 konnten in Deutschland Menschen aus Risikogruppen geimpft werden, im Herbst stand die Impfung flächendeckend zur Verfügung. In vielen Ländern der Welt durchbrach die Impfung Infektionswellen und ermöglichte es, Lockdown-Maßnahmen aufzuheben. 

Doch in Deutschland stagnierte die Impfquote im Herbst 2021 bei etwa 65 Prozent, während gleichzeitig eine vierte Covid-Welle die Krankenhäuser erneut ans Limit brachte. 57 Prozent der Bevölkerung unterstützten deshalb eine Impfpflicht[12] – vielen Menschen graute einfach vor einem erneuten Lockdown-Winter. Eine generelle Impfpflicht gab es letztlich nicht, wohl aber eine einrichtungsbezogene Impfpflicht in Pflegeheimen und Krankenhäusern, dazu zahlreiche Zugangsbeschränkungen zu öffentlichen Orten für Ungeimpfte. Ob das gegen die Verfassung verstieß, prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht.[13] Egal wie das Urteil ausfällt: Die Debatte über eine mögliche Impfpflicht hat wie kaum ein anderer Aspekt die Gesellschaft gespalten, bis in Familien und Freundeskreise hinein. War es das wert? 

Naomi Klein hat sicher recht, wenn sie den Zusammenhang zwischen faschistoider Eugenik und Impfverweigerung klar macht.[14] Aber das ändert nichts daran, dass dieses Denken in Deutschland noch immer wirksam ist und in Teilen der deutschen Bevölkerung für eine emotionale Ablehnung von Impfungen sorgt. Welche politischen Maßnahmen in einer konkreten Situation möglich sind, hängt eben nicht nur von einer rationalen Bewertung ihrer Folgen ab, sondern auch von ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft. Gerade an dieser Stelle sind weitere politische Diskussionen nötig, um in künftigen Pandemien mehr Klarheit zu haben. Unter welchen Bedingungen ist ein Staat berechtigt, im Hinblick auf die Interessen der Gesamtbevölkerung seine Bürger:innen zu einer Impfung – oder einer anderen körperinvasiven medizinischen Maßnahme – zu verpflichten? Oder verbieten sich Eingriffe des Staates in die körperliche Selbstbestimmung generell? Auch wenn das gravierende negative Folgen für die Allgemeinheit hat? 

Wir müssen lernen, über lebensethische Fragen nachzudenken

Laut Recherchen der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ im Januar 2024 gab es in Deutschland seit Beginn der Pandemie 467 Fälle von anerkannten Impfschäden, insgesamt wurden 11 827 entsprechende Anträge gestellt.[15] Angesichts von 65 Millionen geimpften Menschen ist das ein winziger Prozentsatz. Genügt das bereits als Argument für die Legitimität einer Impfpflicht? Sicher ist diese Art von Abwägung moralisch schwierig, aber wir müssen wohl lernen, auch in Situationen handeln zu können, in denen es nur schlechte Optionen gibt. Es ist unredlich, bei solchen Fragen so zu tun, als sei nur eine moralisch richtige und wahre Antwort möglich. Es könnte eine wichtige Erkenntnis aus der Pandemie sein, dass wir generell schlecht darauf vorbereitet sind, über lebensethische Fragen nachzudenken und zu diskutieren – und dass wir das ändern sollten. Insbesondere, um in drängenden Entscheidungssituationen beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein.

In der derzeitigen populistisch aufgeladenen Diskurslandschaft stellt sich allerdings die Frage, ob irgendeine Form von staatlicher Aufarbeitung überhaupt die nötige Autorität besäße. Die Positionen sind so festgefahren, dass ein Bericht, wie auch immer er ausfiele, vermutlich nicht zur Befriedung der Lage beitragen würde. Das zeigt sich in jenen Bundesländern, die bisher eigene Formen der Aufarbeitung angestoßen haben. So kam ein Untersuchungsausschuss in Brandenburg zu dem Ergebnis, dass die Landesregierung während der Coronapandemie angemessen gehandelt habe. Wenig überraschend erkennen AfD und BSW die Ergebnisse aber nicht an.[16] Nun soll es dort eine Enquetekommission geben.[17]

Im Prinzip sind die meisten Debatten, die derzeit über eine Aufarbeitung der Coronapandemie geführt werden, lediglich eine Fortführung der polarisierten Standpunkte, die schon während der Pandemie sachliche Debatten erschwert haben. Interessant könnte vielleicht noch der Bericht einer Enquetekommission in Nordrhein-Westfalen werden, die seit Sommer 2023 arbeitet. Doch unterm Strich wird eine neutrale und sachbezogene Auswertung des staatlichen Umgangs mit der Coronapandemie wohl eine Aufgabe für künftige Historiker:innen sein.

[1] Umfrage von „infratest dimap“ im Auftrag des SWR vom Dezember 2024, presseportal.de, 9.1.2025.

[2] Mai Thi Nguyen-Kim, Corona geht gerade erst los, youtube.com, 2.4.2020.

[3] Tobias Schmidt, Weniger Tote ohne Lockdown: Haben‘s die Schweden besser gemacht?, noz.de, 20.1.2024.

[4] Vgl. das Gespräch der „Augsburger Allgemeinen“ mit Christan Drosten und Georg Mascolo: Margit Hufnagel, „Wenn wir die Pandemie nicht aufarbeiten, werden wir dies bereuen“, augsburger-allgemeine.de, 28.9.2024.

[5] Corona Langzeitfolgen – Studien im Überblick, median-kliniken.de.

[6] Susana Santina, Lichtblick für chronisch Erschöpfte, zdf.de, 17.9.2024.

[7] Vgl. Martin Rücker, Die Krankheit nach der Krankheit. Deutschland in der Long-Covid-Krise, in: „Blätter“, 12/2023, S. 117-122.

[8] Bewertung der Coronamaßnahmen von August 2020 bis Oktober 2022 (Politbarometer), de.statista.com, 2.1.2024.

[9] Übersterblichkeit während der Coronapandemie: Große regionale Unterschiede in Europa, bib.bund.de, 31.7.2024.

[10] Regionale Lebenserwartung nach Corona: Von Rekord bis Aufholpotenzial, bib.bund.de, 20.11.2024.

[11] Ungeimpfte haben im Winter 2021/2022 in signifikant höherem Ausmaß Neuinfektionen verursacht als Geimpfte, vgl. Benjamin F. Maier u.a., Germany’s fourth COVID-19 wave was mainly driven by the unvaccinated, in: „Communications Medicine“, 9/2022.

[12] Laut einer Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der ARD im November 2021, vgl. Ellen Ehni, Mehrheit der Deutschen befürwortet die Impfpflicht, tagesschau.de, 4.11.2021.

[13] Nadine Bader, „In die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“, tagesschau.de, 19.9.2024.

[14] Vgl. Naomi Klein, Doppelgänger. Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart, Frankfurt a. M. 2024; vgl. auch dies. in der kommenden „Blätter“-Ausgabe 4/2025.

[15] Jonas E. Koch und Tobias Schmidt, 467 anerkannte Corona-Impfschäden seit Beginn der Pandemie, noz.de, 22.1.2024.

[16] Benjamin Lassiwe, Brandenburg: Kritik am Abschlussbericht des Corona-Untersuchungsausschusses, aerztezeitung.de, 20.10.2023.

[17] SPD und BSW wollen Einsetzung von Enquete-Kommission in Brandenburg beschließen, rbb24.de, 14.1.2025.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Deutschland: Planlos in den Hitzesommer

von Nick Reimer

Nur knapp schrammte Deutschland Anfang Juli an einem neuen Hitzerekord vorbei. Mit über 35 Grad in weiten Teilen des Landes war es in der ersten Hitzewelle des Jahres flächendeckend viel zu warm. Statt aber den Klimaschutz endlich ernst zu nehmen, will die schwarz-rote Bundesregierung neue fossile Gaskraftwerke mit 20 000 Megawatt Leistung bauen.

Trump zum Zweiten: Gesundheitspolitik als Kampffeld

von Andreas Wulf

Die ersten Monate der zweiten Trump-Präsidentschaft haben weltweit zu massiven „Disruptionen“ geführt – nicht nur in der Außen-, Entwicklungs-, Migrations-, und Wirtschaftspolitik, sondern auch im Feld der Gesundheitspolitik. Dies hat sowohl Auswirkungen in den USA selbst als auch in den multilateralen Organisationen, denen das Land angehört.

Die Covid-Querfront

von Naomi Klein

In „Der Mythos Schönheit“ behauptete Naomi Wolf im Jahr 1990, die gestiegenen Erwartungen an die weibliche Schönheit in den 1980er Jahren seien der Tribut gewesen, den das Patriarchat für die Erfolge des Feminismus gefordert habe. Zu den beruflichen Anforderungen und den Pflichten von Hausarbeit und Kinderbetreuung trat jetzt „eine dritte Arbeitsschicht nach Feierabend“ hinzu.